BSG, Urteil vom 11. 3. 1998 – B 9 SB 1/97 R
Zur Frage, inwieweit ein erst bevorstehendes Krankheitsstadium die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ rechtfertigen kann
Tatbestand:
Die 43jährige Klägerin begehrt vom Beklagten die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“.
Bei der Klägerin besteht seit Geburt eine beiderseitige Hüftgelenksverrenkung (Hüftgelenksluxation). Sie ist deswegen an beiden Hüftgelenken endoprothetisch versorgt, am linken Hüftgelenk seit 1983, am rechten seit 1990. Die links angelegte Endoprothese mußte bereits 1989 wieder ausgetauscht werden. Im März 1991 beantragte die Klägerin die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises. Mit Bescheid vom 2. April 1992 stellte der Beklagte als „Behinderungen“ iS des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) fest: 1. Hüftendoprothese beidseits, 2. Wirbelsäulenveränderungen.
Den Grad der Behinderung (GdB) bewertete der Beklagte mit 60. Außerdem stellte er die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ fest. Auf den Widerspruch der Klägerin erließ der Beklagte den Teilabhilfebescheid vom 31. März 1993, mit dem er als weitere Behinderung „Bewegungseinschränkungen an beiden Hüftgelenken“ sowie einen GdB von 80 und zusätzlich die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „B“ feststellte. Die darüber hinaus beantragte Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ lehnte er mit Widerspruchsbescheid vom 21. April 1994 ab.
Die Klage hatte in erster Instanz Erfolg. Nach Einholung eines Behandlungsberichts über eine Ende 1993 durchgeführte Rehabilitationsmaßnahme und nach Beiziehung mehrerer Befundberichte des behandelnden Arztes und eines Sachverständigengutachtens vom Januar 1996 verurteilte das Sozialgericht (SG) den Beklagten am 12. Juni 1996 zur Zuerkennung auch des Merkzeichens „aG“. Dabei ging es davon aus, daß die Klägerin noch zumutbar eine Strecke von maximal 500 m in einer Zeitspanne von 25 Minuten zurücklegen könne. Die Nutzung der ihr derzeit noch möglichen Bewegungsfreiheit führe aber zwangsläufig zu einer weiteren Lockerung der Hüftgelenksprothesen.
Auf die Berufung des Beklagten hob das Sächsische Landessozialgericht (LSG) dieses Urteil am 30. Oktober 1996 auf und wies die Klage ab. Die Gehfähigkeit der Klägerin sei- an dem der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VV) zu § 46 Straßenverkehrsordnung (StVO) zu entnehmenden Maßstab gemessen – noch nicht in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt. Für dieses Tatbestandsmerkmal bilde zwar die maximal vom Behinderten noch zu Fuß zurücklegbare Wegstrecke allein kein taugliches Entscheidungskriterium. Sie könne aber sehr wohl iS einer Evidenzprüfung dann von Bedeutung sein, wenn feststehe, daß die Wegstrecke noch vom Schwerbehinderten regelmäßig ohne große Anstrengung zurückgelegt werde und eine Länge erreiche, die mit dem Zweck der Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ unvereinbar sei. Nach den vom SG eingeholten Befunden könne die Klägerin dem in der VV aufgeführten Personenkreis nicht gleichgestellt werden. Zwar sei das Hüftgelenksleiden der Klägerin progredienter Natur und machten sich an der linken Prothesenpfanne bereits wieder Lockerungszeichen bemerkbar, weswegen eine Verschlechterung des Sitzes der Hüftendoprothesen drohe. Gleichwohl seien die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich „aG“ noch nicht erfüllt. Dieser Nachteilsausgleich diene- wie die Nachteilsausgleiche nach dem SchwbG allgemein – nicht der Prävention oder der Rehabilitation. Für ihre Feststellung entscheide allein das tatsächliche gegenwärtige Leistungsvermögen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 4 Abs 4 SchwbG, § 6 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) und § 46 StVO. Unstreitig werde die Prothesenlockerung weiter fortschreiten, wenn sie, die Klägerin, eine unzumutbare Wegstrecke zu Fuß zurücklege. Nach Ansicht des LSG müsse aber zunächst die unausweichliche Verschlechterung abgewartet werden. Das könne jedoch nicht richtig sein. Das SchwbG diene auch der Rehabilitation und der Prävention. Das ergebe sich bereits aus seiner Überschrift. Außerdem werde durch die Zuerkennung eines GdB für die Zeit der Heilungsbewährung auch im Schwerbehindertenrecht ein höherer GdB als derjenige, der sich aus dem festgestellten Schaden ergebe, als gerechtfertigt angesehen.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 30. Oktober 1996 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 12. Juni 1996 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt, die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG für richtig. Der Verschlimmerungsgesichtspunkt sei für die nach dem SchwbG zu treffenden Feststellungen unerheblich. Wenn man der Argumentation der Klägerin folge, könnten zahlreiche Behinderte, denen das Merkzeichen „G“ zuerkannt worden sei, prophylaktisch auch die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ verlangen.
Entscheidungsgründe:
Die Revision der Klägerin ist iS einer Zurückverweisung an die Vorinstanz begründet. Die tatsächlichen Feststellungen des LSG reichen nicht aus, um abschließend über den geltend gemachten Anspruch zu entscheiden.
Der Tatbestand der außergewöhnlichen Gehbehinderung („aG“), dessen Feststellung die Klägerin vom Beklagten begehrt, ist ein Komplex gesundheitlicher Merkmale, dessen Vorliegen zur Inanspruchnahme verschiedener steuerrechtlicher und straßenverkehrsrechtlicher Vergünstigungen (sog Nachteilsausgleiche, vgl § 48 SchwbG) berechtigt. Ob die Voraussetzungen eines Nachteilsausgleichs erfüllt sind, stellen gemäß § 4 Abs 4 SchwbG die Versorgungsbehörden (§ 2 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung [KOVVfG]) oder- im Streitfalle – die Gerichte fest, die bei einem für den Kläger positiven Ausgang des Rechtsstreits die Verwaltung allerdings nur verpflichten können, den beantragten Nachteilsausgleich zuzuerkennen.
Wer außergewöhnlich gehbehindert ist, ergibt sich nicht aus dem SchwbG, sondern aus den – aufgrund des § 6 Abs 1 Nr 14 StVG erlassenen – VV zu § 46 Abs 1 Nr 11 StVO (insoweit seit 1. August 1976 unverändert- vgl BAnz 1976 Nr 142 vom 31. Juli 1976 S 3 ff -). Unter Abschnitt II Nr 1 heißt es dort:
„Als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeugs bewegen können. Hierzu zählen: Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind“.
Diese Beurteilungskriterien haben das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung in Abschnitt 31 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 (Anhaltspunkte [AHP]) und der erkennende Senat in seiner ständigen Rechtsprechung übernommen (vgl Urteil vom 8. Mai 1981- SozR 3870 § 3 Nr 11; Urteil vom 26. Juni 1981 Az 9 RVs 2/81, VersorgB 1982 S 11; Urteil vom 6. November 1985- SozR 3870 § 3 Nr 18; Urteil vom 3. Februar 1988- SozR 3870 § 3 Nr 28; Urteil vom 9. März 1988 Az 9/9a RVs 15/87- SozSich 1988 S 381; Urteil vom 29. Januar 1992 Az 9a RVs 4/90, br 1992, S 91 bis 92; Urteil vom 11. Oktober 1994 Az 9 RVs 9/93 [unveröffentlicht]; Urteil vom 13. Dezember 1994- SozR 3—3870 § 4 Nr 11; Urteil vom 12. Februar 1997 Az 9 RVs 11/95 und Urteil vom 17. Dezember 1997 Az 9 RVs 16/96).
Während die Beurteilung der unter Abschnitt II Nr 1 Satz 2 1. Halbsatz aufgeführten Personengruppen (überwiegend Amputierte) in der Praxis keine nennenswerten Schwierigkeiten aufwirft, ist die nach Abschnitt II Nr 1 Satz 2 2. Halbsatz vorgesehene Gleichstellung anderer Schwerbehinderter nicht immer leicht zu lösen. Der Senat hat in mehreren Entscheidungen Maßstäbe für die Behandlung der Gleichstellungsfälle aufgestellt. Nach den Urteilen vom 8. Mai 1981 (SozR 3870 § 3 Nr 11) und vom 3. Februar 1988 (SozR 3870 § 3 Nr 28) kann ein Schwerbehinderter eine Gleichstellung nur verlangen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Abschnitt II Nr 1 Satz 2 1. Halbsatz aufgeführten Schwerbehinderten fortbewegen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann. In seiner Entscheidung vom 29. Januar 1992 (Az 9a RVs 4/90, veröffentlicht in br 1992, S 91 ff) hat der Senat ergänzend hervorgehoben, daß die mit außergewöhnlicher Gehbehinderung verbundenen Nachteilsausgleiche nur solchen Personen gewährt werden können, denen der unausweichliche Fußweg zwischen einem ordnungsgemäß haltenden oder parkenden Fahrzeug und dem angestrebten Ziel in ähnlicher Weise außerordentlich schwer falle wie den ausdrücklich genannten Personen. Für sie solle diese Strecke möglichst verkürzt werden. Hohe Anforderungen an die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs „aG“ seien schon deshalb geboten, weil jede Ausweitung des Kreises der Berechtigten sich nachteilig auf den zu schützenden Personenkreis auswirke, denn innerstädtische Parkflächen könnten nicht beliebig vermehrt werden. An diesen strengen Maßstäben hat der Senat auch in seiner jüngeren Rechtsprechung festgehalten. So hat er in seinem Urteil vom 17. Dezember 1997 (Az 9 RVs 16/96) die Bedeutung der Regelung in Abschnitt II Nr 1 Satz 1 unterstrichen und daran festgehalten, daß das Gehvermögen einer gleichzustellenden Person auf das Schwerste beeinträchtigt sein und zusätzlich eine Vergleichbarkeit mit den in Satz 2 der Vorschrift aufgezählten Personen gegeben sein müsse.
Das LSG hat sich zwar an die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze gehalten. Der vorliegende Fall gibt jedoch Veranlassung, diese Grundsätze weiterzuentwickeln. Entgegen der Auffassung des LSG reicht unter bestimmten Voraussetzungen schon die akute Gefahr einer erheblichen Verschlimmerung eines progredienten Leidens für die Feststellung der medizinischen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „aG“ aus, auch wenn die funktionelle Einschränkung des Gehvermögens noch nicht derjenigen der in der VV genannten Personen gleichsteht.
In der Regel erfordert die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs „aG“ – und darin ist dem LSG zuzustimmen –, daß die bereits vorliegenden Gesundheitsstörungen das Gehen aufs Schwerste beeinträchtigen oder ausschließen. Das ergibt sich allerdings nicht, wie das LSG meint, schon daraus, daß das SchwbG „nicht vordringlich der medizinischen Rehabilitation“ dient. Zu Recht weist die Revision darauf hin, daß das SchwbG auch Rehabilitationsziele verfolgt (vgl Cramer, SchwbG, 4. Aufl 1992, Einführung B I auf S 6; ferner: „Aktionsprogramm zur Förderung der Rehabilitation der Behinderten“ vom 14. April 1970 in Sozialbericht 1970, BT-Drucks VI/643 S 22). Deshalb ist es auch unrichtig anzunehmen, daß bei der Beurteilung von Behinderungen und insbesondere der Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche prognostische medizinische Gesichtspunkte stets auszuscheiden hätten. Dafür ergeben auch die Gesetzesmaterialien keinen Anhaltspunkt. Für die Ansicht des LSG spricht allerdings der Wortlaut des § 4 Absätze 1 und 4 SchwbG. Danach haben die Versorgungsbehörden nur eine „vorhandene“ Behinderung und damit auch nur bereits „vorhandene“ gesundheitliche Merkmale festzustellen. Ginge man allein hiervon aus, wäre eine drohende Verschlechterung des Gesundheitsstandes bei der Anwendung des SchwbG und der dieses Gesetz ergänzenden Regelungen immer unbeachtlich.
So eng dürfen die Bestimmungen jedoch nicht verstanden werden. Das Schwerbehindertenrecht soll den Behinderten Hilfen bei der Integration in ein normales Leben bieten und behinderungsbedingte Defizite dort, wo es möglich ist, ausgleichen. Dieser Sinn und Zweck der Regelungen legt es nahe, einen Nachteilsausgleich ausnahmsweise schon dann zuzuerkennen, wenn der Nachteil, der ausgeglichen werden soll, bereits unmittelbar droht und sein Eintritt nur durch ein entsprechendes Verhalten des Schwerbehinderten (hier: Verzicht auf jedes überflüssige Gehen) zeitlich hinausgezögert werden kann. Für die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ bedeutet dies: Der Schwerbehinderte hat bereits dann Anspruch auf das Merkzeichen, wenn die dadurch gebotenen Erleichterungen im Straßenverkehr (zB zusätzliche Parkmöglichkeiten, Ausnahmen von Halteverboten) prophylaktisch ins Gewicht fallen. Dies ist allerdings nicht anzunehmen, solange der Behinderte noch entsprechende Wegstrecken im häuslichen Bereich oder bei sonstiger Gelegenheit zurückzulegen pflegt und- trotz Vorliegen eines progredienten Leidens – unter medizinischen Gesichtspunkten auch zurücklegen darf oder gar soll. Muß dagegen der Behinderte zur Vermeidung einer weiteren sonst alsbald eintretenden erheblichen Verschlimmerung das Gehen in allen Lebensbereichen so weit wie irgend möglich einschränken, so ist auch die Einsparung der- ohne die in Abschnitt I angesprochenen Parkerleichterungen zusätzlich anfallenden – Wegstrecken als notwendig anzusehen, dh dem Schwerbehinderten können auch diese Wegstrecken nicht mehr zugemutet werden. In diesem Fall ist er denjenigen gleichzustellen, bei denen wegen des bereits eingetretenen Gesundheitsschadens das Gehen funktionell nicht mehr möglich oder aufs Schwerste beeinträchtigt ist. Von einer so schwerwiegenden Verschlimmerungsgefahr wird man allerdings erst ausgehen können, wenn medizinisch feststeht, daß der Schwerbehinderte zur Vermeidung überflüssiger Gehstrecken in der Regel einen Rollstuhl benutzen soll, um einer alsbaldigen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes vorzubeugen.
Ob ein solcher Fall vorliegt, hat das LSG- von seinem Standpunkt aus zu Recht – nicht geprüft. Es wird daher entsprechende Tatsachenfeststellungen nachholen und seiner erneuten Entscheidung zugrunde legen müssen. Außerdem wird es über die Kosten des Verfahrens, einschließlich des Revisionsverfahrens, zu entscheiden haben.