BGH, Urteil vom 25.03.1997 – VI ZR 102/96
Aus einer komplexen Äußerung dürfen nicht drei Sätze mit tatsächlichem Gehalt herausgegriffen und als unrichtige Tatsachenbehauptung untersagt werden, wenn die Äußerung nach ihrem – zu würdigenden – Gesamtzusammenhang in den Schutzbereich des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung (GG Art 5 Abs 1) fallen kann und diesem Fall eine Abwägung zwischen den verletzten Grundrechtspositionen erforderlich wird.
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 28. Februar 1996 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
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Die Parteien streiten über die Zulässigkeit einer Äußerung, die der Beklagte in einem Flugblatt aufgestellt hat.
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Der Kläger ist Rechtsanwalt in P. und war von 1979 bis 1988 für den Beklagten tätig. Nach Beendigung des Mandats hat der Beklagte gegen ihn wegen fehlerhafter Beratung eine Schadensersatzklage über ca. 1,5 Millionen DM erhoben, die ohne Erfolg geblieben ist. Die Revision des Beklagten ist im Juli 1994 vom Bundesgerichtshof nicht angenommen worden.
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Im Oktober 1994 verbreitete der Beklagte im Raum P. ein Flugblatt mit der Überschrift “Information an die Bürger über meine Erfahrungen mit dem Rechtswesen in diesem Land”. Der Text des Flugblatts gibt ein Beschwerdeschreiben des Beklagten an die Bundesrechtsanwaltskammer und die Rechtsanwaltskammer K. wieder und wird mit den Worten eingeleitet:
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“Herr Rechtsanwalt Dr. … war von 1979 bis 1988 mein anwaltlicher Berater und Vertreter. Während dieser Zeit hat er mich u.a. bei Kapitalanlagegeschäften beraten. Dabei sind mir Verluste in einer Größenordnung von über DM 1,5 Mio. entstanden. Eine von mir erhobene Schadensersatzklage ist erfolglos geblieben. Der Nachweis, daß Herrn …s Verhalten schadensursächlich war, ist mir nach Meinung der Gerichte nicht gelungen.”
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Der Kläger hat beantragt, dem Beklagten außerhalb von Rechtsbehelfsverfahren oder Beschwerden bei Standesorganisationen der Rechtsanwälte die weitere Verbreitung der ersten drei Sätze dieser Äußerung zu untersagen, wobei er mit einem in Klammern gesetzten Zusatz die Art der Kapitalanlagegeschäfte näher erläutert hat. Er sieht in der Äußerung eine rechtswidrige Herabsetzung und Verletzung seiner beruflichen und persönlichen Ehre, weil der Beklagte absichtlich den Eindruck erweckt habe, daß er vom Kläger mit der Folge von Verlusten anwaltlich falsch beraten worden sei. Dieser Eindruck sei unrichtig, weil er den Beklagten auf die Risiken von Anlagegeschäften hingewiesen und auch sonst nicht sachwidrig beraten habe.
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Der Beklagte macht geltend, der Antrag des Klägers reiße die Äußerung unzulässig aus ihrem Zusammenhang. Sie sei auch nicht erweislich unwahr und von seinem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gedeckt.
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Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Das Berufungsgericht hat die Berufung des Beklagten unter Streichung des mit dem Klagantrag in die beanstandete Äußerung eingefügten Zusatzes zurückgewiesen. Der Beklagte begehrt mit der Revision Klagabweisung.
Entscheidungsgründe
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I. Das Berufungsgericht hält den vom Kläger geltend gemachten Unterlassungsantrag nach §§ 1004 Abs. 1 Satz 2, 823 Abs. 1 BGB für gerechtfertigt. Die mit dem Klagantrag beanstandete Äußerung werde vom Leser des Flugblatts als Tatsachenbehauptung des Inhalts verstanden, der Beklagte habe aufgrund fehlerhafter anwaltlicher Beratung durch den Kläger Verluste in der Größenordnung von 1,5 Mio. DM erlitten. Eine derartige Tatsachenbehauptung sei ohne weiteres geeignet, den Kläger in schwerwiegender Weise in seiner persönlichen und beruflichen Ehre und seinem öffentlichen Ansehen herabzusetzen. Die Äußerung des Beklagten sei in der vom Kläger gewählten Formulierung seines Unterlassungsbegehrens auch nicht sinnentstellend wiedergegeben. Der nachfolgende Hinweis auf den Ausgang des Schadensersatzprozesses informiere den Leser lediglich darüber, daß die angerufenen Gerichte die vom Beklagten vorgelegten Beweismittel nicht für ausreichend erachtet hätten. Hierdurch werde der Vorwurf, der Kläger habe dem Beklagten durch falsche Beratung einen Schaden in Millionenhöhe zugefügt, weder entkräftet noch relativiert. Vielmehr werde der durch den ersten Absatz des Flugblatts erweckte Gesamteindruck in seinem Kern durch die vom Kläger mit dem Klageantrag aufgegriffene Äußerung bestimmt.
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Die vom Beklagten aufgestellte Behauptung sei unwahr. Die Schadensersatzklage sei in allen drei Instanzen erfolglos geblieben. Der vom Beklagten zur Begründung seines Vorwurfs herangezogene Sachverhalt sei unvollständig und teilweise unrichtig dargestellt. Die Äußerung des Beklagten sei auch nicht von seinem nach Art. 5 GG geschützten Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt, da dieses nicht die Verbreitung unrichtiger, die Persönlichkeit und die Ehre Dritter herabsetzender und diffamierender Tatsachenbehauptungen umfasse.
II.
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Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision nicht stand.
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1. Im Ergebnis zu Recht beanstandet die Revision, daß durch den Klageantrag die Äußerung des Beklagten aus dem Zusammenhang gerissen und ihr Aussagegehalt fehlerhaft ermittelt worden ist.
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a) Allerdings greifen die Bedenken der Revision gegen die sich aus dem Klageantrag ergebende Abspaltung der ersten drei Sätze von dem übrigen Teil der Äußerung nicht unter dem von ihr herangezogenen Gesichtspunkt durch, daß ein Unterlassungsanspruch sich gegen die konkrete Verletzungsform richten müsse (vgl. BGH, Urteil vom 12. Juli 1995 – I ZR 140/93 – NJW 1995, 2985, 2987). Vorliegend geht es vielmehr um die Frage, ob dem Beklagten ein Teil einer komplexen Äußerung nach den für die Verbreitung einer unrichtigen Tatsachenbehauptung geltenden Grundsätzen verboten werden kann.
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b) Dies hat das Berufungsgericht bejaht, weil es sich bei der vom Unterlassungsantrag des Klägers erfaßten Äußerung nach dem Verständnis des Lesers um eine Tatsachenbehauptung handele, die unrichtig sei und deshalb nicht vom Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 5 Abs. 1 GG gedeckt werde. Hiergegen wendet sich die Revision mit Erfolg.
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aa) Zutreffend ist zwar der rechtliche Ansatz des Berufungsgerichts, daß die Verbreitung erweislich oder bewußt unwahrer Tatsachen den Betroffenen in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt und deshalb untersagt werden kann, weil eine solche Tatsachenbehauptung nicht den Schutz des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG genießt (st.Rspr., z.B. Senatsurteil vom 20. Mai 1986 – VI ZR 242/85 – VersR 1986, 992 f. m.w.N.). Dem Berufungsgericht ist auch zuzugeben, daß der mit dem Klagantrag erfaßte Teil der Äußerung für sich genommen eine Tatsachenbehauptung darstellt, weil die angesprochenen Vorgänge einer Überprüfung auf ihre Richtigkeit mit den Mitteln des Beweises zugänglich sind (Senatsurteile vom 30. Januar 1996 – VI ZR 386/94 – VersR 1996, 597, 598, demnächst BGHZ 132, 13 ff.; vom 28. Juni 1994 – VI ZR 273/93 – VersR 1994, 1123 und vom 17. November 1992 – VI ZR 344/91 – VersR 1993, 193, 194, jeweils m.w.N.).
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bb) Durchgreifenden Bedenken begegnet jedoch die Aufspaltung der das Flugblatt einleitenden Äußerung durch den Klagantrag als Grundlage für das Unterlassungsbegehren des Klägers. Mit Recht weist die Revision darauf hin, daß es zur Beurteilung der Frage, ob eine Äußerung als Tatsachenbehauptung oder Meinungsäußerung bzw. Werturteil einzustufen ist, der Ermittlung ihres vollständigen Aussagegehalts bedarf. Insbesondere ist jede beanstandete Äußerung in dem Gesamtzusammenhang zu beurteilen, in dem sie gefallen ist, und darf nicht aus dem sie betreffenden Kontext herausgelöst einer rein isolierten Betrachtung zugeführt werden (Senatsurteil vom 30. Januar 1996 – aaO – und vom 28. Juni 1994 – VI ZR 252/93 – VersR 1994, 1120, 1121, jeweils m.w.N.). Ob der Tatrichter den Aussagegehalt einer beanstandeten Äußerung zutreffend erfaßt und rechtlich einwandfrei zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen unterschieden hat, unterliegt revisionsrechtlicher Nachprüfung (Senatsurteile vom 30. Januar 1996 – aaO -, vom 17. November 1992 – aaO und vom 28. Juni 1994 – VersR 1994, 1120, jeweils m.w.N.). Hierbei erweist sich das Vorgehen des Berufungsgerichts schon deshalb als verfehlt, weil die Aufspaltung der Äußerung notwendig zu einer isolierten Betrachtungsweise führt, die den Aussagegehalt der gesamten Äußerung nicht erfaßt. Hierfür mußten vielmehr auch die beiden anschließenden, nicht in den Klagantrag aufgenommenen Sätze gewürdigt werden, daß die Schadensersatzklage erfolglos geblieben sei, weil dem Beklagten nach Meinung der Gerichte der Nachweis der Ursächlichkeit nicht gelungen sei. Dieser Teil der Äußerung wird vom Berufungsgericht lediglich unter dem Blickpunkt erörtert, ob er den vom Klagantrag erfaßten Teil der Äußerung entkräfte oder relativiere. Das stellt jedoch keine zureichende Würdigung der Äußerung in ihrem Gesamtzusammenhang dar und schöpft insbesondere schon vom Ansatz her nicht die rechtlichen Folgen aus, die sich aus der Gesamtwürdigung der Aussage ergeben können.
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2. Zutreffend macht die Revision nämlich geltend, daß die Äußerung insgesamt in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG fallen kann, wenn sie sich als Zusammenspiel von Tatsachenbehauptungen und Meinungsäußerung darstellt und hierbei in entscheidender Weise durch die Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens geprägt wird (st. Rspr., zuletzt Senatsurteil vom 30. Januar 1996 – aaO – m.w.N.). Für die Frage, ob ein solches Zusammenwirken von Tatsachenbehauptungen und Meinungsäußerungen vorliegt, kann es nicht ausschlaggebend sein, daß der mit dem Klagantrag abgetrennte Teil der Äußerung ausschließlich Behauptungen tatsächlicher Art enthält. Das Berufungsgericht meint zwar, der durch den Text erweckte Gesamteindruck werde in seinem Kern durch die vom Kläger mit seinem Unterlassungsbegehren aufgegriffene Äußerung bestimmt. Indessen folgt aus der Möglichkeit, den Inhalt einer komplexen Äußerung zu einer Kernaussage zu verdichten, noch nicht, daß sie in ihrer Gesamtheit nur tatsächliche Behauptungen enthielte (vgl. BVerfG NJW 1994, 1781, 1782). Vielmehr hätte das Berufungsgericht auch den vom Klagantrag abgetrennten Teil der Äußerung vollständig im Gesamtzusammenhang würdigen und insbesondere prüfen müssen, ob es sich insoweit um eine Meinungsäußerung handelt, welche die gesamte Aussage prägt und damit dem Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG unterstellt werden kann.
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Wie die Revision unter Hinweis auf einen ähnlich gelagerten Fall (BVerfG NJW 1991, 2074, 2975 f) aufzeigt, ist dieser Teil der Äußerung von seinem Inhalt her geeignet, den Aussagegehalt der gesamten Äußerung zu beeinflussen. Die vom Berufungsgericht insoweit bisher nur unzulänglich erörterten Sätze 4 und 5 enthalten nämlich nicht nur die – unstreitig wahre – Mitteilung, daß der Beklagte einen Schadensersatzprozeß verloren habe, sondern auch die Begründung hierfür, daß er nach Meinung der Gerichte den Nachweis eines schadensursächlichen Verhaltens des Klägers nicht habe führen können. Damit zeigt die Revision ein mögliches Verständnis der Äußerung dahin auf, daß der Beklagte die Beurteilung seines Schadensersatzprozesses durch die Gerichte nicht für richtig halte und damit seine von der Meinung der Gerichte abweichende eigene Meinung zum Ausdruck bringe. Bei diesem Verständnis der Äußerung hätte der Beklagte jedenfalls mit deren letztem Satz eine Rechtsauffassung zum Ausdruck gebracht, die als Werturteil einzustufen wäre (Senatsurteil vom 22. Juni 1982 – VI ZR 251/80 – VersR 1982, 904 m.w.N.), wenn auch nach den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils die Abweisung der Schadensersatzklage nicht auf der Beweisfälligkeit des Beklagten zur Schadensursächlichkeit beruhte, sondern auf dem Fehlen einer Pflichtverletzung des Klägers.
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Ein solches Verständnis der Äußerung liegt schon deshalb nahe, weil sich ihr Aussagegehalt entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht in den vom Klagantrag erfaßten Sätzen erschöpft und diese auch nicht notwendig den inhaltlichen Schwerpunkt der Gesamtaussage bilden. Insoweit ist darauf hinzuweisen, daß die Richtigkeit der ersten beiden Sätze gar nicht in Frage steht und die Beanstandung des Klägers sich der Sache nach nur auf den dritten Satz beziehen kann, in welchem er den Vorwurf fehlerhafter Beratungstätigkeit erblickt. Das Berufungsgericht hat sich durch seine auf den Klagantrag beschränkte Betrachtungsweise den Blick dafür verstellt, daß dieser Vorwurf jedenfalls im Zusammenhang der gesamten Aussage nicht eigentlich verdeckt erhoben (hierzu Senatsurteile vom 28. Juni 1994 – VI ZR 273 und 274/93 – VersR 1994, 1123 ff. sowie 1126 f.), sondern im nachfolgenden Satz 4 durch Hinweis auf den dieserhalb geführten Schadensersatzprozeß ausdrücklich angesprochen wird, während Satz 5 zum Ausdruck bringt, daß der Beklagte fehlerhaftes Verhalten des Klägers “nach Meinung der Gerichte” nicht habe beweisen können. Bei diesem Verständnis wird die Äußerung gerade durch den Hinweis auf den nach Auffassung des Beklagten zu Unrecht verlorenen Rechtsstreit in entscheidender Weise durch wertende Elemente geprägt.
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3. Durfte mithin das Berufungsgericht den Beklagten nicht einen Teil der Äußerung verbieten, ohne zu prüfen, ob die aufgezeigte Deutungsmöglichkeit die Äußerung insgesamt dem Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG unterstellt (Senatsurteil vom 28. Juni 1994 – VI ZR 273/93 – VersR 1994, 1123; vgl. auch Senatsurteile vom 30. Januar 1996 – aaO – und vom 12. Oktober 1993 – VI ZR 23/93 – VersR 1994, 57, 58 sowie BVerfGE 85, 1, 15); so kann das angefochtene Urteil keinen Bestand haben.
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Die umfassende Würdigung des Aussagegehalts ist deshalb vom Tatrichter nachzuholen, zumal es bei Eingreifen des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG für die Frage, ob dem Beklagten die beanstandete Äußerung untersagt werden kann, zusätzlich einer eingehenden Abwägung zwischen seinem Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG und dem durch Art. 1 und 2 Abs. 1 GG geschützten Persönlichkeitsrecht des Klägers bedarf. Eine solche Abwägung der Rechtspositionen beider Parteien ist, wenn sich das Recht auf freie Meinungsäußerung und das allgemeine Persönlichkeitsrecht gegenüberstehen, sowohl auf der Grundlage einer generellen Betrachtung des Stellenwerts der betroffenen Grundrechtspositionen als auch unter Berücksichtigung der Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung im konkreten Fall vorzunehmen (Senatsurteile vom 12. Oktober 1993 und 30. Januar 1996 – jeweils aaO m.w.N.; vgl. auch BVerfGE 35, 202, 225; 85, 1, 16; 86, 1, 11). Da für die hiernach gebotene Gewichtung der Grundrechtsbetroffenheit beider Seiten tatsächliche Umstände Bedeutung gewinnen können, soll diese Abwägung dem Berufungsgericht vorbehalten bleiben.