BGH, Urteil vom 17.09.2013 – VI ZR 95/13
Ein Unfallgeschädigter kann die durch eine ärztliche Untersuchung oder Behandlung entstandenen Kosten vom Schädiger nur ersetzt verlangen, wenn der Unfall zu einer Körperverletzung geführt hat. Die bloße Möglichkeit oder der Verdacht einer Verletzung genügt dafür nicht.(Rn.8)
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil der 6. Zivilkammer des Landgerichts Chemnitz vom 25. Januar 2013 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
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Die Klägerin begehrt als Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung von dem beklagten Haftpflichtversicherer aus gemäß § 116 Abs. 1 SGB X übergegangenem Recht die Erstattung von Aufwendungen, die sie für ihre Versicherten G. und F. nach einem Verkehrsunfall vom 9. Januar 2006 erbracht hat. F. war Fahrerin ihres Pkws, in dem sich G. als Beifahrerin befand. Der Pkw kollidierte mit einem entgegenkommenden Fahrzeug. Die volle Haftung des beklagten Haftpflichtversicherers ist dem Grunde nach unstreitig.
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Die Klägerin macht geltend, der Pkw der Versicherten F. habe eine Geschwindigkeit von etwa 15 km/h gehabt, das entgegenkommende Fahrzeug sei mit einer Geschwindigkeit von etwa 40 km/h gefahren. An dem Fahrzeug der Versicherten F. sei ein Sachschaden von etwa 4.500 € entstanden. G. habe einen Tag nach dem Unfallgeschehen starke Verspannungen im Hals-, Nacken- und Rückenbereich verspürt und am 11. Januar 2006 den Chirurgen Dr. Sch. aufgesucht, der einen erheblichen Druckschmerz im Bereich der oberen und mittleren Halswirbelsäule und die Vermeidung einer Drehung des Kopfes festgestellt habe. Dr. Sch. habe G. wegen des Verdachts einer Querfortsatzfraktur des dritten Halswirbelkörpers in ein Krankenhaus überwiesen. Eine dort durchgeführte MRT-Untersuchung habe keine Anhaltspunkte für eine Fraktur oder eine Verdrehung der Wirbelsäule ergeben. Nach Rückläufigkeit der Beschwerden sei G. am 13. Januar 2006 entlassen und anschließend physiotherapeutisch weiterbehandelt worden. F. habe sich am 10. Januar 2006 wegen Schmerzen im Bereich der Hals- und Lendenwirbelsäule in ärztliche Behandlung begeben. Sie habe Bewegungseinschränkungen und ein Ziehen wahrgenommen.
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Die Klägerin erstattete für G. die Kosten der Erstbehandlung in Höhe von 55,47 €, die Kosten für die Inanspruchnahme des Rettungsdienstes in Höhe von 340,10 €, für die stationäre Behandlung in Höhe von 1.600,43 €, für Krankengymnastik in Höhe von 146,08 €, für die Weiterbehandlung in Höhe von 30,93 € und für die verordnete Zervikalstütze in Höhe von 31,12 € sowie weitere Kosten für die Behandlung im Krankenhaus in Höhe von 8,04 €. Für F. verauslagte die Klägerin die Kosten der Erstbehandlung in Höhe von 18,77 €, der Weiterbehandlung in Höhe von 41,17 € sowie der verordneten Krankengymnastik in Höhe von 219,40 €. Die Beklagte lehnte eine Zahlung ab.
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Das Amtsgericht hat der Klage – nach Beweisaufnahme durch Zeugenvernehmung der Versicherten G. und F. und des Arztes Dr. Sch. und Einholung von Sachverständigengutachten zur Kollisionsgeschwindigkeit und zur kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung – stattgegeben. Dagegen hat die Beklagte Berufung eingelegt. Das Landgericht hat ein biomechanisches und medizinisches Gutachten eingeholt und die Klage unter Abänderung des amtsgerichtlichen Urteils abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
I.
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Das Berufungsgericht führt aus, ein Schadensersatzanspruch der Klägerin sei nicht gegeben, weil Verletzungen der Halswirbelsäule (HWS-Syndrom) bei beiden Versicherten nicht vorgelegen hätten. Der Sachverständige Dr. D. sei nach Auswertung der vorliegenden medizinischen Befunde und einer Analyse der Zeugenaussagen der Versicherten sowie einer auf telefonischer Befragung beruhenden Anamnese der Versicherten F. zu dem Ergebnis gelangt, dass ein HWS-Syndrom mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden könne. Da es an unfallursächlichen Verletzungen fehle, seien die geltend gemachten Therapiekosten nicht auf den Unfall zurückzuführen und deshalb auch nicht ersatzfähig. Die Klägerin habe auch keinen Anspruch auf Ersatz von Befunderhebungs- und Diagnosekosten für medizinische Untersuchungen zur Abklärung bzw. zum Ausschluss möglicher Verletzungsfolgen. Auch wenn ein medizinischer Gutachter zu dem Ergebnis gelange, die ihm geschilderten unfallbedingten Symptome seien abklärungsbedürftig gewesen und weitere Untersuchungen seien nicht falsch gewesen, so seien die dadurch entstandenen Kosten, wenn eine unfallbedingte Verletzung nicht nachgewiesen werde, vom Unfallgegner nicht zu ersetzen.
II.
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1. Die Revision ist entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung uneingeschränkt zulässig. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann die Revision auf einen tatsächlich und rechtlich selbständigen Teil des Gesamtstreitstoffs beschränkt werden, der Gegenstand eines selbständig anfechtbaren Teil- oder Zwischenurteils sein könnte (Senatsurteile vom 19. Oktober 2004 – VI ZR 292/03, VersR 2005, 84, 86; vom 3. August 2010 – VI ZR 113/09, VersR 2011, 896 Rn. 8 und vom 16. Juli 2013 – VI ZR 442/12, VersR 2013, 1181 Rn. 13; Senatsbeschluss vom 17. April 2012 – VI ZR 140/11, VersR 2012, 1140 Rn. 3; BGH, Beschluss vom 10. Februar 2011 – VII ZR 71/10, NJW 2011, 1228 Rn. 11, jeweils mwN). Hat das Berufungsgericht – wie hier – die Zulassungsentscheidung ohne einschränkenden Zusatz in den Tenor aufgenommen, kann sich eine Beschränkung der Zulassung aus der Begründung der Zulassungsentscheidung ergeben. Das setzt aber voraus, dass sich die vom Berufungsgericht als zulassungsrelevant angesehene Frage nur für einen eindeutig abgrenzbaren selbständigen Teil des Streitstoffs stellt (Senatsurteil vom 3. August 2010 – VI ZR 113/09, aaO Rn. 9; Senatsbeschluss vom 17. April 2012 – VI ZR 140/11, aaO Rn. 4), der sich aus den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils entweder betragsmäßig ergibt oder unschwer feststellen lässt (BGH, Urteil vom 29. Januar 2003 – XII ZR 92/01, BGHZ 153, 358, 361 f.). Daran fehlt es hier. Das Berufungsgericht hat zur Begründung der Revisionszulassung ausgeführt, die Frage, ob die Schadensermittlungskosten im Bereich der Körperschäden vom Unfallversicherer zu tragen seien, habe über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung. Das Berufungsgericht hat aber keine Feststellungen dazu getroffen, in welchem Umfang es sich bei den von der Klägerin ersetzt verlangten Aufwendungen um Schadensermittlungskosten (und nicht um Therapie- und Behandlungskosten) handelt.
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2. Die Revision hat Erfolg.
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a) Rechtsfehlerfrei geht das Berufungsgericht allerdings davon aus, dass ein Anspruch der Klägerin auf Ersatz der geltend gemachten Untersuchungs- und Behandlungskosten nur gegeben ist, wenn der Unfall zu einer Körperverletzung ihrer Versicherten geführt hat (§ 249 Abs. 2 Satz 1 BGB). Ist eine Primärverletzung nicht bewiesen, fehlt es an einer Rechtsgutverletzung im Sinne der Haftungstatbestände der §§ 823 BGB, 11 StVG. Der bloße Verletzungsverdacht steht einer Verletzung haftungsrechtlich nicht gleich (OLG Hamm, r+s 2003, 434, 436; Jahnke in Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 22. Aufl., Vor § 249 BGB Rn. 87 mwN).
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b) Das Berufungsgericht hält es für nicht bewiesen, dass die Versicherten G. und F. infolge des Unfalls eine HWS-Distorsion erlitten haben. Diese – vom Revisionsgericht nur eingeschränkt überprüfbare (vgl. Senatsurteil vom 8. Juli 2008 – VI ZR 274/07, VersR 2008, 1126 Rn. 7 mwN) – tatrichterliche Beurteilung lässt keinen Rechtsfehler erkennen und wird von der Revision auch nicht in Frage gestellt.
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c) Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg gegen die Annahme des Berufungsgerichts, es fehle im Streitfall an dem Nachweis jeglicher Verletzungen. Diese Beurteilung des Berufungsgerichts hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Zwar ist die Würdigung der Beweise grundsätzlich dem Tatrichter vorbehalten, an dessen Feststellungen das Revisionsgericht gemäß § 559 Abs. 2 ZPO gebunden ist. Dieses kann lediglich nachprüfen, ob sich der Tatrichter entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Beweiswürdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr. vgl. Senatsurteil vom 16. April 2013 – VI ZR 44/12, VersR 2013, 1045 Rn. 13 mwN). Diesen Anforderungen genügt die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts nicht.
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aa) Nach § 286 Abs. 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Vorliegend hat das Berufungsgericht nicht ausreichend berücksichtigt, dass die vom Amtsgericht als Zeuginnen vernommenen Versicherten G. und F. bekundet haben, am Tag nach dem Unfall Beschwerden bzw. Schmerzen im Halsbereich verspürt zu haben. Das Amtsgericht hat diese Aussagen für glaubhaft erachtet und sich die Überzeugung gebildet, dass die von G. und F. geklagten Beschwerden unfallursächlich waren. Die Entscheidungsgründe des Berufungsurteils lassen nicht mit hinreichender Deutlichkeit erkennen, ob das Berufungsgericht die Aussagen der Zeuginnen anders als das Amtsgericht für nicht glaubhaft und die Beschwerden deshalb für nicht bewiesen erachtet oder ob und gegebenenfalls weshalb es (nur) die Unfallursächlichkeit der geschilderten Beschwerden für nicht nachgewiesen hält. Sollte es der Meinung sein, für den Beweis der Unfallursächlichkeit eines Körperschadens sei das Vorhandensein äußerlicher körperlicher Unfallspuren erforderlich, könnte dieser Auffassung nicht beigetreten werden.
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bb) Mangels gegenteiliger Feststellungen ist für das Revisionsverfahren zugunsten der Klägerin zu unterstellen, dass die Versicherten G. und F. am Tag nach dem Unfall an Beschwerden im Halsbereich litten. Ob diese Beschwerden eher unspezifisch waren oder als unfallbedingte Körperverletzung zu bewerten sind, unterliegt grundsätzlich der tatrichterlichen Beurteilung (vgl. Senatsurteil vom 3. Juni 2008 – VI ZR 235/07, VersR 2008, 1133). Die Revision weist jedoch mit Recht darauf hin, dass der Begriff der Körperverletzung im Sinne der § 823 Abs. 1 BGB, § 11 StVG weit auszulegen ist. Er umfasst jeden unbefugten, weil von der Einwilligung des Rechtsträgers nicht gedeckten Eingriff in die Integrität der körperlichen Befindlichkeit (vgl. Senatsurteile vom 9. November 1993 – VI ZR 62/93, BGHZ 124, 52, 54 und vom 18. März 1980 – VI ZR 247/78, VersR 1980, 558, 559, insoweit in BGHZ 76, 259 nicht abgedruckt; vgl. auch Senatsurteil vom 12. Februar 2008 – VI ZR 221/06, VersR 2008, 644 Rn. 9). Ob diese Voraussetzungen vorliegend erfüllt sind, lässt sich den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen nicht entnehmen.
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d) Sollte das Berufungsgericht nach erneuter Befassung – gegebenenfalls nach erneuter Zeugenvernehmung – zu dem Ergebnis gelangen, dass die von den Versicherten G. und F. geklagten Beschwerden vorhanden und unfallbedingt waren, hätte die Klägerin Anspruch auf Ersatz der Kosten für erfolgte medizinische Untersuchungen und Behandlungen, soweit diese erforderlich waren. Dazu zählen solche Heilbehandlungsmaßnahmen, die aus medizinischer Sicht eine Heilung oder Linderung versprachen. Zu ersetzen sind ferner die damit verbundenen Aufwendungen, zu denen auch etwaige Attestkosten zählen (vgl. MünchKommBGB/Oetker, 6. Aufl., § 249 Rn. 409).
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e) Sollte das Berufungsgericht dagegen zu dem Ergebnis gelangen, dass die geklagten Beschwerden oder aber deren Unfallbedingtheit nicht bewiesen seien, bestünde entgegen der Auffassung der Revision keine Grundlage für einen Anspruch der Klägerin auf Ersatz der geltend gemachten Kosten. Dies gilt nicht nur für Behandlungskosten, sondern auch für Befunderhebungs- und Diagnosekosten. Die Aufwendungen für den Arzt und für die von ihm aufgrund seiner Verdachtsdiagnose eingeleiteten Maßnahmen und auch die Kosten eines von ihm ausgestellten Attestes, das der Geschädigte zur Durchsetzung seiner Ersatzansprüche wegen der vermeintlich erlittenen Personenschäden verwenden will, sind nur entschädigungspflichtig, wenn die angenommene unfallbedingte Körper- oder Gesundheitsverletzung tatsächlich verifiziert wird (teilweise anders KG, NZV 03, 281), weil nur sie und nicht schon der Unfall als solcher gesetzlicher Anknüpfungspunkt für die Haftung gemäß § 7 Abs. 1 StVG, § 823 Abs. 1 BGB ist (OLG Hamm, r+s 2003, 434, 436 ff.; AG Nettetal, SP 2007, 211; AG Bottrop, SP 2008, 147 f.). In Fällen der Körperverletzung oder der Herbeiführung eines Gesundheitsschadens ist nur eine tatsächlich eingetretene Schädigung haftungsbegründend. Die bloße Möglichkeit oder der Verdacht einer Schädigung genügt dafür nicht.