BGH, Urteil vom 09.02.1979 – I ZR 67/77
1. Die Vermutung nach CMR Art 9 setzt voraus, daß ein den Vorschriften der CMR entsprechender Frachtbrief ausgestellt worden ist.
(Leitsatz des Gerichts)
Tatbestand
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Die Klägerin kaufte im Juni 1970 von der Firma E. in S./M. (Italien) 20.000 kg tiefgefrorene schwarze Süßkirschen zum Preise von Lit 318,4 je kg ab S. . Mit der Abholung der Ware in S. beauftragte die Klägerin die Gesellschaft für Transporte mbH in S. (GFT) als Spediteur. Diese erteilte den Auftrag zur Durchführung des Transports mittels Kühllastkraftwagen dem Beklagten, wobei sie auf die für den Transport tiefgefrorener Lebensmittel erforderliche Einhaltung einer Tiefkühltemperatur von minus 18 Grad C hinwies. Am 6. Oktober 1970 übernahm der Beklagte durch seinen Fahrer M. die Ware in S. von der Verkäuferin. Hierbei stellte M. nach Behauptung des Beklagten einen von ihm im Rechtsstreit vorgelegten CMR-Frachtbrief aus, in dem in der Spalte „Vorbehalte und Bemerkungen des Frachtführers“ eingetragen ist: „Temperatur der Ware bei Verladung minus 10 bis minus 12 Grad“. Die Zollabfertigung erfolgte in K. durch die Speditionsfirma S., die hierbei einen CMR-Frachtbrief ausstellte, ohne den Vorbehalt M.’s zu übernehmen. Danach war Empfänger des Gutes ein Kühlhaus in E. . Bei der Ankunft in E. am 9. Oktober 1970 wurde festgestellt, daß die Temperatur des Ladegutes zwischen minus 12 und minus 8 Grad C lag. Die Kartons, in denen die Kirschen verpackt waren, waren teilweise mit ausgelaufenem Kirschsaft durchtränkt. Seitens des Kühlhauses wurde auf dem in K. ausgestellten Frachtbrief vermerkt: „Wir bescheinigen den Empfang von 1.277 Kartons. Eingangstemperatur 8 bis 12 Grad Minus. Die Kartons waren zu 50% von Kirschsaft durchtränkt. Unter Vorbehalt angenommen“.
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Die Firma GFT hat ihre Ansprüche aus dem Frachtvertrag an die Klägerin abgetreten. Diese verlangt Schadensersatz nach den Vorschriften des Übereinkommens über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr (CMR). Sie hat vorgetragen, das Frachtgut sei durch Nichteinhaltung der erforderlichen Tiefkühltemperatur während des Transports beschädigt worden. Die Wertminderung betrage 40%.
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Die Klägerin hat beantragt, den Beklagten zu verurteilen, an sie 15.732,70 DM nebst 12% Zinsen seit dem 9. Oktober 1970 zu zahlen.
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Der Beklagte hat geltend gemacht, die Klägerin sei nicht aktiv legitimiert. Auch sei der Schaden am Frachtgut nicht während des Transports entstanden. Die Ware habe sich bereits bei Übernahme durch den Fahrer M. nicht mehr in einem ordnungsgemäßen Zustande befunden; sie habe, wie der Fahrer mit Hilfe eines Stechthermometers festgestellt und in den von ihm ausgestellten Frachtbrief eingetragen habe, eine Temperatur von nur minus 10 bis minus 12 Grad C gehabt. Der Thermostat des Kühllastwagens sei während des Transports immer auf minus 21 Grad C eingestellt gewesen. Nach der Beschaffenheit des Gutes bei der Entladung sei davon auszugehen, daß die Firma E. teilweise Ware eingeladen habe, die bereits aufgeweicht gewesen sei. Der Fahrer sei während des Beladevorganges nicht ständig zugegen gewesen. Hierzu sei er auch nicht verpflichtet gewesen.
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Das Landgericht hat die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Die Berufung des Beklagten ist zurückgewiesen worden. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte den Klageabweisungsantrag weiter. Die Klägerin beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
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I. Das Berufungsgericht bejaht die Aktivlegitimation der Klägerin. Diese Ausführungen lassen keinen Rechtsfehler erkennen. Sie werden auch von der Revision nicht angegriffen.
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II. Das Berufungsgericht geht zutreffend davon aus, daß es sich um einen Frachtvertrag handelt, der den Vorschriften des Übereinkommens über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr (CMR) unterliegt. Es nimmt auch zu Recht an, daß die Wirksamkeit des Frachtvertrages nicht davon abhängt, ob ein den Vorschriften des Übereinkommens entsprechender Frachtbrief ausgestellt worden ist (Art 1, Art 4 CMR). Zur Frage der Haftung des Beklagten nach Art 17 Abs 1 CMR für die Beschädigung des Gutes durch Nichteinhaltung der erforderlichen Tiefkühltemperatur von minus 18 Grad C führt das Berufungsgericht aus, es sei nach Ausschöpfung der verfügbaren Beweismittel ungeklärt, welche Temperatur die Ware bei der Verladung in Italien gehabt habe. Gegen die Aussage des Zeugen M. (Fahrer des Beklagten), er habe mit dem Stechthermometer eine Temperatur von minus 10 bis minus 12 Grad C festgestellt, bestünden Bedenken. Der Zeuge B. (Kommanditist der Lieferfirma), der ausgesagt hat, die Ware habe vor der Verladung eine Temperatur von minus 18 bis minus 20 Grad C gehabt, habe ein eigenes wirtschaftliches Interesse am Ausgang des Rechtsstreits und verdiene deshalb nicht mehr Glauben als der Zeuge M. . Der Sachverständige F. habe eine eindeutige Aussage nicht machen können. Dies gehe, so meint das Berufungsgericht, zu Lasten des Beklagten. Nach Art 9 Abs 2 CMR werde vermutet, daß sich das Gut bei der Übernahme durch den Frachtführer äußerlich in gutem Zustande befunden habe. Zum äußeren Zustand gehöre bei Tiefkühlgut auch die Erhaltung einer ordnungsgemäßen Beschaffenheit erforderliche Temperatur. Art 9 Abs 2 CMR knüpfe zwar die Vermutung an das Fehlen eines mit Gründen versehenen Vorbehalts des Frachtführers im Frachtbrief. Ein ordnungsgemäßer Frachtbrief im Sinne der Art 4 und 5 CMR liege im Streitfall nicht vor. Das Nichtvorhandensein eines Frachtbriefs sei jedoch in diesem Zusammenhang genauso zu werten wie das Fehlen eines Vorbehalts. Der Frachtführer müsse sich entgegenhalten lassen, daß er die Ausstellung eines Frachtbriefes habe verlangen können.
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Die gegen diese Beurteilung gerichteten Angriffe der Revision haben Erfolg.
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Die Auffassung des Berufungsgerichts, die Vermutung des Art 9 Abs 2 CMR gelte zu Lasten des Frachtführers auch dann, wenn kein Frachtbrief ausgestellt worden sei, kann nicht zugestimmt werden. Es handelt sich bei dieser Bestimmung um eine Beweislastregel, die, wie Wortlaut und Bedeutungszusammenhang ergeben, die Ausstellung eines den Vorschriften der Art 5 und 6 CMR entsprechenden Frachtbriefes voraussetzt. Der Frachtbrief ist danach eine widerlegbare Beweisurkunde. Vermutet wird aufgrund eines ordnungsgemäß ausgestellten CMR-Frachtbriefes ua, daß das Gut bei der Übernahme durch den Frachtführer äußerlich in gutem Zustande war, wenn der Frachtbrief keinen mit Gründen versehenen Vorbehalt des Frachtführers aufweist. Ist es danach erforderlich, den Vorbehalt in den Frachtbrief einzutragen, so wird dadurch bestätigt, daß die Vermutung nur gelten soll, wenn ein Frachtbrief tatsächlich ausgestellt worden ist. Sie beruht auf dem Inhalt des Frachtbriefs.
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Mit der Erwägung, der Frachtführer könne die Ausstellung eines Frachtbriefs verlangen, läßt sich eine andere Beurteilung nicht rechtfertigen. Dieser Gesichtspunkt kann zwar für die Beweiswürdigung von Bedeutung sein, insbesondere wenn sich den Umständen nach sagen läßt, der Frachtführer, der die Ausstellung eines Frachtbriefes nicht verlangt habe, habe auch keinen Grund gehabt, einen Vorbehalt geltend zu machen. Die Vermutung des Art 9 Abs 2 CMR geht jedoch erheblich weiter. Sie führt zu einer Umkehrung der Beweislast und setzt, wie ausgeführt, voraus, daß ein Frachtbrief tatsächlich ausgestellt worden ist, da sie an dessen Inhalt anknüpft.
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Schließlich führt auch der Hinweis auf Art 8 Abs 1b und Abs 2 Satz 2 CMR in diesem Zusammenhang nicht weiter. Die hiernach bestehende „Verpflichtung“ des Frachtführers, den äußeren Zustand des Gutes bei der Übernahme zur Beförderung zu überprüfen und Vorbehalte mit Begründung in den Frachtbrief einzutragen, setzt nach Wortlaut und Sinnzusammenhang ebenfalls die Ausstellung eines Frachtbriefes voraus. Dabei handelt es sich nicht um eine dem Absender gegenüber bestehende Rechtspflicht. Die Folge ihrer Nichterfüllung ist insoweit nur, daß der Frachtführer, wenn ein Frachtbrief ausgestellt worden ist, er aber keinen begründeten Vorbehalt eingetragen hat, die Vermutung des Art 9 Abs 2 CMR gegen sich gelten lassen muß (vgl Loewe, Europäisches Transportrecht 1976, Seite 537; Muth, Leitfaden zur CMR, 3. Aufl, Seite 57; Precht/Endrigkeit, CMR-Handbuch, 3. Aufl, Seite 67). Ob das ergänzend anwendbare nationale Recht eine vertragliche Verpflichtung des Frachtführers begründen kann, für die Ausstellung eines Frachtbriefes zu sorgen und Vorbehalte, die nach der äußeren Beschaffenheit des Gutes angezeigt erscheinen, in den Frachtbrief einzutragen, ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung, weil eine Verletzung dieser Verpflichtung, die eine Haftung des Frachtführers aus dem Gesichtspunkt der positiven Vertragsverletzung zur Folge haben kann, von der Haftung des Frachtführers nach Art 17 CMR zu unterscheiden ist und nicht dazu führen kann, Art 9 Abs 2 CMR im Rahmen des Art 17 CMR auch dann anzuwenden, wenn kein Frachtbrief ausgestellt worden ist.
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III. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist ungeklärt, ob das Tiefgefriergut die behaupteten Schäden schon im Zeitpunkt der Übernahme durch die Beklagte aufwies. Dies geht nach dem Grundsatz, daß jede Partei die Tatsachen beweisen muß, aus denen sie Rechte herleitet (vgl BGHZ 53, 245, 250), zu Lasten der Klägerin. Danach wäre der auf Art 17 CMR gestützte Schadensersatzanspruch an sich abzuweisen. Das Revisionsgericht sieht sich jedoch zu einer abschließenden Entscheidung nicht in der Lage, weil das Berufungsgericht selbst nur von einer „Ausschöpfung der verfügbaren Beweise“ spricht und seine Beweiswürdigung von der unrichtigen Beurteilung der Beweislastfrage beeinflußt sein kann.
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IV. Die Sache war daher unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.