BGH, Urteil vom 31.05.1994 – VI ZR 233/93
Der Eigentümer eines Mehrfamilienhauses verstößt gegen die Verkehrssicherungspflicht, wenn er bei für ihn erkennbarer Gefahrenlage, die sich aus der Verglasung einer Treppenhausaußenwand mit gewöhnlichem Fensterglas ergibt, keine Abhilfe schafft.
(Leitsatz des Gerichts)
Tatbestand
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Der Kläger ist Mieter einer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in Bad P.. Er verlangt nach einem Sturz auf der Innentreppe des Hauses von der Beklagten als Erbin des Hauseigentümers und Vermieters August G. Schadensersatz wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht.
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Der Kläger war in den frühen Morgenstunden des 27. Mai 1990 vom Nachtdienst in seine Wohnung zurückgekehrt. Von dort wollte er für seine Freundin Schlüssel in dem Briefkasten am Hauseingang deponieren. Beim Hinuntergehen trat er auf den letzten Stufen der aus Marmorstufen bestehenden Treppe fehl und geriet stürzend mit dem linken Arm in eine hierdurch zersplitternde Glasscheibe der Außenwand des Treppenhauses. Als er versuchte, den Arm herauszuziehen, zerbrach er mit dem rechten Arm eine weitere Scheibe. Er erlitt schwere Schnittverletzungen an beiden Armen; eine vollständige Wiederherstellung des linken Armes ist nicht zu erwarten.
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Der Kläger sieht in der Anlage der verglasten Außenwand des Treppenhauses einen Verstoß gegen die Verkehrssicherungspflicht, weil die eingesetzten Scheiben nicht aus Sicherheitsglas, sondern aus nur zwei Millimeter dickem Fensterglas bestanden hätten. Die Gefährlichkeit dieser Verglasung sei ohne weiteres zu erkennen gewesen. Sie sei August G. zudem noch einmal dadurch vor Augen geführt worden, daß vor dem Streitfall ein Rettungssanitäter bei dem Noteinsatz für eine Mieterin mit der Trage gegen die verglaste Wand gestoßen sei und sich dabei ebenfalls Schnittverletzungen durch das splitternde Glas zugezogen habe.
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Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg. Mit der Revision verfolgt er seine Ansprüche weiter.
Entscheidungsgründe
I.
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Das Berufungsgericht meint, es sei zwar mit den Grundsätzen der Verkehrssicherungspflicht unvereinbar, wenn in Wohngebäuden die dem Ende eines Treppenabschnitts gegenüberliegende Außenwand eine ungenügend gesicherte Verglasung aufweise. Der Senat neige auch dazu, die Verglasung mit gewöhnlichem Fensterglas, wie sie hier vorgenommen worden sei, als nicht ausreichend anzusehen und deshalb entgegen dem Landgericht eine Gefährdung anzunehmen. Eine abschließende Würdigung sei insoweit aber nicht erforderlich, weil jedenfalls ein Verschulden des August G. nicht festzustellen sei. Denn die Gestaltung der Außenwand sei von einem Architekten geplant und ausgeführt und von der Bauordnungsbehörde genehmigt worden. Bei solcher Sachlage könne bei einem privaten Bauherrn, anders als etwa bei den Organen einer Wohnungsbaugesellschaft, die Einsicht in die Gefährlichkeit einer Verglasung auch dann nicht vorausgesetzt werden, wenn ihre Gewinnung an keine technischen Spezialkenntnisse gebunden sei. Zwar sei es jedem Menschen offenkundig, daß bei einem Treppensturz in eine Glaswand Verletzungen entstehen können. Wenn aber, wie hier, durch Betonumrahmungen Möglichkeiten zum Abstützen vorhanden seien, so dränge sich für einen privaten Bauherrn eine solche Gefahr nicht auf. Er könne sich auf die von der Bauaufsicht unbeanstandete Planung und Ausführung durch Fachleute verlassen. Eine andere Beurteilung sei im Streitfall auch nicht wegen der vorausgegangenen Verletzung des Rettungssanitäters geboten. Dieses Ereignis sei wegen der Notfallsituation und der Behinderung durch die Trage mit dem Unfall des Klägers nicht zu vergleichen.
II.
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Das Berufungsurteil hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht in allen Punkten stand.
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1. Von der Revision als ihr günstig hingenommen und aus Rechtsgründen auch nicht zu beanstanden sind die Erwägungen, aus denen das Berufungsgericht dazu neigt, im Streitfall in der baulichen Gestaltung der Außenwand des Treppenhauses einen Verstoß gegen die Grundsätze der Verkehrssicherungspflicht zu sehen.
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a) Die Wand wies unstreitig 27 Öffnungen in einer Größe von 20 x 45 bzw. 30 x 40 cm auf, die mit gewöhnlichem, nicht bruchsicheren Fensterglas verschlossen waren. Da der unteren Stufe der Treppe ein nur 1,25 m breites Podest bis zur Außenwand vorgelagert war, mußte, wie das Berufungsgericht mit Recht ausführt, mit Stürzen hinabsteigender Personen gegen die Außenwand ernstlich gerechnet werden. Deshalb war es geboten, die Wand so zu gestalten, daß vermeidbare Gefahren derartiger Stürze ausgeschlossen wurden (vgl. Senatsurteil vom 11. März 1969 – VI ZR 271/67 – VersR 1969, 665, 666; BGH, Beschluß vom 14. Juni 1982 – III ZR 128/81 – VersR 1982, 854, 855). Dazu reichten die zwischen den zerbrechlichen Glasscheiben befindlichen Betonrippen schon deshalb nicht aus, weil sie, wie das Berufungsgericht ebenfalls zutreffend darlegt und wie auch der erkennende Senat (aaO) bereits ausgeführt hat, keinen Schutz vor der typischen Gefahr boten, daß ein Stürzender mit seinen Armen gegen das zersplitternde Fensterglas geriet und sich dadurch verletzte. Eine andere Betrachtung ist hier auch nicht, wie die Revisionserwiderung geltend macht, deshalb geboten, weil die zerbrochenen Scheiben, anders als in dem Sachverhalt des Senatsurteils vom 11. März 1969 (aaO), in einer Höhe von mindestens 0,77 m und damit oberhalb der Höhe des Geländers gelegen hätten. Zum einen war nach dem Protokoll über die Augenscheinseinnahme des Landgerichts unter der in einer Höhe von 0,77 m eingebauten zerbrochenen Scheibe eine weitere Scheibe entzweigegangen. Zum anderen befand sich das Geländer an der gegenüberliegenden Seite der Treppe und bot deshalb keine Sicherheit vor Stürzen in die Glaswand.
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b) Das Berufungsgericht hat, da es aus seiner Sicht hierauf nicht ankam, von einer abschließenden Würdigung der Gefährlichkeit des Treppenhauses einschließlich der dazu für erforderlich gehaltenen eigenen Ortsbesichtigung abgesehen und lediglich seine Neigung zum Ausdruck gebracht, das Vorliegen einer Gefährdung anzunehmen. Im Revisionsrechtszug ist hiernach zu Gunsten des Klägers davon auszugehen, daß eine Augenscheinseinnahme die Neigung des Berufungsgerichts, im Streitfall eine gegen die Verkehrssicherungspflicht verstoßende gefahrenträchtige Gestaltung des Treppenhauses zu bejahen, zu einer entsprechenden Überzeugung verstärkt hätte.
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2. Mit Recht beanstandet die Revision jedoch die Ansicht des Berufungsgerichts, es fehle an einem Verschulden des Hauseigentümers August G.
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a) Ausgangspunkt für die Frage nach einem Verschulden ist die Vorschrift des § 276 Abs. 1 Satz 2 BGB. Hiernach handelt fahrlässig, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer acht läßt. Welche Sorgfalt jeweils erfordert wird, ist ohne Rücksicht auf die individuellen Kenntnisse und Fähigkeiten des Betroffenen nach einem objektivierten Maßstab zu beurteilen (BGHZ 24, 21, 27; 80, 186, 193; Senatsurteil vom 23. Januar 1968 – VI ZR 133/68 – VersR 1968, 395). Dieser Maßstab ist allerdings, da die Lebenswirklichkeit jede schematische Gleichsetzung verbietet, nach Verkehrskreisen typisiert, deren speziellen Anschauungen und Bedürfnissen Rechnung zu tragen ist (BGH, Urteil vom 23. Januar 1968 = aaO; Steffen in BGB-RGRK, 12. Aufl., § 823 Rdn. 409; Palandt/Heinrichs, BGB 53. Aufl., § 276 Rdn. 17 m.w.N.). Ist die hiernach objektiv erforderliche Sorgfalt nicht gewahrt, so kann sich der zu ihrer Einhaltung Verpflichtete nur in Ausnahmefällen darauf berufen, nicht schuldhaft gehandelt zu haben (vgl. Senatsurteil vom 23. Oktober 1984 – VI ZR 85/83 – VersR 1985, 64, 66; v. Bar, JuS 1988, 169, 173; siehe im einzelnen nachstehend zu 2 c).
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b) Geht es, wie im Streitfall, um die Anforderungen an die verkehrssichere Erstellung des Treppenhauses eines Mehrfamilienhauses, so ist nach dem vorstehend Gesagten zu fragen, ob der Hauseigentümer sich bei der baulichen Gestaltung wie ein ordentlicher und besonnener Bauherr verhalten und den Integritätsansprüchen der das Treppenhaus benutzenden Personen in vernünftiger und gewissenhafter Weise Rechnung getragen hat (vgl. allgemein MünchKomm-Hanau, BGB 2. Aufl., § 276 Rdn. 79). Die hieran auszurichtende Sorgfalt gilt in gleicher Weise sowohl für die vertraglichen Pflichten des Hauseigentümers gegenüber den Mietern und ihren Angehörigen als auch für seine deliktischen Pflichten; bei letzteren unbeschadet der Frage, ob die betroffenen Personen das Treppenhaus auf vertraglicher Grundlage benutzen.
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c) Im Streitfall ist, wie bereits dargelegt, davon auszugehen, daß die Außenwand des Treppenhauses mit dem eingebrachten gewöhnlichen Fensterglas dem auf den Schutz von Körper und Gesundheit gerichteten Integritätsanspruch der die Treppe Benutzenden nicht gerecht wurde. Fraglich kann deshalb nur sein, ob das aus § 276 Abs. 1 Satz 2 BGB zu entnehmende, an den Bauherrn und Hauseigentümer gerichtete Sorgfaltsgebot den Rechtsvorgänger der Beklagten hier aus besonderen persönlichen Gründen nicht zu einer Abwendung der von der Art der Verglasung ausgehenden Gefahren verpflichtete, weil er etwa nicht erkennen konnte, daß er ein anderes Glas in die Außenwand einbauen lassen mußte. Nur bei solcher Sachlage ist ausnahmsweise der Schluß von der Nichteinhaltung der “äußeren” Sorgfalt auf eine Verletzung der “inneren” Sorgfalt nicht gerechtfertigt (vgl. dazu v. Bar, aaO; Deutsch, Haftungsrecht Bd. I (1976) S. 276 ff, 279; Steffen, aaO, Rdn. 414; s. auch BGHZ 80, 186, 199; Senatsurteil vom 11. März 1986 – VI ZR 22/85 – VersR 1986, 765, 766). Das Berufungsgericht bejaht dies hier, weil es meint, August G. habe sich auf die von der Bauaufsicht unbeanstandete Planung und Ausführung des Treppenhauses durch Fachleute verlassen dürfen. Dem kann jedoch nicht gefolgt werden.
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aa) Mit Recht geht das Berufungsgericht davon aus, daß der Verkehrssicherungspflichtige durch die baurechtliche Genehmigung einer Anlage nicht von der eigenen Prüfungspflicht befreit wird. Denn die Erteilung der öffentlichrechtlichen Erlaubnis verfolgt andere Zwecke als die auf den Vertrauenserwartungen des Verkehrs beruhende, auf den Integritätsschutz gefährdeter Personen ausgerichtete und deshalb in ihrer Zielsetzung umfassendere Verkehrssicherungspflicht (vgl. Senatsurteile vom 29. Oktober 1963 – VI ZR 272/62 – VersR 1964, 279, 280; vom 11. März 1969 = aaO und vom 23. Oktober 1984, aaO, S. 65; Steffen, aaO, Rdn. 219 und 221 m.w.N.).
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bb) August G. hat die ihm als Bauherrn obliegende Sorgfaltspflicht im Streitfall auch nicht dadurch gewahrt, daß er zur Planung und Ausführung des Hauses einen Architekten einschaltete, der entweder die Verglasung mit gewöhnlichem Fensterglas vorgesehen oder jedenfalls das Einbringen üblicher Fensterscheiben durch den Glaser nicht beanstandet hat.
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(a) Allerdings wird ein Bauherr von seiner Verantwortung für die verkehrssichere Errichtung eines Bauwerks weitgehend dadurch befreit, daß er mit der Planung und Bauleitung einen bewährten Architekten beauftragt (vgl. Senatsurteile vom 11. Mai 1976 – VI ZR 210/73 – VersR 1976, 954, 955 und vom 9. März 1982 – VI ZR 220/80 – VersR 1982, 595, 596). Dies gilt jedoch nicht insoweit, als er bei einer von ihm selbst erkannten oder für ihn jedenfalls erkennbaren Gefahrenlage keine Abhilfe schafft (Senatsurteile vom 10. Juli 1959 – VI ZR 208/58 – VersR 1959, 998, 999 sowie vom 11. Mai 1976 und vom 9. März 1982 = jeweils aaO). So liegt der Fall hier.
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(b) Freilich ist die Erkennbarkeit einer Gefahr für einen privaten Bauherrn nicht in gleicher Weise zu beurteilen wie für einen Baufachmann. Besitzt jemand besondere persönliche Fähigkeiten, die ihn auf einem bestimmten Gebiet als Spezialisten erscheinen lassen, so kann von ihm eine das durchschnittliche Maß übersteigende Sorgfalt verlangt werden (vgl. Senatsurteil vom 10. Februar 1987 – VI ZR 68/86 – VersR 1987, 686, 687; Steffen, aaO, Rdn. 411). Dies kann, wie das Berufungsgericht unter Hinweis auf das Senatsurteil vom 11. März 1969 (aaO) zutreffend darlegt, dazu führen, daß bei der Errichtung eines Wohnhauses an die Organe einer Wohnungsbaugesellschaft in Fragen der verkehrssicheren Baugestaltung strengere Anforderungen zu stellen sind als an einen Privatmann. Um solche nur einem Spezialisten verfügbaren Fachkenntnisse geht es jedoch im Streitfall nicht. Hier war zum Erkennen der nicht verkehrssicheren Baugestaltung des Treppenhauses keine Einsicht erforderlich, deren Gewinnung an technische Spezialkenntnisse gebunden war. Damit im Einklang steht die Aussage des Berufungsgerichts, es sei jedem Menschen offenkundig, daß bei einem Treppensturz in eine Glasscheibe Verletzungen entstehen können.
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(c) Auf dieser Grundlage bedarf es auch im Streitfall keiner Beantwortung der im Senatsurteil vom 11. März 1969 (aaO) offen gelassenen Frage, ob es einem privaten Bauherrn allgemein zum Verschulden gereicht, wenn eine nicht verkehrssichere Baugestaltung von dem bauleitenden Architekten gewählt oder gebilligt worden ist. Denn jedenfalls bei den konkreten Gegebenheiten des Streitfalles, nämlich der zu Gunsten des Klägers anzunehmenden besonderen Gefährlichkeit der Verglasung der Außenwand, traf hier den Bauherrn August G. neben dem von ihm hinzugezogenen Architekten auch selbst die Pflicht, der “offenkundigen” und damit auch für ihn erkennbaren Gefahr einer Verletzung auf der Treppe stürzender Personen durch zersplitterndes Glas der Außenwand in geeigneter Weise zu begegnen. Wegen dieser erkennbaren Gefährlichkeit ist der Streitfall in Bezug auf das Verschulden des Bauherrn anders zu beurteilen als die Fahrlässigkeit bei der Verwendung gewöhnlichen Glases in den Fenstern der ruhigen Abteilungen einer Heil- und Pflegeanstalt (vgl. dazu Urteil vom 8. Juli 1971 – III ZR 67/68 – NJW 1971, 1881, 1882).
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cc) Die August G. obliegende Pflicht zur Beseitigung der durch die Verglasung der Außenwand begründeten Gefahren wurde noch verstärkt, wenn ihm, wie das Berufungsgericht zu Gunsten des Klägers unterstellt, bekannt war, daß einige Zeit zuvor ein Rettungssanitäter bei einem Noteinsatz mit seiner Trage gestürzt und durch die Glasscheiben der Wand gestoßen war, wobei er sich ebenfalls Schnittverletzungen an der Hand und dem Unterarm zugezogen hatte. Zwar ist dem Berufungsgericht dahin zu folgen, daß diese Notfallsituation des zudem noch durch die Trage behinderten Sanitäters dem Sturz des Klägers nicht ohne weiteres vergleichbar ist. Der Unfall des Rettungssanitäters mußte dem Hauseigentümer August G. aber doch jedenfalls die leichte Zerbrechlichkeit der Glasscheiben der Außenwand und die Gefahr dadurch entstehender Schnittverletzungen noch einmal deutlich vor Augen führen. Allein darauf kommt es hier an.
III.
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Das Berufungsurteil ist deshalb aufzuheben und der Rechtsstreit gemäß § 565 Abs. 1 ZPO zur weiteren Sachaufklärung an die Vorinstanz zurückzuverweisen. In der neuen Verhandlung wird das Berufungsgericht, wenn es zu einer Schadensersatzpflicht der Beklagten gelangt, insbesondere auch zu prüfen haben, ob und in welchem Umfang den Kläger ein Mitverschulden an dem Unfall trifft.