BGH, Urteil vom 06.12.1994 – VI ZR 229/93
Zur Produktbeobachtungspflicht für Quasi-Hersteller (hier: schwer lösliche chemische Rückstände eines Gewindeschneidemittels in verlegten Trinkwasserrohren)
Tenor
Die Revision der Beklagten und deren Streithelferin gegen das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 14. Juli 1993 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens fallen der Beklagten zur Last. Die Streithelferin hat die durch ihre Nebenintervention verursachten Kosten zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
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Die Klägerin, die ein Installationsgewerbe betreibt, führte in der Zeit von Mai bis Juli 1990 Sanitärinstallationsarbeiten in einer Eigentumswohnanlage in F. aus. Dabei verwendete sie zum Zuschneiden von Gewinden für die Rohrverbindungen der Trinkwasserversorgung ein Gewindeschneidemittel. Nach der Inbetriebnahme der Trinkwasseranlage wurde festgestellt, daß das Wasser mit einem starken Ölgeruch aus der Leitung kam. Die Klägerin versuchte, die Belastung des Wassers durch Spülungen abzustellen. Nach vier Spülungen mit Wasser war aber keine Besserung eingetreten. Daraufhin spülte die Klägerin die Leitungen nochmals mit Wasser und Chlor mittels einer Dosierpumpe. Nach einer Standzeit von zwölf Stunden entleerte sie die Leitungen und spülte sie dann mit Wasser so lange durch, bis die Chlorrückstände beseitigt waren. Nach einigen Tagen wiederholte sie die Chlorspülung und führte eine weitere Spülung mit dem Spülmittel PS-RST durch. Diese Spülung war ebenso erfolglos wie eine weitere Spülung mit Wasserstoff-Peroxyd. Die Klägerin ließ daraufhin von einem Fachunternehmen eine weitere Spülung mit Alkohol vornehmen.
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Die Beklagte vertrieb in den Jahren 1989/1990 in der Bundesrepublik Deutschland ein von ihr eingeführtes und von ihrer Streithelferin, einem belgischen Unternehmen, hergestelltes Gewindeschneidemittel unter dem von ihrer Firmenbezeichnung abgeleiteten Markennamen “R.-Syn.”.
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Die Klägerin hat behauptet, bei dem von ihr Ende 1989 in einem Geschäft in T. gekauften und bei den Installationsarbeiten verwendeten Gewindeschneidemittel habe es sich um das Produkt “R.-Syn.” gehandelt. Auf dem Behälter habe sich ein Hinweis befunden, daß das Mittel absolut mineralölfrei, völlig wasserlöslich sowie geruchs- und geschmacksneutral sei. Das Mittel sei aber weder geschmacks- noch geruchsneutral gewesen. Deshalb sei das Trinkwasser in der Eigentumswohnanlage nach Inbetriebnahme der Wasserleitungen mit dem starken Ölgeruch behaftet gewesen. Die Reinigung der Leitungen haben einen Kostenaufwand von 31.705,40 DM erfordert, ohne daß die Verschmutzung des Rohrsystems völlig beseitigt gewesen sei.
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Die Klägerin ist der Auffassung, daß die Beklagte deliktsrechtlich für den ihr entstandenen Schaden von 31.705,40 DM und den Zukunftsschaden hafte.
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Das Landgericht hat den Anspruch der Klägerin auf Ersatz ihres Schadens infolge der Verwendung des Gewindeschneidemittels dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt, ein etwaiges Mitverschulden der Klägerin bei der Schadensbeseitigung dem Betragsverfahren vorbehalten und festgestellt, daß die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin den weitergehenden Schaden zu ersetzen, der ihr aus der Verwendung des Gewindeschneidemittels “R.-Syn.” bei der Installation der Trinkwasserleitungen in der Eigentumswohnanlage in F. entstehen werde. Die Berufung der Beklagten und ihrer Streithelferin hatte keinen Erfolg. Mit der zugelassenen Revision verfolgen die Beklagte und die Streithelferin ihre Klageabweisungsanträge weiter.
Entscheidungsgründe
I.
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Das Berufungsgericht hat eine Haftung der Beklagten aus dem Gesichtspunkt der Eigentumsverletzung nach § 823 Abs. 1 BGB bejaht. Es hat in Übereinstimmung mit dem Landgericht festgestellt, daß die Klägerin zum Schneiden der Gewinde der Wasserleitungsrohre, die sie in der Eigentumswohnanlage in F. einzubauen hatte, das von der Beklagten eingeführte und in der Bundesrepublik Deutschland unter der Bezeichnung “R.-Syn.” vertriebene Gewindeschneidemittel verwendet hat. Sachverständig beraten gelangt das Berufungsgericht zu der Überzeugung, daß das Schneidemittel “R.-Syn.” für den penetranten Geruch in dem Trinkwasser in den Eigentumswohnungen verantwortlich ist, und daß die Leitungen zur Wiederherstellung ihres Bestimmungszwecks, den Zufluß einwandfreien Trinkwassers zu gewährleisten, mit erheblichem Kostenaufwand gereinigt werden mußten.
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Das Berufungsgericht ist der Auffassung, durch das Anhaften schwer löslicher Rückstände an den Innenwänden der Leitungen seien die Rohre beschädigt worden. Zum Zeitpunkt der Bearbeitung der Rohre sei die Klägerin noch deren Eigentümerin gewesen. In Übereinstimmung mit dem 25. Zivilsenats des Berufungsgerichts, dessen Entscheidung der erkennende Senat durch Urteil vom 7. Dezember 1993 (VI ZR 74/93 – VersR 1994, 319) bestätigt hat, geht das Berufungsgericht davon aus, die Beklagte habe als Importeurin und oberste Vertriebshändlerin im Inland mit eigenem Produkt-Markenzeichen eine eigenständige Produktbeobachtungspflicht getroffen. Diese Pflicht habe sie aus Fahrlässigkeit verletzt, weil sie nach den ersten Beanstandungen im Februar 1989 nicht alles Zumutbare und Erforderliche zur Schadensverhütung getan habe. Aufgrund der Reklamationen und des gegen sie im März 1989 eingeleiteten Beweissicherungsverfahrens habe sie zumindest mit der Mangelhaftigkeit des Produkts rechnen und die Großhändler unverzüglich auf die möglichen schädlichen Auswirkungen der Verwendung des Mittels hinweisen müssen, und zwar auch dann, wenn ihr das den Produktfehler bestätigende Beweissicherungsgutachten erst im Januar 1990 bekannt geworden sei. Bei einer Warnung des Großhandels wäre aller Wahrscheinlichkeit nach der Verkauf an die Klägerin unterblieben und deren Schaden somit nicht eingetreten.
II.
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Das Berufungsurteil hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung stand.
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1. Ohne Erfolg wendet sich die Beklagte und ihre Streithelferin mit der Revision gegen die Annahme des Berufungsgerichts, durch die Verwendung des Gewindeschneidemittels sei das Eigentum der Klägerin an den Rohren verletzt worden und ihr dadurch ein Schaden enstanden. Die vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen reichen zur Bejahung dieser Voraussetzungen des § 823 Abs. 1 BGB für den Schadensersatzanspruch der Klägerin aus.
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a) Eine Eigentumsverletzung setzt entgegen der Annahme der Revision nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes keinen Eingriff in die Substanz der Rohre voraus; auch eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung der bestimmungsgemäßen Verwendung einer Sache kann als Eigentumsverletzung angesehen werden (BGHZ 55, 153, 159; 105, 346, 350; Senatsurteil vom 21. November 1989 – VI ZR 350/88 – VersR 1990, 204, 205; Senatsbeschluß vom 16. Februar 1993 – VI ZR 252/92 – NJW-RR 1993, 793 = VersR 1993, 1367, 1368). An dieser Rechtsprechung hält der erkennende Senat fest. Selbst wenn daher im Streitfalle, wie in dem durch den erkennenden Senat entschiedenen Parallelprozeß, der Produktfehler des Gewindeschneidemittels nicht zu einer Beeinträchtigung der Sachsubstanz der Rohrleitungen geführt haben sollte, lag dennoch eine Eigentumsverletzung vor (vgl. Urteil vom 7. Dezember 1993 – VI ZR 74/93 – VersR 1994, 319; zustimmend Schlechtriem, EWiR § 823 BGB 1/94, 135; kritisch dazu Brüggemeier, JZ 1994, 578; Foerste, NJW 1994, 909, 910). Die Nutzung der von der Klägerin mit dem Gewindeschneidemittel bearbeiteten Rohre wurde nämlich dadurch erheblich beeinträchtigt, daß – wie das Berufungsgericht festgestellt hat – in den Rohren schwer lösliche Rückstände zurückblieben, die für den penetranten Geruch des aus dem Rohrleitungssystem fließenden Wassers verantwortlich waren.
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Das Berufungsgericht konnte diese Eigentumsverletzung rechtlich einwandfrei auch als Sachbeschädigung bezeichnen. Auch diese setzt nicht eine Substanzveränderung im physikalischen Sinne voraus. Es genügt hierfür ebenso wie für die Erfüllung des in § 303 StGB aufgenommenen Straftatbestandes der Sachbeschädigung (vgl. dazu BGHSt 13, 207) und der Haftungsvoraussetzung der Beschädigung einer Sache in § 1 ProdHaftG eine Einwirkung auf die Sache, durch die ihre bestimmungsgemäße Brauchbarkeit nicht nur geringfügig beeinträchtigt wird (vgl. Rolland, Produkthaftungsrecht, § 1 ProdHaftG, Rn. 38; Taschner/Frietsch, Produkthaftungsgesetz und EG-Produkthaftungsrichtlinie, 2. Aufl., § 1 ProdHaftG, Rdn. 30).
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Ohne Einfluß auf die Bejahung der Eigentumsverletzung ist auch der Umstand, daß die Klägerin die Rohre bereits unmittelbar nach der Bearbeitung in die Eigentumswohnanlage einbaute und sie die dortige Wasserversorgungsanlage nicht selbst benutzen wollte (a.A. Brüggemeier, aaO).
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Entgegen der Ansicht der Revision scheidet eine rechtswidrige Eigentumsverletzung nicht schon deshalb aus, weil alle Gewindeschneidemittel einen öligen Geruch an das durchfließende Wasser abgeben. Der entscheidende Unterschied zu dem von der Beklagten vertriebenen Gewindeschneidemittel liegt darin, daß sich die Reste anderer Gewindeschneidemittel durch mehrmaliges Spülen mit einfachem Wasser aus den Rohrleitungen entfernen lassen, wobei es auf die Anzahl der Spülungen nicht ankommt, während die Rückstände des von der Beklagten vertriebenen Mittels schwer löslich waren und dem Spülwasser deshalb chemische Zusätze beigefügt werden mußten. Es kann daher auch der Ansicht der Streithelferin nicht gefolgt werden, daß die Klägerin notwendigerweise in eine derartige Eigentumsverletzung eingewilligt habe. Sie hat gerade nicht die Integrität der Rohre für eine solche Beeinträchtigung geopfert (vgl. Foerste, aaO, S. 911).
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b) Die Eigentumsverletzung hat bei der Klägerin ebenso wie in dem bereits entschiedenen Parallelfall aufgrund ihrer Inanspruchnahme durch die Bauträgerin zu einem Vermögensschaden geführt (vgl. auch Brüggemeier aaO; Schlechtriem aaO).
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2. Rechtlich nicht zu beanstanden ist auch die Auffassung des Berufungsgerichts, die Beklagte sei der Klägerin wegen der Beschädigung der Rohre unter dem Gesichtspunkt der Verletzung der Produktbeobachtungspflicht ersatzpflichtig.
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a) Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, daß die Beklagte schon deshalb, weil sie nicht nur eine Schlüsselstellung bei dem Vertrieb des Gewindeschneidemittels inne hatte, sondern sich in besonderer Weise durch ihr eigenes, aus ihrer Firmenbezeichnung abgeleitetes Produkt-Markenzeichen mit diesem Produkt identifiziert hat, eine eigenständige Produktbeobachtungspflicht traf. Sie hatte, wie der erkennende Senat in dem bereits erwähnten Parallelfall entschieden hat, zumindest die Pflicht zur Überprüfung von Beanstandungen des Produkts, die ihr zugeleitet wurden (sog. “passive Produktbeobachtung”; zustimmend Foerste, aaO; Schlechtriem, aaO; Fuchs, JZ 1994, 533, 540; Hoeren, WiB 1994, 198; im Hinblick auf die Quasi-Herstellereigenschaft auch Brüggemeier, aaO). Dieser rechtliche Ausgangspunkt wird auch von der Revision akzeptiert.
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b) Aus dieser Pflicht zur Überprüfung der Beanstandungen konnten für die Beklagte durchaus auch Verhaltenspflichten zur Abwendung drohender Produktgefahren entstehen. Den sog. Quasi-Hersteller trifft zwar grundsätzlich keine Herstellerverantwortung (vgl. Senatsurteil vom 7. Dezember 1993, aaO). Er muß aber, wenn ihm aufgrund der Produktbeobachtung bisher unbekannte Produktgefahren und -risiken bekannt werden bzw. schon wenn für ihn ein hinreichender Fehlerverdacht besteht, wie ein Hersteller für Gefahrenabwendung sorgen (vgl. Foerste, aaO).
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c) Das Berufungsgericht konnte aufgrund der von ihm getroffenen Feststellungen entgegen der Ansicht der Revision auch davon ausgehen, daß die Beklagte schuldhaft nicht alles Erforderliche und ihr Zumutbare zur Schadensverhütung getan hat.
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aa) Dieser Beurteilung hat das Berufungsgericht ersichtlich die Feststellung zugrunde gelegt, daß der Beklagten erste Beanstandungen, also mehrere Beschwerden dieser Art, bereits im Februar 1989 zugegangen sind und daß gegen sie im März 1989 aufgrund der Reklamationen ein Beweissicherungsverfahren eingeleitet wurde. Bei dieser Feststellung handelt es sich ungeachtet dessen, daß sie sich in den Entscheidungsgründen befindet, um eine Tatbestandsangabe, die schon in dem erstinstanzlichen Urteil enthalten war. Mit ihrer Verfahrensrüge, die sich allein auf ihr eigenes schriftsätzliches Vorbringen im ersten Rechtszug stützt, wonach es im Februar 1989 nur eine erste Beschwerde gegeben habe, und die nicht einmal das gegenteilige Vorbringen der Klägerin im Berufungsrechtszug beachtet, kann die Beklagte diese Feststellungen nicht angreifen. Eine etwaige Unrichtigkeit hätte sie nur im Wege der Tatbestandsberichtigung nach § 320 ZPO rügen können (vgl. Senatsurteil vom 7. Dezember 1993, aaO, m.w.N.).
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bb) Aus diesen tatsächlichen Gegebenheiten konnte das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei entnehmen, daß die Produktbeanstandungen ernst zu nehmen waren und daß die Beklagte verpflichtet war, unverzüglich die Großhändler auf die möglichen schädlichen Auswirkungen durch die Verwendung des Gewindeschneidemittels hinzuweisen. Diese Pflicht hatte die Beklagte spätestens im Oktober 1989, da zu diesem Zeitpunkt nach ihrem eigenen Vorbringen weitere Beschwerden bei ihr eingegangen waren, aber die Herstellerin untätig geblieben war. Es reichte nicht aus, daß die Beklagte, wie sie in der Klageerwiderung vorgetragen hat, im September 1989 noch eine Prüfung des Mittels bei der Forschungs- und Materialprüfungsstelle Baden-Württemberg vornehmen ließ. Spätestens ab Oktober 1989 konnte sich die Beklagte, wovon der erkennende Senat bereits im Urteil vom 7. Dezember 1993 (aaO) ausgegangen ist, nicht mehr mit den bisher von ihr getroffenen Maßnahmen beruhigen. Da die Beklagte als “oberste Vertriebshändlerin” in der Bundesrepublik und als Quasi-Herstellerin besonderes Vertrauen in Anspruch nahm, mußte sie wie ein Hersteller reagieren, durfte also nicht warten, bis sich der Fehlerverdacht zur Fehlergewißheit verdichtet hatte (vgl. Foerste, aaO). Sie mußte dann sogar, wie der erkennende Senat ebenfalls in dem Parallelverfahren entschieden hat, bis zum Abschluß ausreichender Überprüfungen den Vertrieb einstellen.
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cc) Mußte die Beklagte aber spätestens im Oktober 1989 gegenüber ihren Abnehmern auf die möglichen schädlichen Auswirkungen hinweisen und den Vertrieb einstellen, dann besteht schon ein Anscheinsbeweis dafür, daß im Dezember 1989 das Mittel nicht mehr an die Klägerin verkauft worden wäre. Damit war die schuldhafte Pflichtverletzung der Beklagten auch ursächlich für den Schaden der Klägerin. Davon geht ersichtlich auch das Berufungsgericht aus.