OLG Hamm, Urteil vom 25.02.2002 – 6 U 139/01
Zur Mithaftung des Tierhalters bei Verursachung eines Auffahrunfalls durch freilaufende Pferde
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das am 28. Mai 2001 verkündete Urteil der 6. Zivilkammer des Landgerichts Essen unter Zurückweisung des Rechts-mittels im übrigen teilweise abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger weitere 2.246,04 Euro zu zahlen.
Im übrigen bleibt die Klage abgewiesen.
Von den erstinstanzlichen Kosten tragen der Kläger 60 % und die Beklagte 40 %.
Von den zweitinstanzlichen Kosten tragen der Kläger 43 % und die Beklagte 57 %.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Den Parteien bleibt nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicher-heitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages abzu-wenden, wenn nicht die Gegenseite vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Die Sicherheit kann auch durch selbstschuldnerische Bürgschaft einer Großbank, Genossenschaftsbank oder öffentlichen Spar-kasse erbracht werden.
Die Revision der Beklagten gegen dieses Urteil wird zugelassen.
Beschwer der Parteien: Unter 5.000,00 Euro.
Gründe
1
Der Kläger begehrt Schadensersatz aus Anlaß eines Verkehrsunfalles, der sich am 18.10.2000 außerorts I ereignete. Dem Pkw VW des Zeugen I folgend befuhr er mit seinem Pkw Volvo gegen 6.15 Uhr die H-straße in südlicher Richtung. Bei Annäherung an die Unfallstelle bremste der Zeuge I seinen Pkw zunächst leicht ab. Kurz vor Erreichen der Zufahrt zum östlich der Straße gelegenen Bauernhof (I-hof) der Beklagten leitete der Zeuge I sodann eine Vollbremsung ein, weil zwei zu Erwerbszwecken gehaltene Pferde der Beklagten die Straße aus der Hofzufahrt kommend in westlicher Richtung überquerten. Trotz der Vollbremsung wurde eines der Tiere von der Front des VW noch erfaßt, lief jedoch sogleich weiter. Der Volvo des Klägers prallte mit der Front gegen das Heck des Pkw des Zeugen I.
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Der Kläger, der weiteren – vollen – materiellen Schadensersatz fordert, nachdem die Beklagte vorprozessual bereits 1/3 seines Schadens ausgeglichen hat, hat behauptet, er sei dem Pkw des Zeugen I bei einer Geschwindigkeit von 50 km/h in angemessenem Abstand gefolgt. Er hat den Standpunkt vertreten, mit einer Vollbremsung des Zeugen I habe er nicht rechnen müssen, zumal die dunklen Pferde der Beklagten, die aus einer Weide ausgebrochen seien, in der Dunkelheit nicht rechtzeitig wahrzunehmen gewesen seien.
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Die Beklagte hat ausgeführt, bei den Tieren habe es sich um Ponys gehandelt, die aus ungeklärter Ursache aus dem verschlossenen Stall entwichen seien. Sie hat gemeint, den Kläger treffe überwiegendes Eigenverschulden, weil er unaufmerksam oder mit unzureichendem Sicherheitsabstand gefahren sei. Durch die Berührung zwischen dem Pony, das unverletzt geblieben sei, und dem VW sei dem Kläger der Bremsweg nicht verkürzt worden.
4
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, weil der Unfall auf einem Verstoß des Klägers gegen § 4 StVO ruhe und die Beklagte daher nicht in einem die vorprozessuale Zahlung übersteigenden Umfange hafte.
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Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger. Er meint, die Beklagte müsse zumindest 4/5 seines Schadens übernehmen. Mit näheren Ausführungen legt er dar, daß ihn kein Unfallverschulden treffe.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, an ihn 7.687,54 DM nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz des Diskontsatz-Überleitungs-Gesetzes seit dem 01.02.2001 zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie verteidigt das angefochtene Urteil.
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Hinsichtlich des weiteren Vortrags der Parteien wird Bezug genommen auf die wechselseitigen Schriftsätze nebst Anlagen sowie Tatbestand und Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils.
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Die Bußgeldakte 097.92003.6 des Kreises S hat vorgelegen und ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
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Die Berufung hat zum Teil Erfolg.
1.
14
Gemäß § 833 BGB ist die Beklagte dem Kläger zu 60%igem Schadensersatz verpflichtet, so daß die Beklagte von dem Gesamtschaden des Klägers in Höhe von 16.473,31 DM 9.883,99 DM zu tragen hat. Hierauf sind 5.491,11 DM bereits gezahlt. Folglich waren dem Kläger weitere 4.392,88 DM = 2.246,04 Euro zuzuerkennen.
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Zwischen den Parteien steht außer Streit, daß die Voraussetzungen einer Haftung der Beklagten aus § 833 BGB vorliegen. Der Unfall vom 18.10.2000 wurde durch die Pferde, deren Halterin die Beklagte ist, ausgelöst. Es handelte sich um Ponys, die die Beklagte zu Erwerbszwecken einsetzte. Nach ihrem eigenen Vorbringen vermag sich die Beklagte von ihrem vermuteten Verschulden nicht gemäß § 833 Satz 2 BGB zu entlasten.
16
Dem Umfange nach ist die Haftung der Beklagten gegenüber dem Kläger jedoch auf 60 % beschränkt. Dies ergibt die Abwägung der Schadensverursachungsanteile gemäß § 17 Abs. 2 StVG.
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Auf Seiten der Beklagten war insoweit die Tiergefahr zu berücksichtigen, die von den beiden Ponys der Beklagten ausgegangen ist. Das lediglich gesetzlich vermutete Verschulden der Beklagten mußte außer Betracht bleiben, da bei der Abwägung gemäß § 17 StVG nur unstreitige und bewiesene Tatsachen Berücksichtigung finden dürfen. Es kann ferner nicht davon ausgegangen werden, daß die Beklagte das Ausbrechen der Tiere etwa selbst verschuldet hat. Nähere Umstände, was im einzelnen dazu geführt hat, daß die Pferde ausbrechen und unbeaufsichtigt umherlaufen konnten, sind nicht vorgetragen. Es fehlt daher an einem Sachverhalt, der nach den Grundsätzen über den Beweis des ersten Anscheins auf schuldhaftes Verhalten der Beklagten schließen läßt.
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Auf Seiten des Klägers war im Rahmen der Abwägung gemäß § 17 StVG die Betriebsgefahr des Pkw Volvo zu beachten. Diese war, wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, durch verkehrswidriges Verhalten des Klägers gesteigert. Der Kläger ist auf das Heck des vom Zeugen I gesteuerten Pkw VW aufgefahren. Bei diesem Schadenshergang spricht der Beweis des ersten Anscheins für Unfallverschulden des Klägers. Dieser hat entweder nicht den gemäß § 4 Abs. 1 StVO erforderlichen Abstand zum Pkw des Zeugen I eingehalten oder er hat auf das Bremsmanöver des Zeugen I durch Unachtsamkeit zu spät reagiert. Diesen Anscheinsbeweis vermag der Kläger nicht zu entkräften. Selbst wenn der Zeuge T bestätigen würde, daß der Kläger den gebotenen Sicherheitsabstand eingehalten habe, würde es bei dem Unaufmerksamkeitsverschulden bleiben.
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Allein die Tatsache, daß der Zeuge I eine Vollbremsung eingeleitet hat, entlastet den Kläger nicht. Ferner beruft sich der Kläger ohne Erfolg darauf, daß die Ponys in der Dunkelheit nicht frühzeitig zu sehen gewesen seien. Denn der Kläger mußte sich darauf einstellen, auch ohne sonstigen Hinweis auf eine Gefahrenlage rechtzeitig hinter dem Zeugen I anhalten zu können, sobald dessen Fahrzeug angehalten wurde.
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Schließlich vermag der Kläger den gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis nicht durch den Nachweis zu entkräften, daß ihm der Bremsweg verkürzt worden sei, weil der VW abrupt zum Stillstand gekommen sei. Unstreitig ist zwar, daß der VW des Zeugen I gegen eines der Tiere getroffen ist und dabei die Motorhaube verbeult worden ist. Diese Information genügt aber nicht als Anknüpfungstatsache für das beantragte Sachverständigengutachten, das ein abruptes Stehenbleiben des VW bestätigen soll. Dies gilt insbesondere auch deswegen, weil das Pferd nach dem Anstoß gegen den VW weitergelaufen und selbst nach dem Vortrag des Klägers nicht wesentlich verletzt worden ist.
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Entgegen der Auffassung der Beklagten fällt dem Kläger nicht zusätzlich zur Last, die im Unfallbereich zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h überschritten zu haben. Die Beklagte stellt zwar unter Beweis, daß die Frontschäden am Pkw des Klägers ergäben, daß der Kläger mit einer Differenzgeschwindigkeit von 20 km/h auf den Pkw des Zeugen I aufgefahren sei. Gleichwohl läßt sich auch in Verbindung mit der polizeilich festgestellten 9,6 m langen Bremsspur auf der Fahrbahn eine überhöhte Geschwindigkeit des Pkw des Klägers nicht nachweisen. Denn diese Spur stammte ausweislich des eigenen Berufungsvortrags der Beklagten nicht vom Pkw des Klägers sondern von demjenigen des Zeugen I.
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Abzuwägen waren die Tiergefahr, die von zwei Ponys ausgegangen ist, die in der Dunkelheit über die Straße liefen, einerseits, und die durch Anscheinsverschulden des Klägers gesteigerte Betriebsgefahr des Pkw andererseits. In der Regel ist davon auszugehen, daß die Tiergefahr auch bei leichtem Verschulden eines Geschädigten als Schadensverursachungsfaktor überwiegt (vgl. dazu OLG Köln VersR 2001, 1396, 1397; Hentschel, Straßenverkehrsrecht 36. Aufl., § 17 StVG Rn. 27 m.w.N.). Es erschien daher auch in der vorliegenden Sache angemessen, die Tiergefahr als Schadensverursachungsbeitrag etwas höher einzustufen als die Betriebsgefahr des Pkw. Der Senat erachtet eine 60%-ige Haftung der Beklagten als sachgerecht.
2.
23
§ 840 Abs. 3 BGB steht der (weiteren) Schadensersatzverpflichtung der Beklagten nicht entgegen. Direkt anwendbar ist diese Vorschrift auf den vorliegenden Fall nicht, weil sie unmittelbar nur den Ausgleich zwischen mehreren Gesamtschuldnern im Innenverhältnis regelt, die einem geschädigtem Dritten zum Ersatz verpflichtet sind. Aber auch für eine entsprechende Anwendung von § 840 Abs. 3 BGB auf das Rechtsverhältnis zwischen den Parteien dieses Rechtsstreits besteht kein Raum.
24
Allerdings ist in der Rechtsprechung anerkannt, daß die Regelung des § 840 Abs. 3 BGB nicht nur im Verhältnis mehrerer Schädiger untereinander, sondern nach ihrem Sinngehalt auch dann eingreift, wenn es im Rahmen der Verschuldenshaftung um den eigenen, von dem Tier mitverursachten Schaden des Tierhalters geht (vgl. BGH VersR 95, 90 = r + s 95, 44, 55 m. Anm. Lemcke = MDR 95, 42 = NJW-RR 95, 215 = NZV 95, 19; Senat NJW-RR 90, 794 = VersR 91, 676; OLG Schleswig NJW-RR 90, 470; ferner OLG Hamm OLGR 2001, 229, 231). Auf die hier zu entscheidende Haftungslage, die dadurch gekennzeichnet ist, daß der durch Eigenverschulden mitgeschädigte Kfz-Eigentümer die Tierhalterin ausschließlich aus § 833 BGB in Anspruch nehmen kann, läßt sich diese Rechtsprechung jedoch nicht übertragen. Insoweit ist zunächst einmal zu berücksichtigen, daß es sich bei § 17 Abs. 2 StVG um eine Spezialregelung zur Abwägung bei Ersatzansprüchen handelt, bei denen es um Schäden geht, die durch ein Kraftfahrzeug und ein Tier verursacht worden sind. Unabhängig davon gilt zur entsprechenden Anwendbarkeit von § 840 Abs. 3 BGB folgendes: Im gesetzlichen Regelungsbereich des § 840 Abs. 3 BGB bleibt das berechtigte Interesse der geschädigten Person am Ausgleich des eingetretenen Schadens unangetastet. Ebenfalls dann, wenn § 840 Abs. 3 BGB auf den Schadensersatzanspruch des ohne Eigenverschulden geschädigten Tierhalters gegen den aus § 823 Abs. 1 BGB haftenden Schädiger entsprechend angewendet wird, bleibt das berechtigte Interesse der geschädigten Person gewahrt. Ein völlig anderes Ergebnis würde jedoch erzielt, wenn § 840 Abs. 3 BGB auch auf den Anspruch eines Geschädigten Anwendung fände, der sich Eigenverschulden entgegenhalten lassen muß und der den Halter des für den Schadenseintritt ursächlich gewordenen Tieres mangels Nachweisbarkeit von Tierhalterverschulden ausschließlich aus § 833 BGB in Anspruch nehmen kann. Die originäre Haftung des Tierhalters würde in einem solchen Falle praktisch entfallen. Selbst bei schwersten Personenschäden würde der Geschädigte, auch wenn ihm nur leichtes Eigenverschulden zu Laste fiele, leer ausgehen. Vom Sinngehalt des § 840 Abs. 3 BGB, der von vollständiger Wahrung der Interessen geschädigter Personen ausgeht, wird ein solches Ergebnis nicht gedeckt. Eine entsprechende Anwendung von § 840 Abs. 3 BGB auf den vorliegenden Fall scheidet daher auch aus diesem Grunde aus (vgl. dazu auch Greger, StVG, 3. Aufl., 1997, § 16 StVG Rn. 214; Wussow/Terbille, UHR, 15. Aufl. Kap. 11 Tz. 74, 75). Nach der rechtlichen Wertung gebührt dem Geschädigten, nicht aber dem Schädiger vorrangiger Schutz.
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Vor dem Hintergrund der oben zitierten Rechtsprechung des BGH zur entsprechenden Anwendung von § 840 Abs. 3 BGB neben § 17 Abs. 2 StVG hat die vorliegende Sache grundsätzliche Bedeutung. Gemäß § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO hat der Senat daher die Revision der Beklagten zugelassen.
3.
26
Der Zinsanspruch des Klägers beruht auf §§ 286, 288 BGB.
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Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 92, 708 Nr. 10, 543 ZPO.