LG Hamburg, Urteil vom 07.09.2018 – 302 O 206/16
Zur Haftungsverteilung bei einem Verkehrsunfall im Zusammenhang mit der Überquerung einer Straße durch ein elfjähriges Kind
Tenor
1. Die Beklagten zu 2 und 3 werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 70.910,98 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 22.11.2016 zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagten zu 2 und 3 als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin ihre zukünftigen nicht absehbaren immateriellen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 08.12.2015 unter Berücksichtigung einer Haftungsquote von 30 % sowie ihre zukünftigen materiellen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 08.12.2015, insbesondere ihren zukünftigen Erwerbsschaden, in Höhe von 30 % zu ersetzen, soweit der Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen ist.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
4. Von den Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin 43 % und die Beklagten als Gesamtschuldner 57 % zu tragen mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 1, diese trägt die Klägerin.
5. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird zunächst auf 175.000,00 € und ab dem 06.08.2018 auf 105.000,00 € festgesetzt.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von den Beklagten Schmerzensgeld nach einem Verkehrsunfall.
Am 08.12.2015 befuhr die Beklagte zu 2 mit einem VW Passat mit dem amtlichen Kennzeichen…, haftpflichtversichert bei der Beklagten zu 3, die Straße A. Z. in H. in Richtung Zentrum. Das Fahrzeug stand im Eigentum und wurde gehalten von der D. E. UG, deren Geschäftsführerin die Beklagte zu 2 ist. Die Sonne stand tief und die Beklagte zu 2 hatte die Sonnenblende heruntergeklappt. Auf Höhe der Hausnummer… stand gegen 14.20 Uhr die am 13.10.2004 geborene Klägerin mit dem von ihr an einer Leine geführten Hund zunächst auf dem Bürgersteig, wo sie sich mit den Zeugen Y. B., R. B. und T. A. B. unterhielt. Sodann betrat die Klägerin aus Blickrichtung der Beklagten zu 2 von links kommend die Fahrbahn und kollidierte nach Überqueren der Gegenfahrbahn mit dem Fahrzeug der Beklagten zu 2. Die Klägerin blieb bewusstlos auf der Straße liegen, wo sie reanimiert werden musste, um dann mit einem Rettungshubschrauber ins Universitätsklinikum E. verbracht zu werden. Sie erlitt bei dem Unfall ein Polytrauma und zwar eine Subarachnoidalblutung bifrontal und eine diffuse axonale Verletzung, eine Os temporale Fraktur beidseitig, eine Mandibulafraktur beidseitig, eine Schambeinfraktur rechts, Lungenkontusionen beidseitig, ein Hirnödem, eine arterielle Hypertonie, eine Tetraparese rechts > links und eine Arnisokorie rechts >links. Vom 08. bis 21.12.2015 wurde die Klägerin auf der Kinderintensivstation des U. behandelt, wobei am 09.12.2015 eine Kraniektomie bifrontal durchgeführt und eine ICP-Sonde gelegt wurde. Es folgten eine kieferchirurgische Operation sowie eine Chemotherapie zur Behandlung einer Infektion. Im Anschluss an die Behandlung der Klägerin im U. wurde sie die H. Klinik in G. weiterbehandelt, am 29.02.2016 erfolgte eine kurzzeitige Rückverlegung ins U. zur Durchführung einer Kieferoperation. Der Klägerin wurde ferner eine künstliche Schädeldecke eingesetzt. Trotz Verbesserung ihres Allgemeinzustandes wird sie körperlich und geistig schwerstbehindert bleiben.
Mit Schreiben vom 14.06.2016, vorgelegt als Anlage K 3, lehnte die Beklagte zu 3 eine Regulierung ab.
Die Klägerin trägt vor, die Beklagte zu 2 sei angesichts der tief stehenden Sonne mit nicht angepasster Geschwindigkeit gefahren und ist weiter der Auffassung, dass die Beklagte zu 2 gegenüber der Klägerin, einem im Zeitpunkt des Unfalls 11-jährigen Kind, zu einer erhöhten Aufmerksamkeit verpflichtet gewesen sei. Ferner sei sie, die Klägerin, gemäß § 828 Abs. 3 BGB privilegiert.
Nachdem die Klägerin zunächst beantragt hat, neben den Beklagten zu 2 und 3 auch den Beklagten zu 1 zu verurteilen, an sie ein Schmerzensgeld in Höhe von 125.000,00 € zu zahlen und eine Verpflichtung zum Ersatz von 50 % der zukünftigen, nicht absehbaren materiellen und immateriellen Schäden festzustellen, hat sie die Klage gegen den Beklagten zu 1 vollständig und hinsichtlich der Beklagten zu 2 und 3 teilweise zurückgenommen. Sie beantragt nunmehr,
1. die Beklagten zu 2 und 3 als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie ein angemessenes, in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, mindestens jedoch 75.000,00 €, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit der Klage zu zahlen,
2. festzustellen, dass die Beklagten zu 2 und 3 als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin zukünftige, nicht absehbare materielle und immaterielle Schäden, die ihr aus dem Verkehrsunfall vom 08.12.2015 noch entstehen werden, in Höhe von 30 % zu ersetzen,
3. festzustellen, dass die Beklagten zu 2 und 3 als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin ihren zukünftigen Erwerbsschaden, der ihr aus dem Verkehrsunfall vom 08.12.2015 noch entstehen wird, in Höhe von 30% zu ersetzen.
Die Beklagten beantragen,
die Klage abzuweisen.
Sie tragen vor, hinter dem erheblichen Verursachungsbeitrag der Klägerin trete die Betriebsgefahr des bei der Beklagten zu 3 versicherten Fahrzeugs vollständig zurück.
Das Gericht hat die Beklagte zu 2 sowie die Mutter der Klägerin, Frau S., persönlich angehört und hat Beweis erhoben durch Vernehmung der T., Y. und R. B. sowie K. E. als Zeugen. Das Gericht hat über den Unfallhergang ein unfallanalytisches Sachverständigengutachten eingeholt. Die Ermittlungsakte zum Aktenzeichen… ist beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden.
Hinsichtlich des weiteren Vortrags der Parteien wird auf die wechselseitigen Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
Gründe
I.
Die zulässige Klage ist überwiegend begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagten zu 2 und 3 aus §§ 7 Abs. 1, 11, 18 StVG, §§ 253 Abs. 2, 842 BGB, hinsichtlich der Beklagten zu 3 i.V.m. § 115 VVG, einen Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld sowie die Feststellung einer Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz von zukünftigen unfallbedingten Schäden im tenorierten Umfang.
1. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Verkehrsunfall auf ein fahrlässiges Verhalten der Klägerin zurückzuführen ist, das im Rahmen einer Abwägung nach §§ 9 StVO, 254 BGB als Mitverschulden zu berücksichtigen ist. Demgegenüber ist mangels Nachweis eines Verkehrsverstoßes die Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Beklagten zu 2 zu berücksichtigen.
a. Einen Verkehrsverstoß der Beklagten zu 2 hat die Klägerin nicht beweisen können. Betriebsgefahrerhöhende Umstände können bei der Schadensabwägung zu Lasten eines Unfallbeteiligten nur dann berücksichtigt werden, wenn sie feststehen, d.h. wenn sie unstreitig, zugestanden oder nach § 286 ZPO bewiesen sind und wenn sie sich auf den Unfall ausgewirkt haben, also unfallursächlich geworden sind (BGH Urt.v. 26.04.2005, VI ZR 228/03 m.w.N.).
Es steht nicht fest, dass die Beklagte zu 2 mit überhöhter Geschwindigkeit oder unaufmerksam gefahren ist und damit gegen § 3 Abs. 1, § 1 Abs. 2 StVO verstoßen hat. Nach dem ausführlichen und plausibel begründeten Sachverständigengutachten des Sachverständigen W. lässt sich nicht nachweisen, dass die Beklagte zu 2 die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h überschritten hat. Der Sachverständige hat gemäß den Vorgaben des Gerichts im Beweisbeschluss vom 17.03.2017 seiner Begutachtung zu Grunde gelegt, dass die – unstreitige – Unterhaltung der Klägerin mit der Familie B. maximal eine Minute lang gedauert und die Klägerin dabei mittig auf dem Gehweg gestanden hat und dann zügig auf geradem Weg über die Straße gelaufen ist. Hiervon ist das Gericht nach den übereinstimmenden Angaben der Zeugen B. sowie der Mutter der Klägerin überzeugt. Soweit der Zeuge E. die Klägerin als unmittelbar vom Grundstück aus kommend wahrgenommen hat, stehen diese Angaben dem nicht entgegen, denn der Zeuge hat zugleich bekundet, sich auf den Verkehr aus einer Querstraße konzentriert und auch das Fahrzeug der Beklagten zu 2 vor dem Unfall nicht wahrgenommen zu haben. Daraus folgt für das Gericht, dass der Zeuge in dem Zeitpunkt der Unterhaltung der Klägerin auf dem Gehweg nicht auf diese geachtet hat.
Im Rahmen seiner Ausführungen zur Vermeidbarkeit hat der Sachverständige klar herausgearbeitet, dass sie im Zeitpunkt der vom Gericht vorgegebenen Reaktionsaufforderung im Zeitpunkt des Betretens der Fahrbahn durch die Klägerin in der für die Beklagte zu 2 günstigen Variante noch rund 16 m von der Kollisionsstelle entfernt gewesen ist und damit den Verkehrsunfall nicht vermeiden konnte. Bei der Bemessung der Reaktionsaufforderung hat sich das Gericht davon leiten lassen, dass ein Autofahrer zwar bei einem 11-jährigen Kind nicht damit rechnen muss, dass es unmittelbar die Straße betritt, er aber, sobald das Kind dies wider Erwarten dennoch tut, damit rechnen muss, dass es seine Überquerung der Straße fortsetzt und nicht etwa an der Mittellinie anhält, um den Verkehr zunächst passieren zu lassen. Angesichts der Last der Klägerin, einen für die Beklagte zu 2 zu berücksichtigenden Verkehrsverstoß zu beweisen, hat das Gericht bei der Prüfung die für die Beklagten günstige Variante zu Grunde zu legen, bei der, wie ausgeführt, der Unfall für die nicht vermeidbar gewesen ist.
Der Beklagten zu 2 ist auch kein Verstoß gegen § 3 Abs. 2a StVO vorzuhalten, der anordnet, als Fahrzeugführer gegenüber Kindern insbesondere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft ihre Gefährdung auszuschließen. Bei einem elfjährigen Kind muss ein Autofahrer, wenn nicht weitere Umstände hinzutreten, nicht damit rechnen, dass es ohne weiteres die Straße betritt. Dies gilt auch, wenn es einen Hund mit sich führt. Auffälligkeiten wie zum Beispiel bei einem Kind, das sich die Schuhbänder richtet, um dann auf die Straße zu laufen oder das erkennbar Kontakt zu einem anderen Kind auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufgenommen hat, sind vorliegend nicht gegeben. Insoweit wird Bezug genommen auf die zahlreichen Rechtsprechungshinweise in Hentschel/König/Dauer, § 9 StVG Rn 12a, § 25 StVO, Rn 26 und § 3 Rn 29c. Im vorliegenden Fall musste die Beklagte zu 2, da die Klägerin vor dem Überqueren der Straße ein Gespräch mit den Zeugen B. geführt hat, erst recht nicht allein angesichts des Umstands, dass die Klägerin auf dem Gehweg stand, mit einem Überqueren der Straße rechnen und ihre Geschwindigkeit entsprechend reduzieren.
b. Es bleibt indes bei der Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Beklagten zu 2.
Ein Fall der höheren Gewalt im Sinne von § 7 Abs. 2 StVG liegt nicht vor. Höhere Gewalt ist ein betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch die äußerste nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit vom Betriebsunternehmer hinzunehmen ist. Diese Voraussetzungen, die der Gesetzgeber mit dem Ziel, die Halterhaftung gerade zugunsten von Kindern auszudehnen (BT-Drs. 14/7752 S. 30), eng gefasst hat, haben die Beklagten nicht dargetan.
Die Beklagte zu 2 hat den Entlastungsbeweis des § 18 StVG nicht zu führen vermocht. § 18 Abs. 1 S. 2 StVG vermutet ein Verschulden des Fahrers mit der Folge, dass die Beklagte zu 2 als von der Halterin verschiedene Fahrerin des Fahrzeugs den Beweis fehlenden Verschuldens führen muss. Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen lag die Geschwindigkeit der Beklagten zu 2 in der für sie ungünstigen Variante, die aufgrund der Beweislast zugrunde zu legen ist, bei maximal 76 km/h und der Unfall wäre für sie räumlich klar vermeidbar gewesen.
c. Die Klägerin hat durch das unaufmerksame Überqueren der Straße erheblich zu dem Verkehrsunfall beigetragen, §§ 9 StVG, 254 BGB.
Ihr ist ein Verstoß gegen § 25 Abs. 3 StVO vorzuwerfen. Danach haben Fußgänger Fahrbahnen unter Beachtung des Fahrzeugverkehrs zügig auf dem kürzesten Weg quer zur Fahrtrichtung zu überschreiten. Ein Fußgänger muss beim Überqueren einer Fahrbahn, auf der der Fahrzeugverkehr grundsätzlich Vorrang hat, besondere Vorsicht walten lassen. Zu dieser Sorgfalt gehört insbesondere, sich umzusehen und sich zu vergewissern, dass sich kein Fahrzeug nähert (KG NZV 2003, 483). Er muss an nicht besonders vorgesehenen Überquerungsstellen auf den bevorrechtigten Verkehr Rücksicht nehmen und bei Annäherung von Fahrzeugen warten. Er darf insbesondere nicht versuchen, noch kurz vor einem herannahenden Fahrzeug die Straße zu überqueren (BGH Urt.v. 27.06.2000 VI ZR 126/99 m.w.N.).
Diesen Anforderungen hat die Klägerin nicht genügt. Sie hat, ohne ausreichend auf den Fahrzeugverkehr zu achten, die Straße überquert. Angesichts der gut einsehbaren Straßen mit geradem Verlauf muss das sich nähernde Fahrzeug der Beklagten zu 2 für die Klägerin auch sichtbar gewesen sein.
Der Berücksichtigung dieses Verkehrsverstoßes im Rahmen der Abwägung steht § 828 Abs. 3 BGB nicht entgegen. Die Klägerin war im Zeitpunkt des Unfalls elf Jahre alt und unterfällt damit der Regelung des § 828 Abs. 3 BGB, nach der ein Minderjähriger nach Vollendung des 10. und vor Vollendung des 18. Lebensjahres für den Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich ist, wenn er bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs besitzt derjenige die zur Erkenntnis seiner Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht im Sinne dieser Vorschrift, der nach seiner individuellen Verstandesentwicklung fähig ist, das Gefährliche seines Tuns zu erkennen und sich der Verantwortung für die Folgen seines Tuns bewusst zu sein. Auf die individuelle Fähigkeit, sich dieser Einsicht gemäß zu verhalten, kommt es insoweit nicht an (BGH, Urteil vom 21. 12. 2004 – VI ZR 276/03, NJW-RR 2005, 327, beck-online, m.w.N.). Die Darlegungs- und Beweislast für das Fehlen der Einsichtsfähigkeit trägt der in Anspruch genommene Minderjährige, denn nach der sprachlichen Fassung von § 828 Abs. 3 BGB wird die Einsichtsfähigkeit widerlegbar vermutet (Palandt-Sprau, 77. Auflage 2018, § 828 Rn. 6, BGH a.a.O.).
Dass der Klägerin diese Einsichtsfähigkeit fehlte, hat sie nicht dargetan. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, weshalb ihre Einsichtsfähigkeit, die zum Zeitpunkt des Unfalls mit guten Leistungen ein Gymnasium besuchte, zu relativieren sei.
Der Klägerin ist bei der Überquerung der Straße ein einfach fahrlässiges Verschulden vorzuwerfen, grob fahrlässig hat sie nicht gehandelt:
Während der Maßstab der Fahrlässigkeit nach § 276 Abs. 2 BGB ausschließlich nach objektiven Kriterien der von allen Verkehrsteilnehmern zu beachtenden Sorgfalt zu bestimmen ist, setzt die grobe Fahrlässigkeit auch in subjektiver Hinsicht ein gegen die Person des Handelnden gerichtetes Unwerturteil voraus. Demnach können subjektive Besonderheiten den schweren Vorwurf der groben Fahrlässigkeit entkräften (BGHZ 119, 147 [149] = NJW 1992, 2418; NJW 2007, 2988 = MDR 2007, 1367, Grundmann, in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl., § 276 Rdnrn.?95, 104?ff.; Palandt/Grüneberg, BGB, 77. Aufl., § 277 Rdnr.?5).
Geht es um die Verantwortlichkeit von Kindern und Jugendlichen, sind die gesetzlichen Vorgaben der §§ 828 Abs. 2 und 3 BGB zu beachten: Während ein Kind bis zur Vollendung des zehnten Lebensjahres für einen Schaden, der auf einer unzureichenden Einschätzung der Verkehrssituation beruht, nur bei vorsätzlicher Tatbegehung verantwortlich ist, scheidet eine Verantwortlichkeit bei älteren Kindern, wie bereits ausgeführt, aus, wenn dem Kind oder Jugendlichen die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht fehlt (§ 828 Abs. 3 BGB). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die kindlichen Eigenheiten, insbesondere die jungen Menschen wesenseigene Impulsivität, mangelnde Konzentrationsfähigkeit und gruppendynamisches Verhalten, welche bei der typisierenden Betrachtungsweise des § 828 Abs. 2 BGB Kinder unter zehn Jahren an der hinreichenden Einschätzung der aus dem Straßenverkehr resultierenden Gefahren hindert, nicht gewissermaßen punktuell mit dem Erreichen des zehnten Lebensjahres abgestellt werden. In Anbetracht dessen hat der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit selbst bei elementaren Verkehrsverstößen auch im Anwendungsbereich des § 828 Abs. 3 BGB die altersbedingte Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen einzubeziehen.
Für den vorliegenden Fall bedeutet dies: Der Vorrang des Straßenverkehrs gegenüber dem die Straße querenden Fußgänger gehört zu den elementaren Verkehrsvorschriften, die ein elfjähriges Kind, welches am öffentlichen Straßenverkehr teilnimmt, beherrschen muss. Dies gilt insbesondere, wenn die Verkehrssituation – wie im vorliegenden Fall – deutlich erkennbar ist: Die Beklagte zu 2 befuhr die bevorrechtigte Straße und der Klägerin war ihre Verpflichtung, den Fahrzeugverkehr passieren zu lassen, auch durchaus bewusst. Zwar konnte sie das Gericht aufgrund ihres Gesundheitszustands zu diesem Aspekt nicht anhören, das Gericht ist aber nach der Anhörung der Mutter der Klägerin überzeugt, dass sie sich vor dem Betreten der Straße nach rechts und links umgesehen hat. Dies hat die Mutter im Rahmen ihrer Anhörung plausibel geschildert, die vom Fenster aus eine gute Sicht auf die zunächst auf dem Gehweg stehende und sich mit Nachbarn unterhaltende Klägerin hatte. Aus diesem Verhalten schließt das Gericht, dass der Klägerin ihre Wartepflicht auch bewusst war. Dass sie zunächst auf dem Gehweg gestanden und sich mit den Zeugen B. etwa eine Minute lang unterhalten hat, haben die Zeugen übereinstimmend und nachvollziehbar geschildert und wird auch nicht in Abrede genommen. Danach ist nicht bewiesen, dass die Klägerin gewissermaßen blindlings und ohne Halt über die Straße gerannt wäre. Vielmehr ist unter Berücksichtigung der Grundsätze zur Verteilung der Darlegungs- und Beweislast zu Gunsten der Klägerin davon auszugehen, dass sie zwar nach rechts und links geblickt, aber beim Beobachten der Verkehrslage nicht die gebotene Umsicht walten ließ. Ein solcher Sorgfaltsverstoß wiegt weniger schwer: Die Verkennung der wahren Verkehrslage, insbesondere die fehlerhafte Einschätzung von Geschwindigkeiten und Abständen, ist geradezu ein Merkmal der noch in ihrer Entwicklung befindlichen eingeschränkten jugendlichen Wahrnehmungsfähigkeit. Bei zusammenfassender Würdigung ist der zum Zeitpunkt des Unfalls erst elf Jahre alten Klägerin lediglich ein einfach fahrlässiger Verkehrsverstoß vorzuwerfen.
Angesichts dessen hält das Gericht eine Quote von 70:30 zulasten der Klägerin für angemessen, deren Verursachungsbeitrag nicht gewichtig genug ist, um die Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Beklagten vollständig zurücktreten zu lassen. Bei dieser Abwägung berücksichtigt das Gericht durchaus, dass das Verschulden eines Jugendlichen so schwer wiegen kann, dass dahinter die einfache Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs zurücktritt; in der Regel wird sie aber, insbesondere bei jüngeren Jugendlichen, nicht voll zurücktreten (OLG Stuttgart, Urt. v. 9.3.2017 – 13 U 143/16, NJW-RR 2017, 1057, OLG Karlsruhe, Urt. v. 20.?6. 2012 ? 13 U 42/12, NJW 2012, 3042, OLG Saarbrücken, Urt. v. 24. 4. 2012 – 4 U 131/11-40, NZV 2012, 483, jeweils beck-online, Heß in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker, StraßenverkehrsR, § 9 StVG Rn. 16 mwN).
Vielmehr ist dafür ein grob verkehrswidriger und zudem altersspezifisch auch objektiv besonders vorwerfbarer Verkehrsverstoß erforderlich (so auch BGH NJW 2004, 772 = NZV 2004, 187 mwN), an dem es vorliegend bei der im Zeitpunkt des Unfalls elfjährigen Klägerin, die also gerade erst die Grenze des § 828 Abs. 2 BGB überschritten hatte, fehlt.
Im Rahmen der Abwägung darf der Zweck der Gefährdungshaftung nicht aus dem Blick geraten: Sinn der Haftung aus Betriebsgefahr ist es, die besonderen Gefahren des Straßenverkehrs auszugleichen. So weist der BGH in seiner Entscheidung vom 13.?02.1990, VI ZR 128/89 (NJW 1990, 1483, beck-online) darauf hin: „Kinder sind durch den Betrieb von Kraftfahrzeugen wegen der fehlenden Eingewöhnung und Erfahrung im Straßenverkehr erheblich stärker gefährdet als Erwachsene. Entsprechend dem Haftungszweck der Gefährdungshaftung muss daher die Haftung für die Betriebsgefahr auch dieses bei Kindern erhöhte Risiko auffangen. In diesem Sinn ist der Umstand, dass ein Kind durch sein verkehrswidriges Verhalten mit zu dem Unfall beigetragen hat, haftungsrechtlich der Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs zuzuordnen, wenn und soweit sich darin altersgemäß der Lern- und Eingewöhnungsprozess in die Gefahren des Straßenverkehrs niederschlägt. (…). Aus diesem Grund kann bei der Abwägung nach § 9 StVG, § 254 BGB der Betriebsgefahr des an dem Unfall beteiligten Kraftfahrzeugs haftungsentlastend nicht in derselben Weise, wie das für ein Mitverschulden von erwachsenen Verkehrsteilnehmern zu geschehen hätte, das verkehrswidrige Verhalten des geschädigten Kindes gegenübergestellt werden. Soweit sich in dessen Unfallbeitrag altersgemäße Defizite der Integrierung in den Straßenverkehr und seine Gefahren auswirken, stellt dieser Beitrag auch dann nicht von der Haftung nach § 7 StVG frei, wenn er objektiv als grob verkehrswidrig erscheint und deshalb, wäre ein Erwachsener geschädigt worden, die Haftung für den Halter entfallen lassen würde.“
2. Die Klägerin hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf ein Schmerzensgeld. Neben den Anspruch des Verletzten auf Ausgleich von erlittenen Vermögensschäden tritt als selbstständiger Anspruch ein Anspruch auf Schmerzensgeld gemäß § 253 Abs. 2 BGB. Nach dieser Vorschrift kann auch wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden, wenn wegen der Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadensersatz zu leisten ist. Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes sind u.a. das Ausmaß und Schwere der Verletzung und der Schmerzen, die Dauer der Behandlung und das Alter der Verletzten zu berücksichtigen.
Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes sind u.a. das Ausmaß und Schwere der Verletzung und der Schmerzen, die Dauer der Behandlung und das Alter der Verletzten zu berücksichtigen.
Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass die Klägerin bei dem Unfall schwer verletzt worden ist und eine dauerhafte Beeinträchtigung verbleiben wird. Angesichts des erheblichen Verursachungsbeitrags der Klägerin hält das Gericht ein Schmerzensgeld in Höhe von 75.000,00 € für angemessen.
Anlass, das Schmerzensgeld aufgrund eines zögerlichen Regulierungsverhaltens zu erhöhen, besteht hier nicht. Zwar ist anerkannt, dass eine ungebührliche Verzögerung der Schadensregulierung durch den Schädiger oder dessen Versicherer zur Genugtuung des Geschädigten Ersatzpflichten auslösen kann, die über das bloße Kompensationsinteresse hinausgehen. Das setzt jedoch voraus, dass sich der Schuldner einem erkennbar begründeten Anspruch ohne schutzwürdiges Interesse widersetzt, etwa indem er sich einer Sachaufklärung versagt (OLG Naumburg, Urt. v. 28. 11. 2001 – 1 U 161/99, NJW-RR 2002, 672, beck-online) oder dauerhaft in Passivität verharrt, selbst wenn eine Haftung bereits dem Grunde nach gerichtlich attestiert ist (OLG Naumburg, Urt. v. 15.10.2007 – 1 U 46/07, BeckRS 2007, 19559, beck-online). In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass die Erhöhung des Schmerzensgelds keinen Sanktionscharakter besitzen darf, sondern nur dann gerechtfertigt ist, wenn die verschleppte Zahlung die Gläubigerinteressen beeinträchtigt – beispielsweise dadurch, dass der Geschädigte unter der langen Dauer der Schadensregulierung leidet oder der vorenthaltenen Mittel zu einer adäquaten Lebensführung bedarf (OLG Saarbrücken, Urt. v. 27. 7. 2010 ? 4 U 585/09, NJW 2011, 933, beck-online). Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben. Angesichts des von der Polizei bei der D. eingeholten Sachverständigengutachtens durfte der vorgerichtlichen Beurteilung der Haftung die fehlende Vermeidbarkeit des Unfalls durch die Beklagte zu 2 zugrunde gelegt werden. Es ist nicht zu beanstanden, dass zunächst abgewartet werden sollte, ob die Betriebsgefahr des Fahrzeugs hinter einem weit überwiegenden Verschulden der Klägerin vollständig zurücktritt. Dass nunmehr inzwischen fast 3 Jahre seit dem Unfall vergangen sind, ist auch auf die zeitaufwendige Beweisaufnahme durch Einholung des Sachverständigengutachtens zurückzuführen.
Die Klägerin ist von der Eigentümerin und Halterin des Fahrzeugs, das bei der Kollision beschädigt worden ist, auf Ersatz der an dem Fahrzeug entstandenen Schäden in Anspruch genommen worden. Nachdem die Klägerin in jenem vor derselben Kammer geführten und gemeinsam mündlich verhandelten Parallelverfahren zum Az. 302 O 283/16 mit ihrer Schmerzensgeldforderung gegen den dort geltend gemachten Anspruch hilfsweise die Aufrechnung erklärt hat, ist der Anspruch in Höhe der im Parallelverfahren berechtigten Schadensersatzforderung von 3.728,32 € sowie der vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 360,70 € erloschen, § 389 BGB. Die Klägerin kann mithin noch 70.910,98 € ersetzt verlangen.
3. Die Feststellungsanträge der Klägerin sind ebenfalls im tenorierten Umfang begründet. Angesichts der weitreichenden Verletzungen der Klägerin sind weitere, derzeit nicht absehbarere immaterielle sowie materielle Schäden nicht auszuschließen, deren Ersatz die Klägerin in Höhe der Haftungsquote von 30 % wird ersetzt verlangen können, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergangen sind. Hiervon umfasst ist insbesondere ein Erwerbsschaden, der bereits von dem Klagantrag zu 2 umfasst ist und von der Klägerin mit dem Feststellungsantrag zu 3 lediglich klarstellend, wie sie in der letzten mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, beantragt wird. Angesichts dessen legt das Gericht den Antrag zu 2 auch dahin aus, dass sich die Einschränkung auf nicht absehbare Schäden lediglich auf die immateriellen Schäden bezieht, nicht aber auf die materiellen Schäden und der Antrag lediglich grammatikalisch ungenau formuliert wurde.
4. Die Klägerin kann, wie in der letzten mündlichen Verhandlung beantragt, Prozesszinsen ab Zustellung der Klagschrift, mithin dem 22.11.2016 verlangen.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs.1, 269 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 709 ZPO.