Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 16. August 2019 – 11 U 87/16
Ein Unternehmer verletzt seine Verkehrssicherungspflichten auch gegenüber seinen Kunden, wenn er in einem als Einkaufszentrum genutzten Gebäude die Technischen Regeln für Arbeitsstätten (ASR) nicht einhält. Da das Gebäude auch von den Angestellten der in dem Gebäude befindlichen Geschäfte genutzt wird, müssen die Wege entsprechend ausgestaltet sein, so dass auch der „normale“ Besucher mit einer derartigen, den Vorschriften der Arbeitssicherheit entsprechenden Gestaltung rechnen darf. Den Verletzten trifft jedoch ein seinen Anspruch minderndes Mitverschulden gemäß § 254 Abs. 1 BGB, wenn die Unfallstelle grundsätzlich erkennbar war und bei einem sorgfältigen, auf den Boden gerichteten Blick ein Sturz vermeidbar gewesen wäre.(Rn.17)
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil der Einzelrichterin der 3. Zivilkammer des Landgerichts Flensburg vom 21. Juni 2016 geändert und – unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen – wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 4.000,00 € sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 413,64 € jeweils nebst 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 18.05.2015 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger 60 % und die Beklagte 40 % zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I.
1
Der Kläger begehrt mit seiner Klage Schmerzensgeld von der Beklagten.
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Am 03.05.2014 stürzte der damals 74-jährige Kläger in der sog. „Alten Tonnenhalle“ in L.. auf S…, deren Eigentümerin die Beklagte ist. In dem Gebäude befinden sich nach einem Umbau verschiedene Geschäfte. Einige davon liegen auf den Längsseiten des als Galerie gestalteten Obergeschosses. Die beiden Galerien sind durch Brückenübergänge verbunden. Der Übergang, an dem der Kläger zu Fall kam und sich eine Schenkelhalsfraktur zuzog, hatte ein 13 cm höheres Niveau als der Boden der Galerie und war an Front und Auftrittsfläche mit einer silberfarbenen Metallplatte mit geprägter Riffelung belegt.
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Der Kläger ist der Meinung, die Beklagte habe ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt, weil die Stufe nicht ausreichend kenntlich gemacht gewesen sei. Er hält wegen der erlittenen Verletzung und der von ihm behaupteten, als Folge des Unfalls dauerhaft verbleibenden Beinverkürzung ein Schmerzensgeld von mindestens 10.000,00 € für angemessen. Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten.
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Das Landgericht hat nach persönlicher Anhörung des Klägers und Vernehmung der Ehefrau als Zeugin die Klage abgewiesen. Zum einen liege keine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht vor, denn die Stufe sei ausreichend erkennbar gewesen. Zum anderen stehe nicht fest, dass der Kläger wegen der Stufe gestürzt sei. Zudem treffe den Kläger ein Mitverschulden.
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Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Berufung, mit der er seinen Klagantrag weiterverfolgt. Zu Unrecht habe das Landgericht nicht für erwiesen erachtet, dass der Kläger auf Grund der Stufe gestürzt sei. Auf die vom Gericht ins Feld geführten anderen theoretischen Ursachen könne es nicht ankommen. Der Zustand sei nicht baurechtskonform gewesen; er habe nicht den Anforderungen der DIN 18040 entsprochen. Die Beklagte habe den Übergang nach dem Unfall auch anders gestaltet und die Stufe entfernt. Außer Acht gelassen habe das Landgericht, dass der Kläger unmittelbar nach Verlassen des erleuchteten Reisebüros auf die nur ca. 1,40 m entfernte Stufe getroffen sei.
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Der Kläger beantragt,
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in Abänderung des Urteils angefochtenen Urteils die Beklagte zu verurteilen,
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1. an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld – mindestens aber 10.000 € – sowie
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2. vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 887,03 €
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jeweils nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie verteidigt das landgerichtliche Urteil.
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Der Senat hat zu der Behauptung einer dauerhaften Beinverkürzung ein schriftliches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. H… eingeholt, auf das wegen seines Inhalts verwiesen wird.
II.
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Die zulässige Berufung hat teilweise Erfolg. Die Beklagte ist verpflichtet, an den Kläger wegen des Unfalls vom 03.05.2014 ein Schmerzensgeld in Höhe von 4.000,00 € zu zahlen.
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Dieser Anspruch ergibt sich aus § 823 BGB wegen Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht oder aus §§ 280, 241 Abs. 2, 311 BGB wegen der Verletzung von Sorgfaltspflichten im Rahmen der durch den Besuch der Tonnenhalle entstandenen Sonderverbindung der Parteien. Unterschiede ergeben sich dadurch regelmäßig (vgl. Palandt-Sprau, 75. Aufl., § 823 Rn. 49, Palandt-Grüneberg, § 241 Rn. 7) und auch hier nicht.
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Die Beklagte hat die ihr als Eigentümerin obliegende Verkehrssicherungspflicht verletzt. Derjenige, der in seinem Verantwortungsbereich für Dritte eine Gefahrenlage schafft, hat im Rahmen des ihm Zumutbaren die allgemeine Pflicht, diejenigen Vorkehrungen zu treffen, die erforderlich sind, um die Schädigung Dritter möglichst zu verhindern. Eine solche Gefahrenlage besteht dann, wenn zu erwarten ist, dass der Dritte eine Gefahr nicht erkennen wird und sich deshalb nicht darauf einstellen kann. Maßgeblich sind die Umstände des Einzelfalles.
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Soweit der Kläger auf die DIN 18065 bzw. DIN 18040 hinweist und daraus die Verpflichtung der Beklagten zur anderen Gestaltung des Übergangs herleiten will, folgt ihm der Senat nicht. Diese Regeln gelten nur für Treppen, um die es sich bei einer einzelnen Stufe nicht handelt (vgl. auch die Definition in Ziff. 3.7 und 3.8. ASR A1.8, Technische Regeln für Arbeitsstätten).
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Die Verpflichtung zur anderweitigen Gestaltung des Übergangs ergibt sich allerdings bereits aus den oben dargelegten allgemeinen Erwägungen. In der als Einkaufszentrum genutzten Tonnenhalle gilt, dass Laufwege innerhalb von Gebäuden nicht durch einzelne Stufen unterbrochen werden dürfen. Höhenunterschiede sind primär durch Schrägrampen zu überwinden. Wenn das nicht möglich ist, sind die Stufen zu kennzeichnen. Dies ergibt sich für Arbeitsstätten aus ASR A1.8 Ziff. 4.2. Abs. 3 und ASR A1.3 Ziff. 5.2. Zwar ist der Kläger dort nicht Arbeitnehmer gewesen, so dass die zitierten Regeln nicht seinen Schutz bezwecken. Da die Übergänge aber auch von den Angestellten der in dem Gebäude befindlichen Geschäfte genutzt werden, müssen die Wege entsprechend ausgestaltet sein. Damit kann auch der „normale“ Besucher im Prinzip mit einer derartigen, den Vorschriften der Arbeitssicherheit entsprechenden Gestaltung rechnen.
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Eine diesen Regeln entsprechende Gestaltung des Überganges lag nicht vor. Der Übergang, den der Kläger nutzte, begann – anders als derjenige am anderen Ende des Gebäudes – mit einer einzelnen Stufe von 13 cm, die nicht besonders gekennzeichnet war. Die geriffelte, metallene Oberfläche hob sich nicht deutlich von der übrigen Fläche, insbesondere nicht gut von dem grauen Bodenbelag der Galerie ab. An die anderweitige Feststellung des Landgerichts ist der Senat nicht gebunden, denn Zweifel an dieser Feststellung ergeben sich bereits aus den in der Akte vorhandenen Fotos (Anlage K 2 und Anlage zum Protokoll vom 25.05.2016). Gerade unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich auf der Galerie verschiedene Geschäfte befanden, durch deren Auslagen die Besucher abgelenkt sein können, war die Stufe nicht ausreichend deutlich sichtbar.
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Die Verletzung der Verkehrssicherungspflicht geschah auch schuldhaft. Dies ergibt sich im Rahmen der Haftung aus § 280 BGB bereits aus der gesetzlichen Vermutung des § 280 Abs. 1 S. 2 BGB. Aber auch unabhängig von dieser Vermutung ist von fahrlässigem Verhalten der Beklagten gemäß § 276 BGB auszugehen. Die Beklagte hätte bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt nämlich erkennen können, dass die Gestaltung des Übergangs den Vorschriften über Arbeitssicherheit widerspricht und eine Gefahrenstelle darstellt.
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Die gefährliche Gestaltung des Übergangs war auch die Ursache des Sturzes. Dafür spricht der erste Anschein. Es ist anerkannt, dass sich die Ursächlichkeit der Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht für den Unfall regelmäßig im Wege des Anscheinsbeweises ergibt, wenn der Unfall in örtlicher Nähe der Gefahrenstelle passiert und gerade der Schaden eingetreten ist, den die Verkehrssicherungspflicht verhindern soll (Palandt-Grüneberg, BGB, 77. Aufl., Einf. v. § 249 Rn. 132; Zöller-Greger, ZPO, 32. Aufl., v. § 284 Rn. 30). So liegt es hier. Die Ehefrau des Klägers hat bei ihrer Vernehmung als Zeugin vor dem Landgericht bekundet, dass der Kläger nach seinem Sturz am Beginn des Überganges und somit in unmittelbarer Nähe der nicht gekennzeichneten Stufe lag.
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Durch den Sturz verletzte sich der Kläger erheblich. Er erlitt eine Oberschenkelhalsfraktur, die durch eine geschlossene Reposition und Implantation eines Gammanagels behandelt wurde. Er war für sechs Tage stationär im Krankenhaus. Der postoperative Verlauf war komplikationslos. Der Gammanagel, der im Körper nach den Angaben des Klägers im Termin vom 10.07.2018 verbleiben wird, verursacht allerdings auch jetzt noch Schmerzen, so dass der Kläger seine vor dem Unfall vorhandene Beweglichkeit in gewisser Weise eingebüßt hat. Die behauptete dauerhafte Verkürzung des rechten Beins hat der Kläger allerdings nicht beweisen können. Der Sachverständige Prof. H… hat in seinem Gutachten ausgeführt, dass sich eine Beinlängendifferenz nun nicht mehr feststellen lässt. Die postoperativ noch dokumentierte Verkürzung sei offensichtlich funktionell bedingt gewesen und habe sich im Laufe der Physiotherapie und nach Normalisierung der Funktionalität der Hüftgelenke wieder ausgeglichen. Auch Spätfolgen sind nach den Ausführungen des Sachverständigen nicht mehr zu erwarten. Gegen die nachvollziehbaren Erwägungen des Sachverständigen haben die Parteien keine Einwände erhoben.
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Den Kläger trifft jedoch ein den Anspruch minderndes Mitverschulden gemäß § 254 Abs. 1 BGB, das immer dann in Betracht kommt, wenn ein sorgfältiger Mensch die Gefahrenstelle rechtzeitig hätte erkennen können und er die Möglichkeit besaß, sich auf die Gefahr einzustellen (OLG Düsseldorf, Urteil vom 25. August 2015, Az: I-21 U 8/14 – Tz. 56; OLG Saarbrücken, OLGR 2004, 623 m.w.N.). Diese Möglichkeit war für den Kläger gegeben, denn hätte er sorgfältig auf den Boden gesehen, wäre die Stufe für ihn erkennbar und der Sturz vermeidbar gewesen.
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Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes ist auch zu berücksichtigen, dass das Verschulden der Beklagten nicht sehr schwer wiegt.
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Unter Berücksichtigung aller aufgezeigten Umstände hält der Senat ein Schmerzensgeld gemäß § 253 Abs. 2 BGB in Höhe von 4.000,00 € für angemessen.
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Der Kläger hat weiter einen Anspruch auf Erstattung der vorgerichtlichen Anwaltskosten, die als Kosten der Rechtsverfolgung eine zurechenbare Schadensfolge darstellen (Palandt-Grüneberg, a.a.O., § 249 Rn. 57). Allerdings ist der Anspruch der Höhe nach auf diejenigen Kosten beschränkt, die für die Geltendmachung des zugesprochenen Schmerzensgeldes von 4.000,00 € angefallen wären. Es ist deshalb nur der Betrag von 413,64 € erstattungsfähig.
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Der Zinsanspruch ergibt sich aus § 291 BGB.
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Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 92 Abs. 1 ZPO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.