Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 11. Februar 2021 – 7 U 147/20
1. Im Rahmen der Gefährdungshaftung nach § 1 Abs. 1 HaftpflG ist ein mitwirkendes Verschulden des Geschädigten von Amts wegen zu prüfen. Bei grob verkehrswidrigem Verhalten des Geschädigten kann – soweit es sich nicht um Minderjährige handelt – die Gefährdungshaftung ganz entfallen.
2. Im Rahmen der Mitverschuldensprüfung nach § 4 HaftpflG i.V.m. § 254 BGB ist spiegelbildlich ein Ausschluss oder die Minderung der Verantwortlichkeit nach § 827 BGB zu prüfen, deren Voraussetzungen vom Geschädigten zu beweisen sind.
3. Bei schwer alkoholkranken Menschen führen selbst hohe Alkoholwerte im Blut von 4 Promille nicht zwangsläufig zum Ausschluss einer freien Willensbetätigung. Wenn die Frage der Unzurechnungsfähigkeit des Geschädigten i.S.v. § 827 BGB offen bleibt, geht dies zu Lasten des beweispflichtigen Anspruchstellers.
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Die Berufung der Klägerinnen gegen das am 03.08.2020 verkündete Urteil des Einzelrichters der 8. Zivilkammer des Landgerichts Kiel wird zurückgewiesen.
Die Klägerinnen tragen die Kosten des Berufungsverfahrens.
Dieses und das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar. Den Klägerinnen bleibt nachgelassen, die Zwangsvollstreckung der Beklagten wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund dieses Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
Gründe
I.
1
Die Klägerinnen begehren als Trägerinnen der gesetzlichen Kranken- (Klägerin zu 1)) und Pflegeversicherung (Klägerin zu 2)) Erstattung von Heilbehandlungs- und Pflegekosten aufgrund eines Bahnunfalls, der sich am Mittwoch, den 18.03.2015, gegen 19:35 Uhr auf dem Bahnhof „T“ in E. ereignete. Bei der Beklagten zu 1) handelt es sich um die für den Schienenverkehr verantwortliche Eisenbahngesellschaft und bei dem Beklagten zu 2) um den Lokführer. Zum Unfallzeitpunkt wurde der Zug mit zwei Triebwagen (VTA2.58 und VTE2.37) betrieben.
2
Aus ungeklärten und teilweise streitigen Umständen war der Geschädigte H. (geboren 1958 in Russland) auf dem Bahnhof unter den von dem Beklagten zu 2) geführten Triebwagen geraten. Der Geschädigte stand seit dem 10.12.2014 wegen einer Alkoholkrankheit unter Betreuung (mit den Aufgabenkreisen: Vermögens- und Gesundheitsfürsorge, Post- und Fernmeldeangelegenheiten, Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern, Wohnungsangelegenheiten). Zum Unfallzeitpunkt war der Geschädigte erheblich alkoholisiert. Die dem Geschädigten in der Klinik H. circa eine Stunde nach dem Unfall entnommene Blutprobe enthielt einen Alkoholgehalt von 3,24 Promille. Nach den Berechnungen des Sachverständigen Dr. B. (fachpsychiatrisches Gutachten vom 31.10.2019) errechnete sich daraus ein möglicher Alkoholisierungsgrad zum Zeitpunkt des Unfalls von 3,44 Promille. Der Geschädigte war irgendwie zwischen den beiden Waggons unter den Zug geraten mit der Folge, dass beide Beine überrollt wurden. Der Geschädigte erlitt ein Polytrauma, der linke Unterschenkel und der rechte Oberschenkel mussten amputiert werden. Darüber hinaus erlitt er eine Gallenblasenruptur mit galliger Peritonitis, eine beidseitige Rippenserienfraktur mit ventralem Pneumothorax rechts und geringen Lungenkontusionen rechts, geringe Nierenkontusionen rechts, eine leichte ventrale Aufklappung HWK 6/7, kleine Abrissfrakturen am Querfortsatz BWK 12 rechts, eine nicht dislozierte Fraktur am Querfortsatz LWK 3 rechts sowie eine vordere Beckenringfraktur des Massa lateralis Ossis. Seit dem Unfall ist der Geschädigte pflegebedürftig und kann sich nur noch im Rollstuhl fortbewegen.
3
Nach den polizeilichen Ermittlungen war der Zug noch ganz normal in den Bahnhof T. eingefahren. Auf dem Bahnhof wurde ein Halt von ca. 30 sec. Dauer mit einem Fahrgastwechsel durchgeführt. Kurz nachdem sich der Zug in Fahrtrichtung HH wieder in Bewegung gesetzt hatte, wurde der Beklagte zu 2) durch ein lautes Klopfgeräusch gegen die Scheiben von außen aufmerksam und hielt sofort den Zug noch in Höhe des Bahnsteigs wieder an. Nach Angaben des Lokführers hatten zwei unbekannte männliche Fahrgäste, die zuvor am Bahnhof T. ausgestiegen waren, gegen die Scheibe geklopft und den Lokführer nach dem Anhalten darauf hingewiesen, dass sich eine Person unter dem Zug befände. Nach dem polizeilichen Unfallbericht befand sich der Geschädigte unter dem hinteren Ende des ersten Waggons, etwa 2 bis 3 Meter von dem Waggon-Zwischenraum entfernt. Nach den Ermittlungen der Polizei konnte man vom Bahnsteig aus nur zwischen den beiden Waggons auf die Gleise geraten, weil der sich im seitlichen Bereich zwischen Bahnsteig und Zug befindliche Spalt nicht ausreichend Platz bot, um dort hindurch auf die Gleise zu fallen. Der Geschädigte H. wurde unter Beteiligung der Freiwilligen Feuerwehr E., der Polizei und des Notarztes geborgen und zur Notoperation in die Klinik H. gebracht. Das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren ist sowohl gegen den Beklagten zu 2) als auch gegen den Geschädigten H. mit Verfügung vom 09.09.2015 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden.
4
Die Klägerinnen haben behauptet, dass sich der Geschädigte H. bereits bei Einfahrt des Zuges in den Bahnhof T. auf dem Bahnsteig aufgehalten habe und dort „auffällig“ gewesen sei. Dies könne die Zeugin I. bestätigen. Der Geschädigte hätte deshalb auch dem Lokführer auffallen müssen. Gleichwohl sei der Zug – nach dem Fahrgastwechsel im Bahnhof – wieder angefahren, nachdem der Geschädigte zwischen den Waggons auf die Gleise geraten war. Außerdem sei der Beklagte zu 2) nach dem Stopp wieder ein Stück zurückgefahren. Ein Mitverschulden sei dem Geschädigten nicht anzulasten, da er sich infolge seiner Alkoholisierung in einem Zustand der krankhaften Störung seiner Geistestätigkeit befunden habe.
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Die Klägerinnen haben beantragt,
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1. die Beklagten zu verurteilen, gesamtschuldnerisch an die Klägerin zu 1) 122.583,97 € nebst Verzugszinsen auf 57.795,03 € in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz durch die Beklagte zu 1) ab dem 12.05.2017, durch den Beklagten zu 2) ab Rechtshängigkeit sowie auf weitere 64.788,94 € durch beide Beklagten ab Rechtshängigkeit zu zahlen,
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2. festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, gesamtschuldnerisch der Klägerin zur 1) alle ihr aus dem Unfall vom 18.03.2015 ihres Versicherten H. noch entstehenden übergangsfähigen Aufwendungen zu ersetzen,
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3. die Beklagten zu verurteilen, gesamtschuldnerisch an die Klägerin zu 2) 26.820,02 € nebst Verzugszinsen auf 18.638,02 € in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hinsichtlich der Beklagten zu 1) ab dem 12.05.2017, hinsichtlich des Beklagten zu 2) ab Rechtshängigkeit sowie auf weitere 8.182,18 € durch beide Beklagten ab Rechtshängigkeit zu zahlen,
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4. festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, gesamtschuldnerisch der Klägerin zu 2) alle ihr aus dem Unfall vom 18.03.2015 ihres Versicherten H. noch entstehenden übergangsfähigen Aufwendungen zu ersetzen.
10
Die Beklagten haben beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Beklagten haben bestritten, dass sich der Geschädigte vor dem Unfall ordnungsgemäß auf dem Bahnsteig T. aufgehalten habe. Der Beklagte zu 2) habe weder bei der Einfahrt in den Bahnhof noch bei der Abfahrt irgendwelche „Auffälligkeiten“ beobachtet. Unter Bezugnahme auf die Bekundungen des Zeugen T. habe der Geschädigte vielmehr versucht, von der anderen (Gleis-)Seite über die Bahngleise und zwischen den beiden Waggons hindurch in den bereits am Bahnhof haltenden Zug einzusteigen. Der Zeuge T. habe nämlich unmittelbar vor dem Vorfall eine Person beobachtet, die von der anderen Seite über die Leitplanke geklettert und die Bahngleise in Richtung des haltenden Zuges überquert habe. Den Beklagten zu 2) treffe kein Verschulden. Eine Haftung der Beklagten zu 1) sei wegen überwiegenden Mitverschuldens des Geschädigten ausgeschlossen. Die Klägerinnen hätten den ihnen obliegenden Beweis des Ausschlusses der Verantwortlichkeit des Geschädigten H. nicht geführt.
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Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen T. sowie durch Einholung eines psychiatrischen Gutachtens und Beiziehung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Protokolle der mündlichen Verhandlungen vom 06.04.2018, 05.10.2018, 12.03.2019 und 20.05.2020 sowie auf die Gutachten des Sachverständigen Dr. B. vom 31.10.2019 und vom 20.05.2020 Bezug genommen.
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Mit dem angefochtenen Urteil vom 03.08.2020 hat das Landgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass die Haftung der Beklagten zu 1) wegen des überwiegenden Mitverschuldens des Geschädigten nach §§ 4 Satz 1 HaftpflG i.V.m. 254 Abs. 1 BGB ausgeschlossen sei. Der Sachverständige Dr. B. sei zu dem Ergebnis gelangt, dass eine im Unfallzeitpunkt bestehende, die freie Willensbildung ausschließende Störung der Geistestätigkeit durch den Genuss berauschender Getränke bei dem Geschädigten H. nicht sicher angenommen werden könne. Wegen der Alkoholgewöhnung könne durchaus auch eine geordnete Verhaltensweise und eine adäquate Kommunikation möglich gewesen sein. Der Ausschluss einer freien Willensbestimmung hätte nur anhand einer zeitnah zum Unfallzeitpunkt durchzuführenden psychopathologischen Exploration festgestellt werden können. Dies sei im Nachhinein jedoch nicht mehr möglich. Die Klägerinnen seien deshalb beweisfällig geblieben. Eine Haftung des Beklagten zu 2) komme nicht in Betracht, weil eine schuldhafte Gesundheitsschädigung nicht nachgewiesen sei.
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Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerinnen. Sie rügen insbesondere, dass es das Landgericht unterlassen habe, sowohl die Zeugin I. als auch den Geschädigten zu vernehmen. Die Bekundungen des Zeugen T. seien unergiebig. Das Landgericht habe es auch unterlassen, sich – ggf. unter Hinzuziehung eines Sachverständigen – mit den Aufnahmen der Überwachungskamera auseinanderzusetzen. Nach den Bekundungen der Zeugin I. habe sich der Geschädigte auf dem Bahnsteig T. befunden und getaumelt. Dies hätte dem Beklagten zu 2) als Lokführer nicht verborgen geblieben sein dürfen.
16
Die Klägerinnen beantragen,
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das angefochtene Urteil zu ändern und
18
1. die Beklagten zu verurteilen, gesamtschuldnerisch an die Klägerin zu 1) 122.583,97 € nebst Verzugszinsen auf 57.795,03 € in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz durch die Beklagte zu 1) ab dem 12.05.2017, durch den Beklagten zu 2) ab Rechtshängigkeit (24.03.2018) sowie auf weitere 64.788,94 € durch beide Beklagten ab Rechtshängigkeit (25.01.2020) zu zahlen,
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2. festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, gesamtschuldnerisch der Klägerin zu 1) alle ihr aus dem Unfall vom 18.03.2015 ihres Versicherten H. noch entstehenden übergangsfähigen Aufwendungen zu ersetzen,
20
3. die Beklagten zu verurteilen, gesamtschuldnerisch an die Klägerin zu 2) 26.820,02 € nebst Verzugszinsen auf 18.638,02 € in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hinsichtlich der Beklagten zu 1) ab dem 12.05.2017, hinsichtlich des Beklagten zu 2) ab Rechtshängigkeit (s. o.) sowie auf weitere 8.182,18 € durch beide Beklagte ab Rechtshängigkeit (s. o.) zu zahlen,
21
4. festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, gesamtschuldnerisch der Klägerin zu 2) alle ihr aus dem Unfall vom 18.03.2015 ihres Versicherten H. noch entstehenden übergangsfähigen Aufwendungen zu ersetzen
22
sowie hilfsweise die Revision zuzulassen.
23
Die Beklagten beantragen,
24
die Berufung der Klägerinnen zurückzuweisen.
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Sie verteidigen – unter Vertiefung ihres bisherigen Vorbringens – das angefochtene Urteil.
26
Der Senat hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin I., Beiziehung der Ermittlungsakte sowie Verwertung der Bekundungen des Zeugen T. im Wege des Urkundsbeweises. Außerdem hat der Senat die Videoaufzeichnungen von den Überwachungskameras im Zug zum Unfallzeitpunkt in Augenschein genommen.
II.
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Die Berufungen der Klägerinnen sind unbegründet. Berufungsgründe im Sinne von § 513 Abs. 1 ZPO liegen nicht vor.
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1. Eine Haftung des Beklagten zu 2) gemäß §§ 823 Abs. 1, 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 223 StGB, 116 SGB X ist nicht bewiesen. Die zuständige Staatsanwaltschaft hat das Ermittlungsverfahren gegen den Beklagten zu 2) mangels hinreichenden Tatverdachts am 09.09.2015 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.
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Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme kann zur Überzeugung des Senats nicht festgestellt werden, dass sich der Geschädigte H. bei der Einfahrt oder unmittelbar vor der Abfahrt des Zuges auf dem Bahnsteig des Bahnhofs T. befunden hat. Die entsprechenden Bekundungen der Zeugin I. sind unglaubhaft. Die Zeugin hat sowohl im Zuge der polizeilichen Ermittlungen als auch nochmals vor dem Senat bekundet, sie habe bei der Einfahrt des Zuges in den Bahnhof aus dem Fenster geschaut und dort den Geschädigten, bekleidet mit einer blauen Hose, längeren Haaren und einem Vollbart gesehen, wie er dort „stand und torkelte“. Nach ihrer Erinnerung sei der Zug bereits während der Einfahrt in den Bahnhof über „irgendetwas rübergehoppelt“, anschließend habe der Zug gestoppt und sei wieder ein kurzes Stück zurückgefahren. Den Mann vom Bahnsteig habe sie anschließend unter den Gleisen gesehen.
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Vorstehende Angaben sind nach Augenscheinseinnahme der Videoaufzeichnungen von den Überwachungskameras im Zug und der grafischen Darstellung der entsprechenden Zugbewegung, wie sie von dem Bahn-Notfallmanager S. am 21.05.2015 polizeilich bekundet worden sind, widerlegt. Aus den Videoaufzeichnungen (insbesondere Kameraeinstellungen 3 und 4) ergibt sich, dass die Zeugin I. keinesfalls bei der Einfahrt des Zuges in den Bahnhof T. immer aus dem Fenster geschaut hat. Vielmehr hatte sie Stöpsel in den Ohren und schaute überwiegend auf ihr Handy. Auf den Videoaufzeichnungen ist ebenfalls klar zu erkennen, dass auf dem Bahnsteig bei Einfahrt des Zuges nicht nur eine Person, sondern mindestens fünf Personen standen. Die Zeugin I. ist auf dem Video klar zu erkennen und man kann sehen, dass sie den Fahrgastwechsel im Bahnhof T., der circa eine halbe Minute dauerte, scheinbar regungslos hingenommen hat. Anschließend setzte sich der Zug für wenige Sekunden wieder in Bewegung und stoppte sodann. Erst jetzt erst wurde die Zeugin I. offensichtlich auf ein mögliches Geschehen aufmerksam und schaute nach hinten. Wenig später sieht man den Beklagten zu 2) auf dem Bahnsteig nach hinten gehen. Aus der Fahrdokumentation des Zeugen S. ergibt sich, dass der Zug nach dem Stopp nicht mehr zurückgefahren ist. Entsprechendes bestätigen auch die Videoaufzeichnungen.
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Die Bekundungen der Zeugin I. stehen mithin im eindeutigen Widerspruch zu den in Augenschein genommenen Videoaufzeichnungen und Urkunden. Im Übrigen machte die Zeugin bei ihrer Vernehmung einen unsicheren und fahrigen Eindruck. Sie betonte zwar mehrfach, dass sie sich ganz sicher sei, den Geschädigten zuvor am Bahnsteig torkelnd gesehen zu haben, hinsichtlich anderer Details gab sie jedoch mehrfach an, dass sie sich „da nicht mehr sicher sei“.
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Nach alledem steht zur Überzeugung des Senats nicht fest, dass sich der Geschädigte H. überhaupt bei Einfahrt des Zuges in den Bahnhof T. oder unmittelbar vor der Abfahrt ordnungsgemäß auf dem Bahnsteig befunden hat.
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Die intensive persönliche Anhörung des Beklagten zu 2) ergab außerdem, dass es sich bei ihm um einen sehr erfahrenen Triebfahrzeugführer handelt (seit 1999 bei der Bahn). Er gab an, dass er bei der Einfahrt in den Bahnhof „nichts Unnormales“ bemerkt habe. Der Bahnhof verfüge über eine automatische Fahrgastinformation. Nach Beendigung des Fahrgastwechsels habe er den Schließbefehl für die Türen gegeben. Daraufhin erfolgte die automatische akustische Durchsage „Bitte zurückbleiben“. Vor dem Anfahren habe er ordnungsgemäß in den rechten Außenspiegel geschaut, den er bereits beim Anhalten im Bahnhof ausgefahren habe. Auch dort habe er nichts Ungewöhnliches bemerkt. Er sei erst nach dem Anfahren des Zuges durch zwei Männer auf den Unfall aufmerksam gemacht worden, die von außen laut gegen ein Fenster des Zuges geklopft hätten.
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Ein etwaiges Fehlverhalten ist dem Beklagten zu 2) nach alledem nicht nachzuweisen.
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2. Die Gefährdungshaftung der Beklagten zu 1) aus § 1 Abs. 1 HaftpflG ist gemäß § 4 HaftpflG i.V.m. § 254 BGB ausgeschlossen. Die Frage des mitwirkenden Verschuldens ist von Amts wegen zu prüfen (BGH, Urteil vom 15.10.2015, IX ZR 44/15, NJW 2016, 497-501). Ein mitwirkendes Verschulden des Geschädigten liegt vor, wenn er diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt (BGH, Urteil vom 17.06.2014, VI ZR 281/13, NJW 2014, 2493 – 2495, juris Rn. 9). Im Rahmen des § 254 BGB hat eine Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile stattzufinden, wobei nur bewiesene oder unstreitige Umstände in die Abwägung einbezogen werden können (BGH Urteil v. 08.01.2002, VI ZR 364/00, NJW 2002, 1263 – 1265; OLG Schleswig, Urteil vom 04.07.2008, 1 U 50/07, SchlHA 2010, 115 bis 117). Die Beweislast für das Vorliegen eines Mitverschuldens des Geschädigten trägt zunächst der Schädiger (Oetker, Münchner Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2019, § 254 Rn. 145 m. w. N.). Das gilt sowohl für den Grund des Mitverschuldens als auch für dessen Gewicht. Bei grob verkehrswidrigem Verhalten des Geschädigten kann – soweit es sich nicht um Minderjährige nach § 828 BGB geht – die Gefährdungshaftung auch ganz entfallen (OLG Schleswig, Urteil vom 04.07.2008, a.a.O., Juris Rn. 43 m. w. N.). Im Rahmen der Mitverschuldensprüfung nach § 254 BGB ist spiegelbildlich ein Ausschluss oder die Minderung der Verantwortlichkeit nach § 827 BGB zu prüfen, deren Voraussetzungen vom Geschädigten zu beweisen sind (vgl. Wagner in Münchner Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2020, § 827 Rn. 4; BGH, Urteil vom 25.01.1997, VI ZR 166/74, juris Rn. 26).
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Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme geht der Senat – wie auch das Landgericht – davon aus, dass der Geschädigten H. allein ursächlich für das Unfallereignis gewesen ist. Die nach § 254 BGB vorzunehmende Gesamtabwägung führt dazu, dass die Betriebsgefahr des Schienenfahrzeugs der Beklagten zu 1) vollständig hinter dem Verursachungsbeitrag des Geschädigten zurücktritt.
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Nach den Bekundungen des Zeugen T. hat unmittelbar vor dem Unfall eine auffällig gekleidete Person (neonfarbene Jacke) versucht, von der gegenüberliegenden Seite über die Gleise den am Bahnhof T. haltenden Zug zu erreichen. Zum Zeitpunkt der Beobachtung war der Zeuge T. von der Person circa 15 bis 20 Meter entfernt. Ungefähr 1 1/2 Minuten später sei – so der Zeuge – die Freiwillige Feuerwehr E. wegen des Unfalls am Bahnhof alarmiert worden. Mangels Glaubhaftigkeit der Bekundungen der Zeugin I. (s. o.) ist nicht davon auszugehen, dass sich der Geschädigte H. bereits bei Einfahrt des Zuges „torkelnd“ auf dem Bahnsteig befunden hat. Vielmehr ist aufgrund der glaubhaften Erklärungen des Beklagten zu 2) davon auszugehen, dass sich weder beim Einfahren noch bei der Abfahrt des Zuges eine „auffällige Person“ auf dem Bahnsteig befunden hat. Unstreitig war der Geschädigte zum Unfallzeitpunkt erheblich alkoholisiert und kann sich an das Geschehen nicht mehr erinnern. Aufgrund der polizeilichen Ermittlungen kann ausgeschlossen werden, dass der Geschädigte seitlich in einen Spalt zwischen Zug und Bahnsteig gefallen ist. Der Geschädigte kann – wenn überhaupt – nur zwischen den beiden Waggons auf die Schienen geraten sein. Bei lebensnaher Betrachtung und Berücksichtigung aller Umstände geht der Senat deshalb davon aus, dass der Geschädigte versucht hat, von der Gleisseite aus zwischen den Waggons hindurch auf den Bahnsteig zu klettern, um den dort haltenden Zug noch zu erreichen. Der beklagte Lokführer konnte den Geschädigten deshalb weder bei der Einfahrt des Zuges noch im Rückspiegel bei der Abfahrt erkennen.
38
Die Klägerinnen haben die Unzurechnungsfähigkeit des Geschädigten i.S.v. §§ 827, 104 Nr. 2 BGB nicht bewiesen. Zwar steht aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen Dr. B. vom 31.10.2019 fest, dass der Geschädigte aufgrund seiner schweren Alkoholkrankheit ohne sein Verschulden in den Zustand der alkoholbedingten Intoxikation geraten ist (§ 827 S. 2 BGB). Es ist jedoch nicht bewiesen, dass sich der Geschädigte auch zum Unfallzeitpunkt in einer, seine freie Willensbildung ausschließenden, alkoholbedingten Störung der Geistestätigkeit befunden hat. Das hat der psychiatrische Sachverständige Dr. B. sowohl in seinem schriftlichen Gutachten vom 31.10.2019 als auch im Rahmen seiner ergänzenden mündlichen Anhörung vom 20.05.2020 nicht bestätigen können. Der Sachverständige hat ausgeführt, dass bei dem Geschädigten mit hoher Wahrscheinlichkeit zwar eine schwere Alkoholerkrankung vorlag, jedoch trotz des hohen Alkoholisierungsgrades von 3,44 Promille zum Unfallzeitpunkt durchaus noch ein geordnetes Verhalten und eine adäquate Kommunikationsfähigkeit möglich gewesen sein könnte. Aus der Behandlungsdokumentation der Unfallklinik H. ergäbe sich, dass bei dem Geschädigten kein Entzugsdelir vorlag. Der Sachverständige, der als ehemaliger Leiter einer Suchtklinik über mehr als 25 Jahre klinische Erfahrung verfügt, hat erklärt, dass gerade bei schwer alkoholkranken Menschen selbst hohe Alkoholwerte im Blut von 4 Promille nicht zwangsläufig zum Ausschluss einer freien Willensbetätigung führen. Es müsse deshalb offen bleiben, ob der Geschädigte H. zum Unfallzeitpunkt i.S.v. § 827 BGB unzurechnungsfähig war. Dies geht zu Lasten der beweispflichtigen Klägerinnen.
39
Die Ausführungen des klinisch erfahrenen Sachverständigen Dr. B. sind glaubhaft. Der Sachverständige hat seine Feststellungen erst nach gründlicher Auswertung der übersandten Akten getroffen. Der Sachverständige hat auch ausgeführt, dass im Nachgang – mithin mehr als 4 Jahre nach dem Unfall – eine psychopathologische Exploration des Geschädigten zum weiteren Erkenntnisgewinn nicht mehr möglich sei. Die polizeiliche Anhörung des Geschädigten H. vom 28.05.2015 sei im Hinblick auf seine geistige Verfassung zum Unfallzeitpunkt kaum verwertbar und nicht ergiebig. Der Geschädigte habe keine Erinnerung mehr, wie er auf die Gleise gelangt sei. Im Übrigen habe er neben dem Polytrauma auch eine Kopfplatzwunde am Hinterkopf davongetragen mit der möglichen Folge einer retrograden Amnesie und – verstärkt durch die Alkoholwirkung – einer konfabulatorischen Ausfüllung der Erinnerungslücke (vgl. S. 10 des Sachverständigengutachtens vom 31.10.2019). Eine psychopathologische Exploration des Geschädigten wäre zeitnah im Zusammenhang mit dem Unfallereignis erforderlich gewesen.
40
Danach steht nicht fest, dass sich der Geschädigte zum Unfallzeitpunkt in einer die freie Willensbetätigung ausschließenden krankhaften Störung der Geistestätigkeit i.S.v. § 827 BGB befunden hat.
41
Soweit die Klägerinnen mit nicht nachgelassenem Schriftsatz vom 19.01.2021 eine ergänzende Untersuchung des Geschädigten und eine Ergänzung des medizinischen Gutachtens nach § 412 ZPO beantragen, ist der Vortrag verspätet. Entsprechende Einwände hätten – im Hinblick auf die Verfügung des Landgerichts vom 04.11.2019 – bereits im ersten Rechtszug nach §§ 411 Abs. 4 Satz 2, 296 Abs. 1, 4 ZPO geltend gemacht werden müssen. Auch nach Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht am 20.05.2020 ist ein entsprechender Antrag nicht gestellt worden. Die Anordnung einer Betreuung gemäß §§ 1896, 1903 BGB ist bereits im Rahmen der Würdigung durch den medizinischen Sachverständigen Dr. B. hinreichend berücksichtigt worden. Das Vorliegen eines Betreuungsverhältnisses begründet keine tatsächliche Vermutung dafür, dass der Betreute im Tatzeitpunkt unzurechnungsfähig war, es hat insoweit lediglich Indizwirkung. Hier erfolgte die Betreuung des Geschädigten H. aufgrund seiner Alkoholkrankheit. Nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. B. steht aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen als Leiter einer Suchtklinik nicht fest, dass sich der Geschädigte H. – trotz 3,44 Promille im Blut – zum Unfallzeitpunkt in einem die freie Willensbetätigung ausschließenden Zustand befunden hat. Unter Berücksichtigung aller vorhandenen Indizien – so der Sachverständige Dr. B. – sei es nicht möglich, für den Unfallzeitpunkt eine konkrete Aussage zu einem die freie Willensbetätigung ausschließenden Zustand zu treffen. Dies geht hier zulasten der beweispflichtigen Klägerinnen.
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Der Antrag der Klägerinnen vom 19.01.2021 auf ergänzende Beweisaufnahme durch psychiatrische Untersuchung des Geschädigten durch einen Neurologen und Psychiater ist nach alledem wegen Verspätung zurückzuweisen (§ 296 ZPO).
43
Die Ausführungen der Klägerinnen aus dem nicht nachgelassenen Schriftsatz vom 19.01.2021 rechtfertigen gemäß § 156 ZPO auch keine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung. Dies gilt auch im Hinblick auf die Ausführungen des Rechtsanwalts beim BGH vom 18.01.2021. Bei seinen rechtlichen Erwägungen und Ausführungen handelt es sich lediglich um eine „grobe Einschätzung der Rechtslage“ ohne Vorlage der Gerichtsakten.
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Nach alledem hat die Berufung keinen Erfolg.
45
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
46
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
47
Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor. Die Klägerinnen gehen selbst davon aus, dass sie im Rahmen der Abwägung nach § 254 BGB die Beweislast für das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen nach § 827 BGB tragen. Im Übrigen hat der Rechtsstreit seinen Schwerpunkt in der tatrichterlichen Würdigung von Indizien und Beweisen.