AG Hanau, Urteil vom 06.08.2010 – 39 C 121/10 (19)
Grob fahrlässig handelt, wer sich als Autofahrer während der Fahrt nach einer heruntergefallenen Zigarette gebückt und dabei den Blick so lange von der Fahrbahn nimmt, dass er einer vorher angekündigten und bereits für ihn sichtbaren Absperrung nicht mehr ausweichen kann, als er wieder auf die Straße blickte (Rn. 22).
Tenor
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 5.000,– € nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 14.8.2009 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat der Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
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Die Klägerin verlangt vom Beklagten im Wege des Regresses Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall vom 26.5.2009. Sie war Vollkaskoversicherer eines Lkw, der an diesem Tage vom Beklagten gefahren wurde. Dieser befuhr mit dem Lkw die A 5 aus Darmstadt in Richtung Frankfurt auf dem rechten von 4 Fahrstreifen. Vor ihm war eine Tagesbaustelle eingerichtet, die diesen Fahrstreifen versperrte. Die Sperrung war geraume Zeit zuvor durch mehrere Schilder angezeigt und erfolgte durch eine deutlich sichtbare Absperrwand. Kurz vor der Baustelle ist dem Beklagten während der Fahrt eine brennende Zigarette aus der Hand gefallen. Er bückte sich, um die Zigarette aufzuheben und nahm dabei den Blick von der Fahrbahn. Als er wieder nach vorn schaute, war er der Absperrwand so nahe, dass er nicht mehr ausweichen konnte. Der Lkw kollidierte mit der Wand.
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Durch den Unfall entstand am Lkw ein Schaden von fast 25.000,– € netto, den die Klägerin ihrer Versicherungsnehmerin abzüglich Selbstbehalt ersetzt hat.
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Mit Schreiben vom 10.7.2009 (Bl. 88 f d. A.) und 30.7.2009 forderte die Klägerin den Beklagten im Wege des Regresses zur Zahlung von 5.000,– € auf. Dies ist die Klageforderung.
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Die Klägerin meint, der Beklagte habe den Schaden grob fahrlässig herbeigeführt.
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Die Klägerin beantragt,
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den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin 5.000,– € nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 1.8.2009 zu zahlen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Der Beklagte meint, er habe nicht grob fahrlässig gehandelt.
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Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist begründet.
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Die Klägerin hat gegen den Beklagten einen Regressanspruch auf Zahlung von 5.000,– € aus übergegangenem Recht nach den §§ 823 Abs. 1 BGB, 81 VVG.
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Der Beklagte hat den im Eigentum der Versicherungsnehmerin der Klägerin stehenden Lkw beschädigt, indem er damit gegen eine Fahrstreifen-Absperrung gefahren ist.
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Die Rechtswidrigkeit dieses Verhaltens ist indiziert.
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Der Beklagte hat auch ohne jeden Zweifel schuldhaft gehandelt, weil er den Unfall dadurch verursacht hat, dass er sich nach einer herunter gefallenen Zigarette gebückt, vorwerfbar nicht auf die Fahrbahn geachtet hat und deswegen gegen die Absperrung gefahren ist.
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Die Versicherungsnehmerin der Klägerin hatte danach gegen den Beklagten einen Schadensersatzanspruch gemäß § 823 Abs. 1 BGB.
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Der durch den Unfall am Lkw entstandene Schaden beträgt weit über 5.000,– €.
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Nachdem die Klägerin diesen Schaden reguliert hat, ist der Schadensersatzanspruch ihrer Versicherungsnehmerin gegen den Beklagten auf sie übergegangen.
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Nach ihren AKB kann sie vom Beklagen als Fahrer des Lkw jedoch nur dann Regress verlangen, wenn diesem eine grob fahrlässige Herbeiführung des Versicherungsfalles vorwerfbar ist.
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Dies ist der Fall. Der Beklagte hat objektiv und subjektiv grob fahrlässig gehandelt. Grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und unbeachtet lässt, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Dabei muss es sich auch in subjektiver Hinsicht um ein unentschuldbares Fehlverhalten handeln, das ein gewöhnliches Maß erheblich übersteigt.
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Nach ganz überwiegender Rechtsprechung handelt grob fahrlässig in diesem Sinne, wer – wie der Beklagte hier – sich während der Fahrt nach einer heruntergefallenen, brennenden Zigarette bückt (vgl. OLG Zweibrücken, Urteil vom 10.3.1999, Az. 1 U 65/98; OLG Hamm, Urteil vom 26.1.2000, Az. 20 U 155/99; OLG Frankfurt, Urteil vom 8.2.1995, Az. 23 U 108/94; OLG Köln, Urteil vom 10.3.1998, Az. 9 U 184/97). Allein das Rauchen im Auto ist sicherlich noch nicht grob fahrlässig. Jedoch sind an Raucher wegen der erhöhten Risiken des Rauchens während der Fahrt gesteigerte Anforderungen in Bezug auf die Sicherheit der Fahrzeugführung zu stellen, so dass ihnen Vorkehrungen abzuverlangen sind, dass brennende Zigaretten oder Teile von Glut oder Asche nicht herunterfallen und Situationen schaffen können, auf die nicht mehr kontrolliert, sondern nur noch reflexartig reagiert werden kann, oder dass keine Gefahrenlagen entstehen können (vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 8.2.1995, Az. 23 U 108/94.). Sollte der Beklagte solche Vorkehrungen getroffen haben, so hat er sie jedenfalls nicht genutzt – sonst hätte ihm die brennende Zigarette nicht herunterfallen dürfen. Nach der vom Beklagten selbst zitierten Entscheidung des OLG Karlsruhe vom 30.4.1992, Az. 12 U 16/92, hat der rauchende Autofahrer in einer Situation, die erhöhte Aufmerksamkeit verlangt, für einen sicheren Halt der Zigarette zu sorgen, sonst handelt er grob fahrlässig. Die konkrete Verkehrssituation verlangte vom Beklagten gesteigerte Aufmerksamkeit. Durch Schilder war bereits angezeigt, dass sich der Fahrstreifen, auf dem er sich befand, gesperrt wird. Er musste mithin rechtzeitig die Spur nach links wechseln und sich in den dort ggf. vorhandenen Verkehr einfädeln. In dieser Situation hatte er für sicheren Halt der Zigarette zu sorgen – was er nicht getan hat, anderenfalls hätte sie nicht herunterfallen können – sonst handelte er grob fahrlässig.
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Dem Beklagten ist weiter als unentschuldbar vorzuwerfen, dass er sich nach der heruntergefallenen Zigarette gebückt und dabei den Blick so lange von der Fahrbahn genommen hat, dass er der angekündigten Absperrung (mit einem großen, gelb blinkenden Pfeil darauf nach seiner Schilderung) nicht mehr ausweichen konnte, als er wieder auf die Straße blickte. Diese gänzliche Unaufmerksamkeit gegenüber dem Verkehr und der Straße in einer Situation, in der die Sperrung seines Fahrstreifens auf der Autobahn – d. h. bei hohen Geschwindigkeiten – bereits angezeigt und die Absperrung nach der Einlassung des Beklagten schon zu sehen war, also in einer Situation, in der ganz besondere Aufmerksamkeit angezeigt war, ist grob fahrlässig. Insoweit ist die vom Beklagten genannte Entscheidung des OLG Dresden vom 15.6.2001, Az. 3 U 468/01 nicht einschlägig. Denn dort wurde grobe Fahrlässigkeit durch das Aufheben einer heruntergefallenen Zigarette nur deswegen verneint, weil – im Gegensatz zum vorliegenden Fall – die Verkehrssituation völlig ungefährlich war (kerzengerade Straße zu verkehrsarmer Zeit).
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Den Beklagten kann auch in keiner Weise entlasten, dass auch eine brennende Zigarette auf dem Fußboden eine Gefahrenquelle darstellt. Denn zum Einen ist ihm nach den vorstehenden Ausführungen schon als grob fahrlässig vorzuwerfen, dass er es dazu hat kommen lassen. Zum Anderen setzt eine brennende Zigarette nicht sofort den Fußbodenbelag in Brand, das dauert geraume Zeit. In dieser Zeit hätte der Beklagte ohne weiteres die Baustelle passieren und bei nächster Gelegenheit ggf. auf dem Standstreifen anhalten können, um die Zigarette ungefährdet zu suchen und aufzuheben. Das Sich-Bücken nach der Zigarette während der Fahrt auf eine Sperrung der Fahrspur zu und das völlige Nicht-Beachten der Fahrbahn und des Verkehrs in dieser Zeit und in dieser Situation ist ungleich gefährlicher und auch angesichts einer brennenden Zigarette auf dem Fußboden nicht mehr zu verantworten.
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Den Beklagten kann eben so wenig entlasten, dass er möglicherweise reflexartig gehandelt hat. Gegen ein reflexartiges Handeln, ein Augenblicksversagen beim Sich-Bücken nach der brennenden Zigarette im Fußraum spricht bereits, dass diese Zigarette nach der Einlassung des Beklagten zunächst zwischen seine Beine auf den Sitz gefallen ist, von wo aus er sie erst auf den Fußboden herunter geschoben hat. Im Übrigen ist dies kein Abgrenzungskriterium zwischen grober und (noch) einfacher Fahrlässigkeit. Um die grobe Fahrlässigkeit beim sogenannten Augenblicksversagen verneinen zu können, müssten vielmehr im Einzelfall besondere, den Autofahrer von dem Vorwurf der groben Fahrlässigkeit entlastende gewichtige Umstände festgestellt werden können (vgl. OLG Köln, Urteil vom 10.3.1998, Az. 9 U 184/97). Daran fehlt es hier.
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Die Klägerin kann weiter Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz verlangen – jedoch erst seit dem 14.8.2009 nach der Mahnung vom 30.7.2009 mit Fristsetzung von 14 Tagen. Denn durch die erste Zahlungsaufforderung vom 10.7.2009 mit einseitiger Fristsetzung ist der Beklagte noch nicht in Zahlungsverzug geraten.
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Die Kosten des Rechtsstreits hat der Beklagte nach § 92 Abs. 2 ZPO zu tragen.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 ZPO.