Zur Frage des Krawattenzwanges in der Hauptverhandlung in Strafsachen

LG Mannheim, Beschluss vom 27. Januar 2009 – 4 Qs 52/08

Zur Frage des Krawattenzwangs in der Hauptverhandlung in Strafsachen.(Rn.27)(Rn.49)(Rn.50)(Rn.37)(Rn.41)

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

1. Auf die Beschwerde des Nebenklägervertreters wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts – Strafrichter – Mannheim vom 27. Oktober 2008 – Zurückweisung des Nebenklägervertreters in dieser Hauptverhandlung – rechtswidrig war.

2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe
I.

1
In vorliegender Strafsache waren in der Hauptverhandlung des Amtsgerichts – Strafrichter – Mannheim am 27.10.2008 auch Nebenkläger und Nebenklägervertreter erschienen. Zu Beginn der Verhandlung beanstandete das Amtsgericht die Amtstracht des Nebenklägervertreters, der unter der geschlossenen Robe einen Anzug und ein Hemd in dezenter Farbe, hingegen keine Krawatte trug. Im Hauptverhandlungsprotokoll ist hierzu festgehalten:

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„Das Gericht stellt fest, dass der Nebenklägervertreter RA S. unter der Robe keine Krawatte trägt und somit nicht in ordnungsgemäßer Amtstracht erschienen ist.

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RA S. wird aufgefordert, sich eine Krawatte zu besorgen.

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Es wird angeboten, die Verhandlung hierfür für 15 Minuten zu unterbrechen.

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Das Gericht weist darauf hin, dass RA S. gem. § 176 GVG von der Verhandlung ausgeschlossen werden kann, wenn er nicht in ordnungsgemäßer Amtstracht auftritt.

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RA S., dem Nebenkläger und allen anderen Beteiligten wird Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.

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Der Verteidiger RA D. bietet RA S. an, ihm eine Krawatte zur Verfügung zu stellen.

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RA S. lehnt dieses Angebot ab.

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Die Verhandlung wird unterbrochen von 9:13 Uhr – 9.15 Uhr.

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Es ergeht Beschluss gem. Anlage.

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RA S. entfernt sich aus dem Sitzungssaal.

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Dem Nebenkläger wird bekannt gegeben, dass das Gericht nicht beabsichtigt, die Verhandlung zu unterbrechen, da zum einen die Sachlage sowohl ihm als auch dem Nebenklägervertreter bekannt war. Zum anderen dem Nebenkläger keine schwerwiegenden Nachteile entstehen, wie z.B. einem Angeklagten.

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Der Nebenkläger stellt hierzu keinen Antrag…“

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Durch diesen als Anlage zu Protokoll genommenen Beschluss wurde der Nebenklägervertreter

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„für die Hauptverhandlung vom 27.10.2008 … gemäß § 176 GVG zurückgewiesen und solange nicht zugelassen, als er entgegen § 21 Abs. 1 des baden-württembergischen Gesetzes zur Ausführung des GVG und von Verfahrensgesetzen der ordentlichen Gerichtsbarkeit die übliche Amtstracht nicht trägt“.

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Im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung stellte das Amtsgericht nach mehr als eineinhalbstündiger Zeugenvernehmung des Nebenklägers das Verfahren gegen die beiden Angeklagten gemäß § 153 Abs. 2 StPO bzw. – vorläufig – gemäß § 153 a Abs. 2 StPO und – endgültig – durch Beschluss vom 05.11.2008 ein, mit welchem es zugleich dem Nebenkläger dessen notwendige Auslagen auferlegte.

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Mit durch Schriftsatz vom 21.11.2008 inhaltlich ausgeführter Beschwerde vom 07.11.2008 wendet sich der Nebenklägervertreter gegen seine Zurückweisung.

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Das Amtsgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Die Staatsanwaltschaft hat beantragt, sie als unbegründet zu verwerfen.

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Auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses und den Inhalt der Beschwerdebegründung wird Bezug genommen.

II.

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1. Das Rechtsmittel ist gemäß § 304 Abs. 1 StPO zulässig. Seiner Statthaftigkeit stehen weder § 305 Satz 1 StPO, der Beschwerden im Hauptverfahren einschränkt, noch § 181 GVG, der sitzungspolizeiliche Maßnahmen weitgehend einer Anfechtung entzieht, entgegen.

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a) Die angefochtene Entscheidung ist in ihren prozessualen Auswirkungen nicht – wie von § 305 Satz 1 StPO vorausgesetzt – auf die Vorbereitung eines mit ihr in innerem Zusammenhang stehenden Urteils reduziert, sondern entfaltet eine jenseits solcher Kohärenzen liegende eigenständige Bedeutung für das Mandatsverhältnis zwischen Nebenkläger und Nebenklägervertreter, der darüber hinaus auch beschwerdeberechtigte „dritte Person“ im Sinne der Ausnahmeregelung des § 305 Satz 2 StPO ist (OLG Karlsruhe NJW 1977, 309 ff.; OLG München NStZ 2007, 120).

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b) § 181 GVG lässt zwar nur die (sofortige) Beschwerde gegen die Festsetzung von Ordnungsmitteln (§§ 178, 180 GVG) zu und schließt damit grundsätzlich eine solche gegen andere sitzungspolizeiliche Maßnahmen – wie die hier angegriffene (§ 176 GVG) – aus (Kissel/Mayer, GVG,5. Aufl., 2008, Rn 48 zu § 176 und Rn 1 zu § 181; Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl., 2008, Rn 16 zu § 176 GVG und Rn 5 zu § 181 GVG). Die Zurückweisung des Nebenklägervertreters erschöpfte sich aber in ihren Wirkungen nicht in der von § 176 GVG intendierten Aufrechterhaltung der äußeren Ordnung der Verhandlung; vielmehr berührte sie diesen in seiner Rechtsstellung als Rechtsanwalt durch die Festlegung der erforderlichen äußeren Form der Berufsausübung in der konkreten Sitzung sowie durch die bereits angesprochenen – auch gebührenrechtlichen – Konsequenzen auf das Mandatsverhältnis zum Nebenkläger, der ohne den von ihm beauftragten anwaltlichen Beistand in der Hauptverhandlung agieren musste. Diese weitergehenden Wirkungen eröffnen hier ausnahmsweise die Beschwerdemöglichkeit gemäß § 304 Abs. 1 StPO (OLG Karlsruhe, a.a.O.; OLG Zweibrücken NStZ 1988, 144 ff.; OLG München, a.a.O.; LAG Hannover, Beschluss vom 29.09.2008, 16 Ta 333/08).

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c) Der damit in seinem Rechtskreis betroffene Nebenklägervertreter ist als solcher beschwerdebefugt (OLG Karlsruhe, a.a.O.).

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d) Sein Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Zurückweisung besteht auch nach deren Erledigung durch Abschluss des Verfahrens wegen dieser weitergehenden Wirkungen fort (Meyer-Goßner, a.a.O., Rn 18 f. vor § 296).

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2. In der Sache hat die Beschwerde Erfolg. Im Ergebnis fand jedenfalls der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in dem angefochtenen Beschluss keine ausreichende Berücksichtigung.

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a) Allein in Betracht kommende gesetzliche Grundlage für die Zurückweisung des Nebenklägervertreters ist § 176 GVG. Danach obliegt dem Gerichtsvorsitzenden die Aufrechterhaltung der Ordnung in den Sitzungen. Der Sitzungspolizei unterstehen auch Verteidiger (BVerfG NJW 1978, 1048 f.; 1998, 296 ff., 2006, 1500 f.) und in sonstiger Funktion im Verfahren auftretende Rechtsanwälte (Kissel/Mayer, a.a.O., Rn 40 zu § 176, m.w.N.).

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Inhaltlich hat der Vorsitzende in Ausübung seiner sitzungspolizeilichen Aufgabe auch darauf hinzuwirken, dass Verfahrensbeteiligte, die zum Tragen einer Amtstracht verpflichtet sind, dieser Pflicht ordnungsgemäß und vollständig nachkommen (Kissel/Mayer, a.a.O., Rn 19 zu § 176).

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b) In Baden-Württemberg ist die Verpflichtung eines Rechtsanwaltes, in gerichtlichen Sitzungen eine Amtstracht zu tragen, in § 21 Abs. 1 Satz 1 Bad.WürttAGGVG vom 16.12.1975 (GBl. S. 868 ff.) wie folgt gesetzlich geregelt:

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„Richter, Vertreter der Staatsanwaltschaft, Rechtsanwälte und Urkundsbeamte der Geschäftsstelle tragen in den zur Verhandlung oder zur Verkündung einer Entscheidung bestimmten Sitzungen eine Amtstracht, sofern nicht im Einzelfall nach Auffassung des Gerichts das Interesse an der Rechtsfindung eine andere Regelung gebietet“.

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Die Art der Amtstracht ist aufgrund einer entsprechenden Ermächtigung in § 21 Abs. 2 AGGVG durch Rechtsverordnung des baden-württembergischen Justizministeriums vom 01.07.1976 (GBl. 527) bestimmt. Gemäß § 2 Abs. 1 dieser Verordnung entspricht die Amtstracht der Rechtsanwälte (im wesentlichen) der Amtstracht der Richter und Staatsanwälte, die nach deren § 1 Abs. 1

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„aus einer schwarzen Robe mit einem Besatz“ besteht, zu der „ein weißes Hemd mit weißem Langbinder“

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zu tragen ist. Deren § 2 Abs. 1 Satz 2, HS 2 erweitert diese Bestimmung für Rechtsanwälte dahingehend, dass zur Amtstracht

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„auch andere nach Form und Farbe unauffällige, mit der Amtstracht zu vereinbarende Kleidungsstücke getragen werden“

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können.

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aa) Der am 01.07.1976 (§ 49 AGGVG) in Kraft getretene § 21 AGGVG ist wirksam ergangen. Die Kammer folgte darin dem OLG Karlsruhe, welches in seiner Entscheidung vom 25.08.1976 (NJW 1977, 309, 310) im Anschluss an das BVerfG (NJW 1970, 851 ff.) zu dem Ergebnis kam, dass Gegenstand dieser Regelung ein Normenkomplex im Bereich der „Gerichtsverfassung“ und des „gerichtlichen Verfahrens“ i.S. von Art. 74 Nr. 1 GG sei, hinsichtlich dessen der Bundesgesetzgeber von seiner Gesetzgebungskompetenz keinen Gebrauch gemacht habe, so dass dem Landesgesetzgeber das Gesetzgebungsrecht zugekommen sei. Auch im Übrigen sei die gesetzliche Regelung verfassungsrechtlich unbedenklich. Sie habe, soweit sie eine Verpflichtung für Rechtsanwälte begründe, sachlich die Wirkung einer Berufsausübungsregelung, die mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar sei und auch unter dem Gesichtswinkel der Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 GG offensichtlich keinen Bedenken begegne.

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Das BVerfG hatte mit dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Beschluss vom 18.02.1970 (a.a.O.) die Zurückweisung eines ohne Robe vor einer Zivilkammer auftretenden Rechtsanwaltes gebilligt und entschieden, dass die – damals in Baden-Württemberg noch auf vorkonstitutionellem Gewohnheitsrecht beruhende – Verpflichtung der Rechtsanwälte, vor Gericht die Amtstracht zu tragen, als Berufsausübungsregelung mit der Verfassung vereinbar sei. Sie lasse sich mit sachgerechten und vernünftigen Erwägungen des Gemeinwohls rechtfertigen, in deren Rahmen weithin auch Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit berücksichtigt werden könnten: „Es besteht ein erhebliches Interesse der Allgemeinheit daran, dass Gerichtsverhandlungen in guter Ordnung und angemessener Form durchgeführt werden können. Diesem Zweck dient es, wenn auch die an der Verhandlung beteiligten Rechtsanwälte eine Amtstracht tragen. Sie werden dadurch aus dem Kreis der übrigen Teilnehmer an der Verhandlung herausgehoben; ihre Stellung als unabhängiges Organ der Rechtspflege wird sichtbar gemacht (§ 1 BRAO). Darin liegt auch ein zumindest mittelbarer Nutzen für die Rechts- und Wahrheitsfindung im Prozess; denn die Übersichtlichkeit der Situation im Verhandlungsraum wird gefördert und zugleich ein Beitrag zur Schaffung jener Atmosphäre der Ausgeglichenheit und Objektivität geleistet, in der allein Rechtsprechung sich in angemessener Form darstellen kann“. Die Kammer sieht den Geltungsanspruch dieser Erwägungen des BVerfG unverändert als gegeben an.

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bb) Gegen die – ursprüngliche – Wirksamkeit der am 14.08.1976 in Kraft getretenen (§ 4 der VO) Rechtsverordnung vom 01.07.1976, die die Art der Amtstracht regelt, bestehen – auch soweit sich deren § 2 mit der Amtstracht der Rechtsanwälte befasst – ebenfalls keine Bedenken. Formal basierend auf der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage des § 21 Abs. 2 AGGVG, bestimmt die Verordnung inhaltlich zunächst das, was bis zu ihrem Erlass aufgrund gerichtlichen Gewohnheitsrechts zur Robe als Amtstracht galt und insofern von BVerfG (a.a.O.) und OLG Karlsruhe (a.a.O.) vorausgesetzt wurde. Da § 21 Abs. 2 AGGVG zudem auch die Ausgestaltung der Amtstracht im Einzelnen delegiert, bewegen sich die Vorgaben zu den zur Robe zu tragenden Kleidungsstücken (von BVerfGE 34, 138 f. offen gelassen) im Rahmen der ermächtigenden Norm. Diese Vorgaben sollen ein insgesamt angemessenes – nicht durch die übrige Bekleidung konterkariertes – Erscheinungsbild der Amtstracht und damit deren verfassungsgerichtlich sanktionierten Zweck gewährleisten und stellen in ihrer konkreten Ausformung keine die Berufsausübungsfreiheit der Rechtsanwälte unzumutbar einschränkenden Anforderungen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 31.05.2007, 12 N 55.07 und vorausgehend VG Berlin NJW 2007, 793 f.; KG JR 1977, 172).

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c) Allerdings stellt sich heute die Frage nach der – fortbestehenden – Wirksamkeit der baden-württembergischen Regelungen zur Amtstracht der Rechtsanwälte unter einem anderen Gesichtspunkt. Eine Verpflichtung zum Tragen einer Berufstracht vor Gericht ergibt sich für Rechtsanwälte nämlich zwischenzeitlich auch aus § 20 ihrer Berufsordnung (BORA), der in Satz 1 regelt:

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„Der Rechtsanwalt trägt vor Gericht als Berufstracht die Robe, soweit das üblich ist“.

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Weitergehende Pflichten in Bezug auf die zur Robe zu tragenden Kleidungsstücke legt die Berufsordnung – auf die sich der Nebenklägervertreter ausdrücklich beruft – den Rechtsanwälten nicht auf.

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Das Verhältnis von § 20 BORA zu den landesrechtlichen Regelungen der Amtstracht von Rechtsanwälten ist umstritten.

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Der Bundesgesetzgeber hat durch das Gesetz zur Neuordnung des anwaltlichen Berufsrechts vom 02.09.1994 (BGBl. I S. 2278) § 59b in die Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) eingefügt und damit im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung von der ihm nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zustehenden Gesetzgebungskompetenz für das Gebiet der Rechtsanwaltschaft Gebrauch gemacht. Nach § 59b Abs. 1 BRAO wird das Nähere zu den beruflichen Pflichten der Rechtsanwälte durch Satzung in einer Berufsordnung bestimmt, die – nach Abs. 2 Nr. 6 – im Rahmen der Vorschriften dieses Gesetzes die besonderen Berufspflichten gegenüber Gerichten und Behörden regeln kann, u.a. – gemäß Abs. 2 Nr. 6 c) – das Tragen der Berufstracht. Diese Befugnis setzte die Satzungsversammlung der Bundesrechtsanwaltskammer (§ 191a BRAO) in § 20 BORA um.

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aa) Nach der h.M. in der Literatur hat der Bundesgesetzgeber durch § 59b Abs. 2 Nr. 6 c) BRAO die Frage der Amtstracht der Rechtsanwälte in abschließender Weise aus dem Regelungskomplex „Gerichtsverfassung und gerichtliches Verfahren“, in welchem das BVerfG sie 1970 (NJW 1970, 851 ff.) verankert hatte, und damit auch aus der entsprechenden Länder-Zuständigkeit herausgelöst und sie allein den berufsrechtlichen Regelungen der Anwaltschaft überantwortet. Für aus landesrechtlichen Vorschriften wie § 21 AGGVG i.V.m. § 2 der Rechtsverordnung des baden-württembergischen Justizministers vom 01.07.1976 oder gar aus dem Gewohnheitsrecht abgeleitete Pflichten der Rechtsanwälte zum Tragen der Amtstracht besteht nach dieser Meinung – aufgrund der sich aus Art. 72 Abs. 1 GG ergebenden Sperrwirkung des Bundesrechts – neben § 20 BORA kein Raum mehr (Henssler/Prütting-Dittmann, BRAO, 2. Aufl., Rn 8 zu § 20 BORA; Feuerich/Weyland, BRAO, 6. Aufl., Rn 2 zu § 20 BORA; Hartung-Scharmer, Anwaltliche Berufsordnung, 3. Aufl., Rn 31 f. zu § 20 BORA; Kleine-Cosack, BRAO, 4. Aufl., Rn 2 zu § 20 BORA; Dahns, NJW-Spezial 2008, 734 f.; Fischer, jurisPR-ArbR 47/2008 Anm. 6; Weihrauch, StV 2007, 28 f.; Pielke, NJW 2007, 3251; Eylmann, AnwBl. 1996, 190 f.; so auch GenStA beim OLG Frankfurt, Einstellungsverfügung vom 05.01.2007, 3 Zs 2745/06).Auch aus dem Umstand, dass § 20 BORA weder das Aussehen der Robe beschreibt noch auf dazu zu tragende Kleidungsstücke eingeht, leiten die Vertreter dieser Ansicht keine entsprechende Regelungskompetenz der Länder ab. Die Satzungsversammlung der Bundesrechtsanwaltskammer habe diesbezüglich keinen Regelungsbedarf gesehen; weitergehende Bestimmungen auf Länderebene würden die vom Bundesgesetzgeber gewollte Satzungskompetenz der Anwaltschaft aushöhlen (vgl. Kleine-Cosack, a.a.O. Rn 4 zu § 20 BORA; Pielke, a.a.O.; Weihrauch, a.a.O.).

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bb) Demgegenüber sahen das OLG Braunschweig (NJW 1995, 2113, 2114), das OLG München (NStZ 2007, 120) und zuletzt das VG Berlin (NJW 2007, 793 f.) keine die Frage der Wirksamkeit aufwerfende Kollision zwischen einerseits berufsrechtlichen und andererseits landes- bzw. gewohnheitsrechtlichen Regelungen zur anwaltlichen Amtstracht, da das eine das Standes- bzw. Berufsrecht und das andere die sich aus der Gerichtsverfassung und dem Verfahrensrecht ergebenden Pflichten betreffe; beide Regelungen stünden unabhängig nebeneinander.

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cc) Das OVG Berlin-Brandenburg nahm in seiner Entscheidung vom 31.05.2007 (Az. 12 N 55.07) über die Berufung gegen das vorgenannte Urteil des VG Berlin einen vermittelnden Standpunkt ein. Inhaltlich ging es in dem zugrunde liegenden Fall um die Rechtmäßigkeit der Allgemeinen Verfügung über die Amtstracht der Berliner Rechtspflegeorgane der Senatsverwaltung für Justiz vom 03.02.2004, der zufolge u.a. Rechtsanwälte verpflichtet sind, zu einer schwarzen Robe ein weißes Hemd und eine weiße Krawatte zu tragen oder Hemd und Krawatte in einer anderen unauffälligen Farbe. Der Bundesgesetzgeber habe – so das OVG in Abweichung von der unter bb) dargelegten Rechtsprechung – im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung die anwaltlichen Berufspflichten als Regelungsgegenstand aufgegriffen (s.o. II.2.c. zur Einfügung von § 59b in die BRAO); dieser Vorgang entfalte gemäß Art. 72 Abs. 1 GG Sperrwirkung für eine Gesetzgebungstätigkeit der Länder, solange und soweit der Bund einen Komplex erschöpfend geregelt habe. Das sei – wie das OVG entgegen der herrschenden Literaturmeinung (aa.) ausführt – vorliegend nicht der Fall. Vielmehr habe das Tätigwerden des Bundesgesetzgebers mit der Einfügung des § 59b BRAO und dem auf dieser Grundlage erlassenen § 20 BORA lediglich dazu geführt, dass das Tragen einer Robe als Berufstracht, soweit das üblich ist , festgelegt worden sei. Dieser Verweis auf die Üblichkeit schließe es aus, von einer erschöpfenden Regelung im Sinne der von Art. 72 Abs. 1 GG ausgehenden Sperrwirkung zu sprechen. Folglich bleibe auf der Ebene unterhalb der Grundpflicht zum Tragen der Berufstracht Raum für ergänzende Regelungen der Länder im Rahmen der Justizhoheit (so auch Weber NJW 1998, 1674). In diesen Zusammenhang sei die Allgemeine Verfügung der Senatsverwaltung für Justiz einzuordnen. Sie sei wegen der zuvor beschriebenen Sperrwirkung für das Tragen der Robe nicht konstitutiv, doch bestimme sie auf der Grundlage des AGGVG und ergänzend des Gewohnheitsrechts die Üblichkeit im Sinne des § 20 BORA. Solange weder der Bundesgesetzgeber noch die Satzungsorgane der Anwaltschaft eigene Festlegungen aufgestellt hätten, bestehe die Regelungskompetenz der Länder in diesem eingeschränkten Sinne fort.

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d)Die Kammer sieht sich nicht dazu veranlasst, die Frage, ob § 2 der Rechtsverordnung des baden-württembergischen Justizministeriums vom 01.07.1976 aktuell neben § 20 BORA noch Wirkung entfaltet, abschließend zu bewerten. Denn auch bei Anwendung dieser Landesvorschrift war die Zurückweisung des Nebenklägervertreters nicht gerechtfertigt.

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Nach § 2 Abs. 1 Satz 3, HS 1 der Rechtsverordnung war der Nebenklägervertreter allerdings grundsätzlich verpflichtet, zur Robe einen Langbinder, also eine Krawatte, zu tragen. Diese Verpflichtung wird durch die Regelung in § 2 Abs. 1 Satz 3, HS 2 nicht aufgehoben. Dort ist zwar erweiternd von anderen nach Form (und Farbe) unauffälligen, mit der Amtstracht zu vereinbarenden Kleidungsstücken die Rede, die zu dieser getragen werden können. Mit dieser Formulierung, die in ihrer Unbestimmtheit zu Irritationen Anlass geben mag, wird aber die „Krawattenpflicht“ nach Ansicht der Kammer nicht suspendiert, sondern – an sie anknüpfend – Raum für angemessene Alternativen (z.B. für das Tragen eines Querbinders) geschaffen.

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An diesem Maßstab gemessen, der nach dem Eindruck der Kammer auch heute noch die Realität im Alltag der hiesigen Strafgerichte widerspiegelt und sich auf einen nach wie vor breiten Konsens zwischen Justiz und Anwaltschaft im Bereich des Strafrechts stützen kann, erschien der Nebenklägervertreter in der Hauptverhandlung am 27.10.2008 in unvollständiger Amtstracht.

49
e) § 176 GVG gibt in diesem Zusammenhang – um zu der Ausgangsfrage nach der Rechtsgrundlage des angefochtenen Beschlusses zurückzukehren – dem Vorsitzenden als Sitzungspolizei grundsätzlich die Befugnis, einen (aus prinzipiellen Erwägungen) ohne Robe auftretenden Rechtsanwalt in der betreffenden Sitzung zurückzuweisen (BVerfG NJW 1970, 851 ff. ohne Nennung einer Ermächtigungsgrundlage; BGH NJW 1977, 399 ff.; BayVerfG AnwBl 72, 228 f.; KG NJW 1970, 482 ff.; OLG Karlsruhe, NJW 1977, 309 ff.; OLG Braunschweig, NJW 1995, 2113 ff.; Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl., 2008, Rn 4 zu § 176 GVG; Meyer-Goßner, a.a.O. Rn 11 zu § 176 GVG; Malmendier NJW 1997, 232 ff.; a.A.: LAG Hannover, a.a.O.; Kissel, a.a.O., Rn 20 zu § 176; LR Wickern, StPO. 25. Aufl., Rn 17 zu § 176 GVG). Eine entsprechende Befugnis kann aus § 176 GVG indes für einen in Robe, aber ohne Krawatte auftretenden Rechtsanwalt aus Gründen der Verhältnismäßigkeit im Allgemeinen nicht hergeleitet werden (BGH StV 1988, 418; OLG Zweibrücken NStZ 1988, 144 f.; OLG Celle StraFo 2002, 301 und 355 ; Meyer-Goßner, a.a.O.; Malmendier, a.a.O.; a.A.: KG JR 1977, 172).

50
Vorliegend hatte das Amtsgericht nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu entscheiden, welche Maßnahmen es zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Sitzungssaal gegenüber dem Nebenklägervertreter ergreift. Ungeachtet des dabei von ihm eingenommenen – hier auch von der Kammer zugrunde gelegten – rechtlichen Standpunktes zur Frage der anwaltlichen Amtstracht und ihrer Vollständigkeit hätte die insoweit bestehende, durch divergierende landes- und berufsrechtliche Vorschriften gekennzeichnete, mithin insgesamt unklare bzw. ungeklärte Rechtslage bei der Bewertung des beanstandeten Verhaltens zu Gunsten des Nebenklägervertreters Berücksichtigung finden müssen. Ohnehin muss, da er in geschlossener Robe auftrat und die darunter getragenen Kleidungsstücke nicht geeignet waren, die Würde des Gerichts (vgl. § 175 Abs. 1 GVG) in Frage zu stellen, in dem konkreten Verstoß gegen die Pflicht, eine Krawatte zu tragen, eine eher geringe Störung der Verhandlungsordnung gesehen werden. Diese erhielt allerdings dadurch zusätzliches Gewicht, dass der Nebenklägervertreter die Ermahnungen des Gerichts und die Aufforderung, seine Amtstracht zu vervollständigen, trotz entsprechender Gelegenheit ignorierte. Auch eingedenk dessen gab die „Störung“ jedoch keinen hinreichenden Anlass, den Nebenklägervertreter zurückzuweisen. Denn im Mittelpunkt der dem Amtsgericht obliegenden Verhältnismäßigkeitsprüfung musste der damit einhergehende jeweils erhebliche Eingriff in die Berufsfreiheit des Nebenklägervertreters als einem unabhängigen Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) und insbesondere in den Anspruch des Nebenklägers auf Wahrnehmung seiner Rechte durch den Anwalt seines Vertrauens – und somit den Anspruch auf rechtliches Gehör – stehen. Mit der Zurückweisung seines anwaltlichen Beistands, die der Nebenkläger selbst nicht zu beeinflussen vermochte, war er darauf verwiesen, seine spezifischen Rechte in der Hauptverhandlung nunmehr alleine zu erkennen und auszuüben. Diese weiterreichenden Folgen der beanstandeten Maßnahme lässt die angegriffene Entscheidung außer Acht, wenn sie maßgeblich nur auf den Nebenklägervertreter mit dem Argument abhebt, der pflichtwidrig Handelnde habe solche Nachteile hinzunehmen, die er ohne unzumutbare Belastung – hier durch das Tragen einer Krawatte – hätte abwenden können. Damit lässt die Bedeutung der durch die angefochtene sitzungspolizeiliche Maßnahme insgesamt beschränkten Rechte im Ergebnis das Interesse an einem geordneten Verhandlungsablauf – hier: der Pflicht des Rechtsanwalts, eine Krawatte zu tragen – zurücktreten.

51
Der den Nebenklägervertreter zurückweisende Beschluss des Amtsgerichts Mannheim ist somit wegen fehlerhafter Ermessensausübung rechtswidrig.

III.

52
Die Kostenentscheidung beruht auf der analogen Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.

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