Zur Frage der Schadensminderungspflicht des Unfallgeschädigten mittels Vorfinanzierung

OLG Celle, Urteil vom 15.05.2018 – 14 U 179/17

Zur Frage, wann ein Verkehrsunfallgeschädigter im Rahmen seiner Schadensminderungspflicht verpflichtet ist, den Schaden aus eigenen Mitteln, z.B. durch Kreditaufnahme oder Inanspruchnahme einer bestehenden Vollkaskoversicherung vorzufinanzieren.

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das am 15. November 2017 verkündete Urteil des Einzelrichters der 2. Zivilkammer des Landgerichts Stade abgeändert und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 3.564,22 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 24. Juni 2017 zu zahlen.

Von den Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger 48 % und die Beklagte 52 % zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe
I.

1
Die zulässige Berufung des Klägers ist im tenorierten Umfang begründet.

2
Der Kläger hat gegen die Beklagte noch einen Anspruch auf Erstattung der durch den Verkehrsunfall vom 6. Juli 2016 entstandenen Mietwagenkosten in Höhe von 3.564,22 € gemäß §§ 7 Abs. 1 StVG, 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG, 249 ff. BGB.

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1. Der Kläger hat nicht gegen seine Schadensminderungspflicht verstoßen.

4
Der Kläger ist unter dem Gesichtspunkt der Schadensminderungspflicht nicht generell gehalten, den Schaden aus eigenen Mitteln vorzufinanzieren, um die Anmietzeit eines Ersatzfahrzeugs zugunsten des Schädigers möglichst kurz zu halten.

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a) Das Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt hat mit Urteil vom 15. Juni 2017 (9 U 3/17 – juris Rn. 6 ff.) hierzu entschieden:

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„Die Auffassung der Beklagten, dass ein Geschädigter unter dem Gesichtspunkt der Schadensminderungspflicht generell gehalten sei, den Schaden aus eigenen Mitteln vorzufinanzieren, entspricht nicht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.

7
(…)

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Nach Auffassung des BGH ist der Geschädigte im Rahmen der ihm nach § 254 Abs. 2 Satz 1 BGB obliegenden Schadensminderungspflicht nicht stets gehalten, ein Deckungsgeschäft vorzunehmen. Dies muss vielmehr im Einzelfall von der Sache her geboten und ihm auch zuzumuten sein. Insbesondere kann eine Pflicht des Geschädigten, zur Schadensbeseitigung einen Kredit aufzunehmen, nur unter besonderen Umständen angenommen werden. Die Rechtsprechung hat eine solche Pflicht nur ausnahmsweise bejaht. Es ist grundsätzlich Sache des Schädigers, die vom Geschädigten zu veranlassende Schadensbeseitigung zu finanzieren. Der Geschädigte hat Anspruch auf sofortigen Ersatz und ist nicht verpflichtet, den Schaden zunächst aus eigenen Mitteln zu beseitigen oder zur Vermeidung von Folgeschäden Kredit aufzunehmen. Vielmehr hat der Schädiger grundsätzlich auch die Nachteile zu ersetzen, die daraus herrühren, dass der Schaden mangels sofortiger Ersatzleistung nicht gleich beseitigt worden ist und sich dadurch vergrößert hat. Das Risiko, dem Geschädigten überhaupt zum Ersatz verpflichtet zu sein, trägt dabei der Schädiger, wie es umgekehrt zu Lasten des Geschädigten geht, wenn ein anfänglicher Streit über den Haftungsgrund später zu seinen Ungunsten geklärt wird (BGH, Urteil vom 26.05.1988, III ZR 42/87, zitiert nach Juris). Allenfalls kann eine Verpflichtung des Geschädigten, den Schaden zunächst aus eigenen Mitteln zu beseitigen oder gar Kredit zur Schadensbehebung aufzunehmen, ausnahmsweise dann bejaht werden, wenn der Geschädigte sich den Kredit ohne Schwierigkeiten beschaffen kann und er durch die Rückzahlung nicht über seine wirtschaftlichen Verhältnisse hinaus belastet wird (BGH, Urteil vom 18.02.2002, II ZR 355/00, zitiert nach Juris). Nach diesen Grundsätzen ist es die Regel und nicht etwa die Ausnahme, dass der Geschädigte die Reparatur nicht vorfinanzieren muss. Zunächst ist es Aufgabe des Schädigers bzw. des gesamtschuldnerisch mit ihm haftenden Versicherers, für eine umgehende Reparatur und für die Vermeidung von weiteren Kosten zu sorgen.“

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b) Angesichts des unstreitigen (niedrigen) Renteneinkommens des Klägers von lediglich ca. 800,00 € monatlich liegt es auf der Hand, dass er kein Darlehen in Höhe der Reparaturkosten von über 9.500,00 € erhalten hätte. Jedenfalls wäre ihm die Aufnahme eines solchen Darlehens auf eigenes Risiko nicht zumutbar gewesen. Insofern bedurfte es keines weiteren Vortrages des Klägers zu seinen Einkommensverhältnissen bzw. Bemühungen um die Erlangung eines entsprechenden Darlehens.

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2. Der Kläger war auch nicht verpflichtet, zur Ermöglichung eines sofortigen Reparaturbeginns seine Vollkaskoversicherung in Anspruch zu nehmen.

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a) Auch hierzu verhält sich das o. g. Urteil des Oberlandesgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 15. Juni 2017 (9 U 3/17 – juris Rn. 13 ff.):

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„Seine gegenteilige Auffassung hat das Landgericht auf eine Entscheidung des OLG Naumburg vom 19.02.2004, 4 U 146/03, gestützt. Diese Entscheidung des OLG Naumburg aus dem Jahr 2004 ist in späteren Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte kritisiert worden. Dort ist angenommen worden, dass unabhängig davon, ob dies eine Frage der Erforderlichkeit der Kosten oder der Schadensminderungspflicht ist, weder eine Obliegenheit, noch eine Pflicht des Geschädigten besteht, zur Entlastung des Schädigers seine Vollkaskoversicherung einzusetzen (OLG Dresden, Urteil vom 04.05.2012, 1 U 1797/11; OLG Düsseldorf, Urteil vom 15.10.2007, 1 U 52/07, jeweils zitiert nach Juris). Sinn und Zweck der Kaskoversicherung sei gerade nicht die Entlastung des Schädigers. Der Versicherungsnehmer einer Vollkaskoversicherung erkaufe sich den Versicherungsschutz vielmehr für die Fälle, in denen ihm ein nicht durch andere zu ersetzender Schaden verbleibe. Insoweit seien auch die Erwägungen, die bei der Vorteilsausgleichung gelten, heranzuziehen. Versicherungsleistungen an den Geschädigten entlasteten danach den Schädiger nicht.

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Dieser Gedanke entspricht der Rechtsprechung des BGH. Dieser hat ausgeführt, Versicherungsleistungen, die sich ein Geschädigter durch die Zahlung der Versicherungsprämien selbst „erkauft“ habe, könnten dem Schädiger nicht im Wege der Vorteilsausgleichung zugute kommen (BGH, Urteil vom 12.03.2009, VII ZR 88/08, zitiert nach Juris).

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Dies legt es nahe, dass dem Schädiger auch der durch die Klägerin erkaufte Kaskoversicherungsschutz nicht zugutekommen darf in der Weise, dass sich ihr Anspruch gegen den Schädiger bzw. die Beklagte verringert, wenn sie die Kaskoversicherung nicht in Anspruch nimmt.

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Nicht zu begründen ist nach Auffassung des OLG Düsseldorf auch, dass der Geschädigte nach Auffassung des OLG Naumburg auch verpflichtet sein soll, noch vor der Inanspruchnahme seiner Vollkaskoversicherung Berechnungen darüber anzustellen, ob der durch Zeitablauf drohende Schaden größer sein wird als der durch Verlust des Schadensfreiheitsrabatts. Da der Geschädigte seinen drohenden Rabattverlust mit der erforderlichen Sicherheit für die Zukunft gar nicht oder nur mit Schwierigkeiten konkret berechnen könne, wäre der Geschädigte dem Risiko ausgesetzt, sich vom Schädiger eine Fehleinschätzung vorhalten zu lassen. Einen Grund dafür, den Geschädigten – auch bei anwaltlicher Beratung – mit solchen Unsicherheiten zusätzlich zu belasten, sei nicht zu erkennen.

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Schon die vom OLG Dresden und dem OLG Düsseldorf genannten Argumente sprechen dafür, eine Verletzung der Schadensminderungspflicht hier nicht darin zu sehen, dass die Klägerin die Kaskoversicherung nicht in Anspruch genommen hat. Jedenfalls unter den konkreten Umständen des vorliegenden Sachverhalts erscheint es unbillig, der Klägerin die Nichtinanspruchnahme der Kaskoversicherung als Verletzung der Schadensminderungspflicht anzulasten. Auf derartige Umstände kommt es auch nach Auffassung der Entscheidung des OLG Naumburg zum Az. 4 U 146/03 an; auch nach jener Entscheidung ist bei der Frage der Zumutbarkeit auf den Grundsatz von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB abzustellen. Welche Kosten ein verständiger, wirtschaftlich denkender Mensch in der Lage des Geschädigten für erforderlich halten darf, hängt stark von den Umständen des Einzelfalls ab.

17
(…)

18
Es war in erster Linie Aufgabe des Schädigers und der gesamtschuldnerisch mit diesem haftenden Beklagten, den Zeitraum, in dem das beschädigte Fahrzeug unfallbedingt nicht zur Verfügung stand, zu begrenzen und damit eine Vergrößerung des Schadens durch Nutzungsausfall oder Mietwagenkosten zu verhindern. Dies ergibt sich aus der BGH-Rechtsprechung, derzufolge der Schädiger grundsätzlich auch die Nachteile zu ersetzen hat, die daraus herrühren, dass der Schaden mangels sofortiger Ersatzleistung nicht gleich beseitigt worden ist und sich dadurch vergrößert hat.“

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b) Dieser Auffassung schließt sich der Senat an. Der Kläger hat sehr zeitnah nach dem Unfall die Beklagte mit anwaltlichem Schreiben vom 13. Juli 2016 (Anlage K 2 – Anlagenhefter) mitgeteilt, dass er nicht in der Lage sei, die Reparatur vorzufinanzieren und dass er auf eine umgehende Zahlung der Beklagten angewiesen sei, ansonsten mit hohen Mietwagenkosten zu rechnen sei. Die Beklagte hat demgegenüber zunächst pflichtwidrig eine Einstandspflicht mit der Begründung, dass ein Kfz-Haftpflichtversicherungsschutz nicht mehr bestehe, abgelehnt und erst mit Schreiben vom 4. August 2016 gezahlt, woraufhin der Kläger unmittelbar danach den Reparaturauftrag erteilt hat. Eine schuldhafte Verletzung der Schadensminderungspflicht des Klägers vermag der Senat darin nicht zu erkennen, zumal der Kläger nach Erhalt des Schreibens der Beklagten vom 8. Juli 2016 – unbestritten – sofort seine Kaskoversicherung über den Schadensfall informiert hat.

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c) Auch darin, dass der Kläger nicht gleich einen – günstigeren – Vertrag für 40 Tage abgeschlossen hat, liegt keine Verletzung der Schadensminderungspflicht. Als der Mietvertrag abgeschlossen wurde, war nicht absehbar, wann die Reparatur erfolgen würde und wie lange daher die Mietzeit andauern würde. Der Kläger konnte nicht wissen, wann die Beklagte über die Haftungsübernahme entscheiden würde. Dem Kläger konnte deswegen auch nicht zugemutet werden, die Reparatur „auf die eigene Kappe zu nehmen“, zumal er sich das nicht leisten konnte. Einen günstigeren Wochentarif musste der Kläger nicht auswählen, da er zunächst nicht mit einer Mietzeit von mehr als einer Woche rechnen musste, nicht einmal damit, dass diese Zeit erreicht werden würde; die Reparaturdauer betrug laut Gutachten auch lediglich 6 bis 7 Arbeitstage (Anlage K 1 – Anlagenhefter). Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Kläger zwischenzeitlich den bestehenden Mietvertrag hätte abändern müssen oder können.

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3. Anders als das Landgericht meint, steht dem Kläger kein Anspruch auf Nutzungsausfall, sondern auf Ersatz der Mietwagenkosten gemäß §§ 7 Abs. 1 StVG, 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG, 249 ff. BGB zu.

22
Die Höhe der erstattungsfähigen Mietwagenkosten bestimmen sich nach dem sogenannten Normaltarif (vgl. dazu Senat, Urteil vom 1. Februar 2017 – 14 U 61/16 -, juris).

23
a) Gründe von der ständigen Rechtsprechung des Senats, wonach der erstattungsfähige Normaltarif aus dem arithmetischen Mittel von „Schwacke“ und „Fraunhofer“ gem. § 287 ZPO geschätzt wird, abzuweichen, ergeben sich aus dem Vortrag der Parteien nicht, so dass bei der Berechnung Folgendes zu berücksichtigen ist:

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aa) Die Kosten für eine Reduzierung der Selbstbeteiligung sind grundsätzlich erstattungsfähig, ohne dass es auf die Frage ankommt, ob der Kläger ebenfalls seine – unstreitig abgeschlossene – Vollkaskoversicherung ebenfalls ohne oder lediglich mit Selbstbeteiligung abgeschlossen hat.

25
bb) Demgegenüber hat der Kläger nichts dazu vorgetragen, dass sein beschädigtes Kfz mit Navigationsgerät und Automatikgetriebe ausgestattet war und auch nichts für die Notwendigkeit dieses Zubehörs vorgetragen, so dass die hierfür angefallenen Kosten nicht erstattungsfähig sind.

26
cc) Die Kosten für die Zustellung und Abholung des Ersatzfahrzeugs sind demgegenüber nach ständiger Senatsrechtsprechung grundsätzlich erstattungsfähig. Die Beklagte hat die Zustellung bzw. Abholung des Mietwagens auch nicht bestritten.

27
dd) Schließlich ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats auch ein Abzug in Höhe von 5 % für ersparte Aufwendungen vorzunehmen, da der Kläger ein typenklassengleiches Fahrzeug (Audi A4 / VW Passat) als Ersatzfahrzeug gemietet hat.

28
b) Im Einzelnen berechnet sich der Normaltarif danach wie folgt:

29
Schwackepauschale für 7 Tage: 718,86 €, mithin pro Tag 102,69 €,
mithin für 40 Tage: 4.107,77 €,
Fraunhoferpauschale für 7 Tage: 273,16 €, mithin pro Tag 39,02 €,
mithin für 40 Tage: 1.560,91 €
Mittelwert aus Schwacke und Fraunhofer: (4.107,77 + 1.560,91)/2 = 2.897,43 €
Nebenkosten insgesamt: (Reduzierung VK-SB 1.000,00 €: 40 x 27,73 € = 1.109,20 €;
Reduzierung VK-SB 150,00 €: 40 x 18,49 €= 739,60 €;
Kosten für Zustellung u. Abholung: 2 x 27,73 € = 55,46 €) 1.904,26 €
Summe Mittelwert und Nebenkosten: brutto 4.801,69 €
Abzüglich ersparte Eigenleistungen: 5 % von 4.801.69 € = 240,08 €
Normaltarif: 4.561,60 €
bereits gezahlt: 997,38 €
offene Forderung: 3.564,22 €

42
4. Der Zinsanspruch folgt aus §§ 291, 288 Abs. 1 BGB.

II.

43
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hat ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO, 26 Nr. 8 EGZPO.

44
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und der Senat nicht von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes oder eines anderen Oberlandesgerichts abweicht, so dass auch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung keine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordern, § 543 ZPO.

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