Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18.04.2012 – L 22 R 249/11
Ein Rentenversicherungsträger genügt seiner gesetzlichen Hinweispflicht nur dann, wenn er das Hinweisschreiben nicht nur absendet, sondern auch dafür Sorge trägt, dass die Information den Versicherten tatsächlich erreicht. Kommt es hierüber zwischen den Beteiligten zum Streit, ist nach den Grundsätzen der Beweislast die Beklagte in der Nachweispflicht. Für ein solches Hinweisschreiben besteht weder eine Zugangsvermutung noch gelten die Grundsätze des Anscheinsbeweises (Rn. 89).
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. Januar 2011 geändert.
Unter Änderung des Bescheides der Beklagten vom 13. Juni 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. September 2008 wird die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab 01. Oktober 2005 Altersrente für schwerbehinderte Menschen unter Anrechnung gezahlter Rentenleistungen zu gewähren.
Die Beklagte erstattet die außergerichtlichen Kosten der Klägerin für beide Instanzen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
1
Im Streit ist der Beginn der Altersrente, die die 1945 geborene Klägerin von der Beklagten ab 01. Mai 2008 bezieht.
2
Auf den Antrag der Klägerin vom 28. April 2000 bewilligte ihr die Beklagte mit Bescheid vom 06. Dezember 2000 Rente wegen Berufsunfähigkeit beginnend mit dem 01. Mai 2000 längstens bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres mit Beginn der Regelaltersrente.
3
Am 30. Mai 2008 bei der Beklagten eingehend beantragte die Klägerin auf dem beigefügten Vordruck Altersrente wegen Vollendung des 60. Lebensjahres für schwerbehinderte Menschen im Sinne des § 2 Abs. 2 des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches oder für Berufsunfähige oder Erwerbsunfähige als Vollrente beginnend am 01. Oktober 2005.
4
Sie führte aus, dass ihr erst beim Ausfüllen der Formulare, die sie sich aus dem Internet besorgt habe, aufgefallen sei, dass sie bereits ab dem 60. Lebensjahr einen Anspruch auf die höhere Altersrente habe. Sie sei entsetzt und enttäuscht, dass sie so gar nichts darüber von der Beklagten gehört habe. Schließlich sei sie doch schon lange berufsunfähig und erhalte deswegen eine Rente.
5
Mit Bescheid vom 13. Juni 2008 bewilligte die Beklagte der Klägerin auf ihren Antrag vom 30. Mai 2008 anstelle der bisherigen Rente Altersrente für schwerbehinderte Menschen beginnend am 01. Mai 2008 laufend mit monatlich 1.607,36 Euro. Ergänzend wurde unter Bezugnahme auf das Schreiben der Klägerin vom 29. Mai 2008 ausgeführt, es werde bedauert, dass die Klägerin keine Kenntnis von der Möglichkeit des Bezugs einer Altersrente wegen Schwerbehinderung ab dem 60. Lebensjahr gehabt habe. Allerdings sei mit Schreiben vom 05. September 2005 ausdrücklich auf diese Möglichkeit hingewiesen worden. Sie sei daher nicht in der Lage, eine Altersrente rückwirkend zu bewilligen. Die Altersrente beginne daher mit Beginn des Antragsmonats am 01. Mai 2008.
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Mit dem am 11. Juli 2008 bei der Beklagten eingegangenen Widerspruch teilte die Klägerin mit, ihr sei ein Schreiben mit der nahe liegenden Gestaltungsmöglichkeit nicht zugegangen. Seit einigen Jahren sei die Postzustellung an ihrem Wohnort sehr wechselhaft. Es gebe Zeiträume, in denen sie alle Post erreiche, aber sie müsse immer wieder feststellen wie im geschilderten Fall, dass sie sie nicht erreicht habe. Gern sei sie bereit, an Eides Staat zu erklären, dass sie bei Kenntnis der Sach- und Rechtslage rechtzeitig einen entsprechenden Antrag auf Altersrente gestellt hätte. Aus ihrer Sicht gebe es keinen einsichtigen Grund, warum sie auf diese deutliche Gestaltungsmöglichkeit hätte verzichten können. Der berechnete Nachzahlungsbetrag spreche eine mehr als deutliche Sprache.
7
Mit Widerspruchsbescheid vom 22. September 2008 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Maßgebliche gesetzliche Vorschrift bilde der § 99 SGB VI. Der Antrag auf Altersrente sei am 30. Mai 2008 gestellt. Die Anspruchsvoraussetzungen für diese Altersrente seien bereits am 04. September 2005 erfüllt gewesen. Wenn der Antrag nicht innerhalb von drei Kalendermonaten nach Ablauf des Monats beantragt worden sei, indem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt waren, beginne die Altersrente mit dem Monat der Antragstellung am 01. Mai 2008. Am 05. September 2005 sei ein aufklärendes Schreiben nach § 115 Abs. 6 SGB VI der Klägerin übersandt worden. Der Postrücklauf sei nicht zu verzeichnen, so dass davon ausgegangen werden könne, dass das Schreiben auch zugegangen sei. Am 10. August 1989, 14. November 1997 und 26. Juni 2000 seien der Klägerin Rentenauskünfte erteilt worden, in denen die Voraussetzungen für die einzelnen Altersrentenarten mitgeteilt worden seien. Ferner dürfe es selbstverständlich sein, dass der Versicherte, der in absehbarer Zeit das Alter für die Gewährung einer Altersrente erreiche, sich vorab bei seinem Rentenversicherungsträger über die Anspruchsvoraussetzungen für Altersrenten informiere. Die Klägerin habe keine der Informationsmöglichkeiten genutzt.
8
Mit der am 13. Oktober 2008 beim Sozialgericht (SG) eingegangenen Klage wendet sich die Klägerin gegen den Widerspruchsbescheid vom 22. September 2008. Sie hat zur Begründung der Klage insbesondere vorgetragen, beim Ausfüllen der Rentenantragsvordrucke habe sie nach Studium der Hinweisblätter den Hinweis gefunden, dass sie bereits mit Vollendung ihres 60. Lebensjahres einen Anspruch auf ungekürzte Altersrente habe. Dass sie einen derartigen Anspruch grundsätzlich besitze, sei ihr bereits klar gewesen, aber in sämtlichen Medien habe sie immer gelesen, dass ihr Jahrgang von einer Rentenminderung betroffen sei. Mit ihrem Mann habe sie besprochen, dass sie sich lieber für drei Jahre noch etwas beschränken wollten und dass sie dafür dann ab ihrem 63. Geburtstag die ungekürzte Rente in Anspruch nehmen würde. Das behauptete Hinweisschreiben habe sie nicht erhalten. Die Deutsche Rentenversicherung Bund habe im Internet Bemerkungen zum § 115 geschrieben, dass in den Fällen, in denen eine Versendung dieser Mitteilung nicht erfolgt sei, die Angelegenheit zugunsten des Berechtigten zu bereinigen sei. Dass ihr ab und an Post entwendet werde, solle man nicht ihr zur Last legen. Der Widerspruchsbescheid habe sie dann tief getroffen, weil die zentrale Widerspruchsstelle überhaupt nicht auf ihre Situation und auch nicht auf die Verfahrensweise der Deutschen Rentenversicherung Bund eingegangen sei. Eigentlich sei sie aber in der gleichen Situation wie all die Versicherten, die vor 2004 einen Anspruch auf ungekürzte Rente hatten, aber davon nichts wussten. In der mündlichen Verhandlung des SG hat die Klägerin erklärt:
9
Wenn ich das Hinweisschreiben erhalten hätte, wäre dies für mich ein Anstoß gewesen, bei der Beklagten mich nochmals über meine konkreten Rentenansprüche zu erkundigen oder einen Rentenberater aufzusuchen. Für mich stand bis dahin immer fest, dass ich erst mit Vollendung des 63. Lebensjahres eine Altersrente ohne Abschlag beziehen könnte, nach Vollendung des 60. Lebensjahres jedoch nur mit Abschlag.
10
Sie hat erstinstanzlich beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 13. Juni 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. September 2008 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen bereits ab dem 01. Oktober 2005 zu gewähren.
12
Die Beklagte hat beantragt,
13
die Klage abzuweisen.
14
Die Beklagte verteidigte ihre Entscheidungen. Die Klägerin habe auf das Informationsschreiben vom 05. September 2005 nicht reagiert. Sie habe gewusst, dass sie nach Vollendung des 60. Lebensjahres einen Anspruch auf Altersrente gehabt habe und habe sich bezüglich genauerer Auskunft hierzu nie an den Rentenversicherungsträger gewandt.
15
Im Versicherungskonto der Klägerin sei die Absendung des Informationsschreibens nach § 115 Abs. 6 SGB VI gespeichert. Dies wäre der Fall nicht gewesen, wenn der Klägerin kein entsprechendes Schreiben übersandt worden wäre. Die nicht rechtzeitige Rentenantragstellung habe die Klägerin selbst zu verantworten.
16
Die Beklagte übersandte ein an die Klägerin gerichtetes Informationsschreiben mit Datum vom 05.September 2005.
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Die Klägerin trägt vor, ihr dränge sich der Verdacht auf, dass der „Hinweis“ möglicherweise niemals an sie gesandt worden sei, denn üblicherweise werde eine Kopie des Originalschreibens vom 05. September 2005 erwartet. Das übersandte Schreiben erfülle diese Erwartung nicht, weil es auf einem Papier gedruckt worden sei, dass erst ab dem 01. Oktober 2005 Verwendung finde. Erst ab diesem Zeitpunkt gebe es die Deutsche Rentenversicherung. Wenn es sich um eine Kopie des tatsächlichen Schreibens handeln würde, hätte der Briefkopf als Absender die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte.
18
Der Hinweis der Beklagten auf die Beratungsmöglichkeiten habe überhaupt nichts mit der Regelung zum sozialrechtlichen Herstellungsanspruch zu tun. Vielmehr komme es auf den „fehlenden Hinweis“ an, den sie nicht erhalten habe. Die eigenen verbindlichen Regelungen der Beklagten würden vorsehen, dass ohne eine rechtzeitige Meldung ihrerseits die ungekürzte vorgezogene Altersrente im Rahmen eines sozialrechtlichen Wiederherstellungsanspruchs zu gewähren sei.
19
Die Beklagte verwies darauf, dass die Klägerin durch vier vorangegangene Informationsschreiben (Rentenauskünfte aus den Jahren 1989, 1997, 2000 und Aufklärungsschreiben vom 05. September 2005) bestens über die Möglichkeit der Beantragung einer Altersrente informiert worden sei.
20
In der mündlichen Verhandlung vom 19. Januar 2011 teilte die Bevollmächtigte der Beklagten mit, die Höhe der Summe der zusätzlichen Rentenleistungen, welche der Klägerin bei einem begehrten Rentenbeginn ihre Altersrente ab Oktober 2005 zustünden, betrage unter Anrechnung der bisher geleisteten Rente ungefähr 15.000 Euro.
21
Mit dem am 19. Januar 2011 verkündeten Urteil hat das SG die Klage abgewiesen. Die Voraussetzungen für den Rentenbeginn ab 01. Oktober 2005 lägen vor. Allerdings fehle es an einer rechtzeitigen Antragstellung gemäß § 99 Abs. 1 SGB VI. Die Klägerin sei auch nicht nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als hätte sie den für einen Rentenbeginn ab 01. Oktober 2005 erforderlichen Rentenantrag innerhalb der zu erhaltenden Frist des § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI rechtzeitig gestellt. Es sei von einer Pflichtverletzung der Beklagten auszugehen. Nach der Rechtsprechung des BSG verletze der Rentenversicherungsträger auch dann seine Pflicht zum Hinweis auf eine mögliche Antragstellung, § 115 Abs. 6 SGB VI, wenn er zwar ein Hinweisschreiben absende, dieses den Versicherten aber nicht erreiche. Dies sei hier der Fall. Allerdings folge aus diesem Verstoß kein Herstellungsanspruch der Klägerin. Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch setze die Kausalität der Pflichtverletzung zum eingetretenen Schaden voraus. Das heiße konkret also, dass die Klägerin dann, wenn sie den Hinweis erhalten hätte, rechtzeitig den Rentenantrag gestellt hätte. Insoweit trage die Klägerin die negative Feststellungslast. War jedoch die Klägerin auch ohne Hinweisschreiben über die Möglichkeit einer entsprechenden Rentenantragstellung informiert, könne dies dagegen sprechen, dass sie auf ein Hinweisschreiben der Beklagten den Rentenantrag auch tatsächlich gestellt hätte. Nur wenn die Pflichtverletzung gleichwertige Bedingung für die Beeinträchtigung eines sozialen Rechts gewesen sei, begründe dies einen Herstellungsanspruch. Dies sei aber dann nicht der Fall, wenn der Versicherte wissentlich oder gleichsam „fahrlässig gegen sich selbst“ einen erforderlichen Antrag nicht gestellt oder Informationen nicht eingeholt. Auch diejenigen Versicherten, die jedenfalls die Möglichkeit von Rechtsnachteilen und ihr Informationsrecht über den Versicherungsträger vor Augen habe, gleichwohl aber nicht nachfragten, setzten nach Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) selbst die entscheidende Bedingung dafür, die Rente nicht zu erhalten. Die Klägerin sei sich nach ihrer eigenen Einlassung bewusst, dass sie einen grundsätzlichen Anspruch auf Altersrente ab dem 60. Lebensjahr gehabt habe und dass diese auch höher ausfallen würde als die bis dahin bezogene Rente wegen Berufsunfähigkeit. Sie habe sich bewusst dafür entschieden, diese Altersrente nicht bereits ab dem 60. Lebensjahr zu beziehen, weil sie insoweit jedoch fälschlicher Weise davon ausgegangen sei, dass die Inanspruchnahme dieser Rente lediglich mit Abschlägen möglich sei. Die fälsche Annahme der Klägerin beruhe nicht auf einer diesbezüglichen Fehlinformation der Beklagten. Soweit diese in der letzten Rentenauskunft vom 26. Juni 2000 der Klägerin mitgeteilt habe, dass ein abschlagfreier Bezug einer Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab dem 01. Oktober 2008 damit erst ab Vollendung des 63. Lebensjahres, die vorzeitige Inanspruchnahme ab 01. Oktober 2005, damit ab dem 60. Lebensjahr, mit Abschlägen möglich sei, habe dies der seinerzeitigen Sach- und Rechtslage entsprochen. Denn bei der Klägerin sei zu diesem Zeitpunkt der Erstellung der Rentenauskunft weder eine Schwerbehinderung noch eine Berufsunfähigkeit anerkannt gewesen. Bei der Beklagten habe zu diesem Zeitpunkt kein Anhaltspunkt dafür bestanden, dass die Klägerin unter die spezielle Vertrauensschutzregelung des § 236 a S 5 SGB VI a. F. falle könne. Auch das Schreiben der Beklagten vom 05. September 2005 hätte im Fall des Erhalts bei der Klägerin nicht zur Aufklärung der bei der Klägerin vorliegenden fälschlichen Annahme beigetragen.
22
Gegen das der Klägerin am 10. Februar 2011 zugestellte Urteil richtet sich die am 07. März 2011 eingegangene Berufung der Klägerin. Insbesondere wiederholt sie ihr erstinstanzliches Vorbringen.
23
Die Klägerin beantragt,
24
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. Januar 2011 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 13. Juni 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. September 2008 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr bereits ab 01. Oktober 2005 Altersrente für schwerbehinderte Menschen zu gewähren.
25
Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
27
Die Beklagte bezieht sich auf das Hinweisschreiben vom 05. September 2005. Die von der Klägerin aufgeworfene Rechtsfrage, ob die Beklagte ihrer Hinweispflicht nachgekommen sei, sobald sie das Schreiben versende und dessen Absendung im Versicherungskonto vermerke, oder der Beweis des Zugangs zur Pflichterfüllung gehöre, werde das Gericht zu entscheiden haben. Es gebe keinen Anhaltspunkt, warum die Klägerin das Schreiben nicht erhalten haben solle. Im Übrigen sei die Klägerin über den ab dem 60. Lebensjahr bestehenden Anspruch durch die Rentenauskunft im Jahr 2000 informiert worden, weswegen die Beklagte in erster Linie die Zugangsfrage für nicht kausal halte.
28
Im Erörterungstermin vom 26. Januar 2012 wurde die Klägerin angehört. Sie trug vor:
29
Ich habe im Jahr 2005 recherchiert und festgestellt, dass ich ab dem 60. Lebensjahr Anspruch auf Rente hatte. Ich hatte Zeitschriften gekauft wie „ Ihr Recht“, „50 Plus“ oder „Finanztest“, da waren Tabellen drin und diesen hatte ich entnommen, dass ich im Fall einer vorzeitigen Antragstellung Abschläge bei der Rentenhöhe meiner Altersrente haben würde.
30
Ich bin nicht zur Deutschen Rentenversicherung zur Beratung gegangen, weil ich keine Nachricht bekommen hatte. Mir war bekannt, dass es den so genannten „Geburtstagsbrief“ zum 60. Lebensjahr geben soll. In der Bevölkerung wird dieses Schreiben so genannt, das mir im September 2005 übersandt worden sein soll. Ich habe einen Bekannten, der sich damit auskennt. Er hatte mir gesagt, „wenn du so einen Brief bekommst, dann ist alles klar, dann müssen wir was machen“. Damit meine ich, dass in dem Fall die Rente beantragt werden könnte. Richtiger ist: Hätte ich so einen Brief erhalten, hätte ich angenommen, dass ich eine Rente ohne Abzüge erhalten könnte. Ich hätte einen Brief erwartet, in dem steht, dass ich ab meinem 60. Lebensjahr die ungekürzte Altersrente bekommen kann. Hätte ich einen Brief mit dem Inhalt des Schreibens vom 05. September 2005 erhalten, dann wäre das für mich ein Anstoß gewesen, zumindest mal anzurufen, ob ich sie voll bekomme. Ich weiß, dass Rentenzahlungen nur auf meinen Antrag hin erfolgen. Aufgrund meiner Recherchen war mir einfach klar, dass ich keinen Anspruch auf ungekürzte Rente habe und habe bei der Beklagten nicht nachgefragt.
31
In der mündlichen Verhandlung hat sie gerichtlich befragt geantwortet:
32
Wie schon gesagt, ich hatte mit dem Bekannten geredet und hatte die Rentenauskunft von 2000 gehabt. Ich habe nicht erwartet, dass sich hieran etwas geändert hat. Ich hatte auch in den Medien recherchiert.
33
Der Bekannte arbeitete in der Rentenberatung.
34
Ich hatte keine weiteren Informationen von der Rentenversicherung bekommen. Ich hatte Probleme mit der Post.
35
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der vorliegenden Gerichts- und Verwaltungsakten, die in der mündlichen Verhandlung vorgelegen haben.
Entscheidungsgründe
36
Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet.
37
Der angefochtene Bescheid vom 13.Juni 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. September 2008 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat Anspruch auf Gewährung ihrer Altersrente bereits ab dem 01. Oktober 2005.
38
Die am 05. September 1945 geborene Klägerin erfüllt seit dem 01. Oktober 2005 die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung einer Altersrente für schwerbehinderte Menschen gemäß § 236 a Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) sowohl in der vom 01.Januar 2002 bis zum 31. Dezember 2007 als auch in der ab 01. Januar 2008 geltenden Fassung. Die Klägerin hatte zu diesem Zeitpunkt sämtliche Anspruchsvoraussetzungen erfüllt.
39
Die hier maßgeblichen Voraussetzungen dieser Vorschriften lauten
40
– in der gültigen Fassung ab 01. Januar 2008
41
(1) Versicherte, die vor dem 1. Januar 1964 geboren sind, haben frühestens Anspruch auf Altersrente für schwerbehinderte Menschen, wenn sie
42
1. das 63. Lebensjahr vollendet haben,
43
2. bei Beginn der Altersrente als schwerbehinderte Menschen (§ 2 Abs. 2 Neuntes Buch) anerkannt sind und
44
3. die Wartezeit von 35 Jahren erfüllt haben.
45
Die vorzeitige Inanspruchnahme dieser Altersrente ist frühestens nach Vollendung des 60. Lebensjahres möglich.
46
(4) besagt:
47
Versicherte, die vor dem 17. November 1950 geboren sind und am 16. November 2000 schwerbehindert (§ 2 Abs. 2 Neuntes Buch), berufsunfähig oder erwerbsunfähig nach dem am 31. Dezember 2000 geltenden Recht waren, haben Anspruch auf diese Altersrente, wenn sie
48
1. das 60. Lebensjahr vollendet haben,
49
2. bei Beginn der Altersrente
50
a) als schwerbehinderte Menschen (§ 2 Abs. 2 Neuntes Buch) anerkannt oder
51
b) berufsunfähig oder erwerbsunfähig nach dem am 31. Dezember 2000 geltenden Recht sind und
52
3. die Wartezeit von 35 Jahren erfüllt haben.
53
– in der Fassung ab 01. Januar 2002 bis 31. Dezember 2007 :
54
Versicherte, die vor dem 1. Januar 1951 geboren sind, haben Anspruch auf Altersrente für schwerbehinderte Menschen, wenn sie
55
1. das 60. Lebensjahr vollendet haben,
56
2. bei Beginn der Altersrente als schwerbehinderte Menschen (§ 2 Abs. 2 Neuntes Buch) anerkannt, berufsunfähig oder erwerbsunfähig nach dem am 31. Dezember 2000 geltenden Recht sind und
57
3. die Wartezeit von 35 Jahren erfüllt haben.
58
Die Altersgrenze von 60 Jahren wird für Versicherte angehoben, die nach dem 31. Dezember 1940 geboren sind. Die vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente ist möglich. Die Anhebung der Altersgrenze und die Möglichkeit der vorzeitigen Inanspruchnahme bestimmen sich nach Anlage 22. Die Altersgrenze von 60 Jahren wird nicht angehoben für Versicherte, die
59
1) bis zum 16. November 1950 geboren sind und am 16. November 2000 schwerbehindert (§ 2 Abs. 2 Neuntes Buch), berufsunfähig oder erwerbsunfähig nach dem am 31. Dezember 2000 geltenden Recht waren oder
60
2)…
61
Am 1. Oktober 2005 hatte die Klägerin das 60.Lebensjahr vollendet, sie war auch berufsunfähig seit 28.April 2000 nach dem am 31. Dezember 2000 geltenden Recht.
62
Die Wartezeit von 35 Jahren war im Jahr 2000 erfüllt.
63
Der Beginn der Rente ist nach § 99 SGB VI von der Antragstellung abhängig (§ 115 Abs. 1 Satz 1 SGB VI). Nach dem Zeitpunkt der Antragstellung richtet sich der Rentenbeginn (§ 99 SGB VI). Diese Vorschrift lautet
64
(1) Eine Rente aus eigener Versicherung wird von dem Kalendermonat an geleistet, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen für die Rente erfüllt sind, wenn die Rente bis zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats beantragt wird, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Bei späterer Antragstellung wird eine Rente aus eigener Versicherung von dem Kalendermonat an geleistet, in dem die Rente beantragt wird.
65
Danach dürfte die Rente erst wie im angefochtenen Bescheid erfolgt ab 01. Mai 2008 beginnen, denn die Klägerin stellte erst am 30. Mai 2008 bei der Beklagten einen entsprechenden Antrag.
66
Die Klägerin ist jedoch entgegen der Auffassung der Beklagten und des SG aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu behandeln, als hätte sie den Rentenantrag innerhalb der in § 99 SGB VI genannten Frist gestellt. Sie muss so gestellt werden, als hätte sie die Rente bereits bis zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats beantragt, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt waren (dem 05. September 2005), was den Rentenbeginn nach § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI zum 1. Oktober 2005 ermöglicht hätte.
67
Der von der Rechtsprechung entwickelte sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist auf die Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung des Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Versicherungsträger die ihm aufgrund eines Gesetzes oder eines konkreten Sozialrechtsverhältnisses der Versicherten gegenüber erwachsenden Haupt- und Nebenpflichten, insbesondere zur Auskunft und Beratung, ordnungsgemäß wahrgenommen hätte (st.Rspr.des BSG vgl. BSG SozR 3-2600 § 115 Nr. 1, 2; BSG SozR 3-1200 § 14 Nr. 12 mwN; BSG SozR 3-3200 § 86 a Nr. 2).
68
Voraussetzung ist, dass die verletzte Pflicht dem Sozialleistungsträger gerade gegenüber dem Versicherten oblag, diesem also ein entsprechendes subjektives Recht eingeräumt hat. Die objektiv rechtswidrige Pflichtverletzung muss zumindest gleichwertig (neben anderen Bedingungen) einen Nachteil des Versicherten bewirkt haben. Die Verletzung der Hinweispflicht muss die wesentliche Bedingung für die Beeinträchtigung des sozialen Rechts gewesen sein. Nur dann ist es im Rentenversicherungsrecht gerechtfertigt, die im Einwand der verspäteten Antragstellung gesetzlich ausgestaltete Wertung des § 99 SGB VI „herstellungsrechtlich“ zu verdrängen. Hat dagegen der Versicherte wissentlich oder „fahrlässig gegen sich selbst“ gehandelt, kann er die Herstellung des sozialen Rechts nicht verlangen, weil er die entscheidende Bedingung für seinen sozialrechtlichen Nachteil selbst gesetzt hat BSG im Urteil vom 06.03.2003 (B 4 RA 38/02 R).
69
Schließlich muss die verletzte Pflicht darauf gerichtet gewesen sein, den Betroffenen gerade vor den eingetretenen Nachteilen zu bewahren (Schutzzusammenhang – s BSG SozR 3-2600 § 115 Nr 1).
70
Sämtliche Voraussetzungen sind hier erfüllt.
71
Die Beklagte hat eine der Klägerin ihr gegenüber aus Gesetz erwachsene Pflicht verletzt. Sie war im vorliegenden Fall verpflichtet, der Klägerin einen Hinweis mit genau dem Inhalt zu erteilen, den das von der Beklagten übersandte Schreiben vom 05. September 2005 hatte.
72
Nach § 115 Abs. 6 Satz 1 SGB VI sollen die Träger der Rentenversicherung die Berechtigten in geeigneten Fällen darauf hinweisen, dass sie eine Leistung erhalten können, wenn sie diese beantragen. In gemeinsamen Richtlinien der Träger der Rentenversicherung kann bestimmt werden, unter welchen Voraussetzungen solche Hinweise erfolgen sollen.
73
Die Vollendung des 60. Lebensjahres bei einer Versicherten, die – wie die Klägerin – bereits eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bezieht, sodass der Versicherungsträger in der Regel über erforderliche Daten verfügt, ist grundsätzlich ein geeigneter Fall i. S. des § 115 Abs. 6 SGB VI.
74
Die aus § 115 Abs. 6 SGB VI resultierende Hinweispflicht kommt grundsätzlich als eine dem Rentenversicherungsträger obliegende Pflicht in Betracht, deren Verletzung einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch begründen kann (BSG SozR 3-2600 § 115 Nr 1, 2, 3, 4, 5).
75
Das BSG hat den Inhalt und Umfang des nach § 115 Abs. 6 SGB VI erforderlichen Hinweises erweitert. Mit Urteil vom 22. Oktober 1996 -13 RJ 23/95- hat das BSG entschieden, dass in dem Fall, dass der Antrag bestimmten Erfordernissen genügen muss, die nicht völlig selbstverständlich seien, auch diese angegeben werden müssten, da ein Antrag sonst möglicherweise sein Ziel nicht erreichen würde. Von Bedeutung sei die Frist des § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI. Der Hinweis des Versicherungsträgers müsse deshalb auch eine Mitteilung dieser Frist umfassen, da bei Unkenntnis und Nichtbeachtung der endgültige Verlust des Anspruchs auf Rente für den zurückliegenden Zeitraum drohe.
76
Hier kann dahinstehen, ob die Beklagte die Klägerin anlässlich der Vollendung ihres 60. Lebensjahres in diesem Sinne auf die Notwendigkeit der Antragstellung und den Teilanspruchsverlust bei Nichteinhaltung der Frist des § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI hingewiesen hat. Denn nicht feststellbar wäre, dass das Unterbleiben dieser Hinweise der Beklagten für den Zeitpunkt der Antragstellung der Klägerin kausal gewesen wäre: Die Klägerin trägt vor, ihr sei das Antragserfordernis bekannt gewesen. Dass die Kenntnis der Klägerin von der Frist des § 99 SGB VI zu ihrer Antragstellung geführt hätte, ist angesichts ihres Vortrags ebenfalls nicht feststellbar.
77
Die Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sind zu Gunsten der Klägerin allerdings erfüllt, weil die Beklagte die weiteren im Schreiben vom 05.September 2005 aufgeführten Hinweise nicht rechtzeitig – im Monat der Vollendung des 60.Lebensjahres -gegeben hat. Dieses Informationsschreibens hatte nachfolgendem Inhalt:
78
Sehr geehrte Frau B,
79
Sie haben derzeit Anspruch auf eine Rente wegen Berufsunfähigkeit beziehungsweise Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung und vollenden in diesem Monat das 60. Lebensjahr. Möglicherweise besteht ein – höherer – Anspruch auf vorgezogene Altersrente, wenn weitere persönliche Voraussetzungen erfüllt sind und bestimmte Hinzuverdienstgrenzen nicht überschritten werden.
80
Die vorgezogene Altersrente wird – gegebenenfalls vermindert um einen Rentenabschlag – nur gezahlt, wenn hierfür ausdrücklich ein Rentenantrag gestellt ist. Um zum frühestmöglichen Zeitpunkt eine Altersrente zu erhalten, muss der Antrag innerhalb von drei Kalendermonaten nach Erfüllung der Voraussetzungen gestellt werden, also in der Regel innerhalb von drei Kalendermonaten nach Vollendung des 60. Lebensjahres. Bei späterer Antragstellung wird die Rente erst von dem Kalendermonat an geleistet, in dem sie beantragt wird.
81
Ob die Voraussetzungen für den Bezug einer vorgezogenen Altersrente vorliegen und ob die Rente gegebenenfalls mit Blick auf die Anhebung der maßgebenden Altersgrenzen wegen vorzeitiger Inanspruchnahme der Altersrente um einen Rentenabschlag zu vermindern ist, können wir anhand der uns zugänglichen Unterlagen nicht maschinell prüfen. Wir empfehlen Ihnen, sich bei unseren Auskunfts- und Beratungsstellen oder unseren Versicherungsberatern beraten zu lassen und dort gegebenenfalls einen Rentenantrag zu stellen ….
82
Die Beklagte hat ihre gemäß § 115 Abs. 6 SGB VI zu erbringende Hinweispflicht mit dem oben genannten Inhalt des Schreibens vom 05. September 2005 erweitert. Sie hat durch Informationsschreiben mit diesem Inhalt im Wege ihrer EDV-gestützten Verwaltung mit Hilfe der vorliegenden Daten, die auf Grund allgemeiner Kriterien abrufbar waren, maschinell ohne- dass es einer Sachbearbeitung im Einzelnen bedurfte- auf der Grundlage der erfassten Fälle der Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsminderung ihre Versicherten mit diesem Inhalt unterrichtet. Dies hat die Bevollmächtigte der Beklagten in der mündlichen Verhandlung dargestellt. Die so erfolgte Selbstbindung der Beklagten verpflichtet sie, auch gegenüber der Klägerin so zu verfahren. Dies ist nicht nachweislich erfolgt.
83
Zudem hat das BSG im Urteil vom 06. März 2003 (B 4 RA 38/02 R) ausgeführt, der Versicherungsträger sei aus dem grundrechtlichen Renteneigentum (Art. 14 Abs. 1 GG) verpflichtet, die Klägerin jenes Verfahrens (wie alle anderen Anwartschaftsrechtsinhaber) vor Vollendung ihres 60. Lebensjahres auf die im Gesetz ausgestaltete Vielzahl von Möglichkeiten des Überganges in ein Vollrecht auf Altersrente, auf die damit jeweils u. U. verbundenen Vor- und Nachteile, auf die mit einer verspäteten Antragstellung verbundenen Rechtsnachteile und darauf hinzuweisen, dass sie die konkreten Auswirkungen im Einzelfall und die für den einzelnen Versicherten günstigste Lösung nicht abstrakt allein auf Grund der im Versicherungskonto gespeicherten Daten erkennen könne. Deswegen habe sie der Anwartschaftsrechtsinhaberin rechtzeitig, d. h. vor Vollendung des 60. Lebensjahres, über die Erteilung dieser Hinweise hinaus eine Beratung gerade über die mit der Altersrente vom Gesetz verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten anzubieten.
84
Der Versicherungsträger sei als Adressatin des Grundrechts auf Renteneigentum wegen ihrer überlegenen Informationsmacht den Anwartschaftsrechtsinhabern verpflichtet, diese in die Lage zu versetzen, ihre grundrechtliche Freiheit, das Recht auf Altersrente schon vor Vollendung des 65. Lebensjahres oder erst später geltend zu machen, verantwortlich wahrnehmen können.
85
Dazu sei nicht erforderlich, dass der Rentenversicherungsträger jeden einzelnen Anwartschaftsrechtsinhaber gesondert zu diesem Thema anschreibe; er könne die Hinweise und das Beratungsangebot z. B. auch mit der jährlich zu erteilenden Rentenauskunft i. S. des § 109 SGB VI verbinden, wenn er sie in einem „deutlich gestalteten“ (§ 355 Abs. 2 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch ) besonderen Abschnitt zusammenfasse. Auch letzteres ist im Fall der Klägerin nicht erfolgt.
86
Ihrer dargestellten Verpflichtung war sich die Beklagte im Falle der Klägerin bewusst und könnte ihr auch ausweislich der Aktenlage entsprochen haben. In den Verwaltungsakten der Beklagten befindet sich als Datenerfassungen vom 06. und 13. Juni 2008 und unter der Überschrift Ausgaben und Auskünfte der Eintrag:
87
05. September 2005 Anschreiben § 115 Abs. 6 SGB VI für BU-Rentner.
88
Allerdings hat die Beklagte weder mit diesem Eintrag noch mit anderen Umständen nachgewiesen, dass sie ihre Pflicht gegenüber der Klägerin erfüllt hat. Die Klägerin hat den Erhalt eines solchen Schreibens substantiiert bestritten.
89
Ein Rentenversicherungsträger genügt seiner gesetzlichen Hinweispflicht nur dann, wenn er das Hinweisschreiben nicht nur absendet, sondern auch dafür Sorge trägt, dass die Information den Versicherten tatsächlich erreicht. Kommt es hierüber zwischen den Beteiligten zum Streit, ist nach den Grundsätzen der Beweislast die Beklagte in der Nachweispflicht. Für ein solches Hinweisschreiben besteht weder eine Zugangsvermutung noch gelten die Grundsätze des Anscheinsbeweises (BSG, Urteil vom 26. Juli 2007 – B 13 R 4/06 R).
90
Einen Nachweis darüber, dass das Hinweisschreiben der Beklagten die Klägerin tatsächlich auch erreicht hat, konnte die Beklagte nicht führen. Die Klägerin hat vorgetragen, ein Hinweisschreiben vom 5. September 2005 nicht erhalten zu haben. Das einfache Bestreiten reicht aus, da eine substantiiertere Darlegung des unterbliebenen Zugangs für den Adressaten unmöglich ist. Nach der Lebenserfahrung bedeutet ein vom Rentenversicherungsträger in den Versicherungsunterlagen eines Versicherten aufgenommener Bearbeitungsvermerk jedenfalls nicht zwingend, dass ein bestimmtes Schriftstück den Versicherten auch erreicht (hat). Unzweifelhaft sind auf dem Postwege Störungen denkbar, die verhindern, dass das Postgut den Adressaten erreicht, ohne dass der Adressat hierauf Einfluss haben könnte. Allein die Vermutung des Zuganges beim Kläger, weil das Schreiben richtig adressiert und ein Rücklauf nicht zu verzeichnet war, reicht für den Nachweis nicht aus (BSG, a.a.O.). Mangels nachgewiesenen Zugangs des Schreibens vom 05. September 2005 ist der Beweis, dass die Beklagte den Kläger über seinen Anspruch rechtzeitig informiert hat, nicht erbracht. Die Nichtaufklärbarkeit geht zu Lasten der Beklagten (BSG a.a.O.).
91
Die Verpflichtung der Beklagten zur Hinweiserteilung scheidet auch nicht bereits deshalb aus, weil die Klägerin sich nicht rechtzeitig rat- oder auskunftsuchend an die Beklagte gewandt hätte. Das BSG hat dazu ausgeführt, Hinweise seien ihrem Wortsinn nach kurze Mitteilungen, die auf etwas aufmerksam machen oder zu etwas anregen sollen (vgl. Duden – Bedeutungswörterbuch und Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache sowie Brockhaus/Wahrig, Deutsches Wörterbuch, jeweils unter dem Stichwort „Hinweis“). Demgegenüber liege eine Auskunft (vgl. z. B. in § 15 SGB I) vor, wenn eine erklärende oder aufklärende Mitteilung auf eine Frage hin erfolge (Duden, a.a.O., sowie Brockhaus/Wahrig, a.a.O., zum Stichwort „Auskunft“). Daraus ergebe sich, dass für das Entstehen einer Verpflichtung des Versicherungsträgers zur Erteilung eines Hinweises eine Anfrage der Versicherten nicht erforderlich sei (Urteil vom 22. Oktober 1996 ).
92
Auch die Kausalität zwischen dieser Pflichtverletzung der Beklagten und dem bei der Klägerin eingetretenen Schaden ist zur Überzeugung des Senats unzweifelhaft gegeben. Der Klägerin ist durch die verspätete Antragstellung ein Schaden in Höhe von ca. 15.000 für die Zeit von 01. Oktober 2005 bis Mai 2008 entgangenen Rentenzahlungen eingetreten.
93
Die Verletzung der Hinweispflicht ist die wesentliche Bedingung hierfür gewesen.
94
Nach den schriftlichen Darstellungen der Klägerin und im Rahmen ihrer Anhörungen im Gerichtsverfahren steht für den Senat ohne vernünftige Zweifel fest, dass die Klägerin bis zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des 05.September 2005 Altersrente für Schwerbehinderte beantragt haben würde, wenn sie von der Beklagten das Schreiben vom 05. September2005 erhalten hätte. Zweifelsfrei war der Klägerin wichtig, Rente ab dem 60. Lebensjahr zu erhalten, allerdings ohne Abzüge dabei in Kauf nehmen zu müssen. Der Vortrag und Verhalten der Klägerin belegen, dass ihr genau die Informationen fehlten, die sich ihr aus dem Inhalt des Schreibens vom 05. September 2005 ergeben hätten und dass sie infolge dieser unterbliebenen Informationen den Rentenantrag nicht bereits fristgerecht 2005 gestellt hat.
95
Aufgrund des Inhalts des Schreibens vom 05.September 2005 mit Hinweis und Beratungsangebot hätte die Klägerin bereits in der Frist des § 99 SGB VI im Jahr 2005 ihr Antragsrecht ausgeübt. Denn sie hatte 2005 den Antrag nicht gestellt, weil sie davon ausging, dass sie die Nachteile von Rentenabschlägen erfahren würde. Dieser Irrtum wäre durch das Hinweisschreiben der Beklagten beseitigt worden. Die Klägerin hat überzeugend dargestellt, dass sie sich nach Erhalt eines solchen Schreibens bei der Beklagten informiert und nach erfolgter Beratung über die Abschlagfreiheit den Antrag fristgerecht 2005 gestellt hätte. Denn sie hätte nach Erhalt eines solchen Sachschreibens Hoffnung gehabt, dass entgegen der Auskunft vom 26. Juni 2000 Aussicht auf ungekürzte Rente bestehen könnte.
96
Da die Beratung erbracht hätte, dass ihr die Rente ohne Abzüge zusteht, ist überzeugend, dass sie 2005 den Rentenantrag gestellt haben würde. Damit war der unterbliebene Hinweis der Beklagten eindeutig kausal für die nicht erfolgte Rentenantragstellung bei Vollendung des 60. Lebensjahres.
97
Nur die Unkenntnis der Klägerin über die Abschlagfreiheit der Altersrente verhinderte die rechtzeitige Antragstellung. Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin aus anderen Gründen erst im Jahre 2008 die Rente geltend machte, haben sich nicht ergeben.
98
Nicht ersichtlich ist, dass die Klägerin auch ohne den Erhalt des Schreibens vom 05. September 2005 Kenntnis von ihrem „ungekürzten“ Rentenanspruch hatte oder hätte haben müssen. Nicht feststellbar ist, dass die Klägerin wissentlich oder „fahrlässig gegen sich selbst“ gehandelt hat.
99
Dies gilt umso mehr, als die Beklagte mit ihrem Hinweis im Schreiben vom 26. Juni 2000 die wesentliche Bedingung von überragender Bedeutung für die Überzeugung der Klägerin gesetzt hat, die Rente werde bei Inanspruchnahme der Altersrente für Schwerbehinderte Abschläge erfahren.
100
Sie hatte mit Bescheid vom 26. Juni 2000 nach § 149 Abs. 5 Sechstes Buch des Sozialgesetzbuches (SGB VI) die im beigefügten Versicherungsverlauf enthaltenen Daten, die länger als sechs Kalenderjahre zurückliegen, festgestellt. In der beigefügten Rentenauskunft vom 26. Juni 2000 wurde der Klägerin Auskunft über die derzeitige Höhe der Regelaltersrente erteilt, die ihr aus den im beigefügten Versicherungsverlauf dargestellten rentenrechtlichen Zeiten bei Vollendung des 65. Lebensjahres zustehen würde. Unter „Hinweise zum maßgeblichen Lebensalter für Altersrenten“ wurde auf Seite 3 der Auskunft ausgeführt,…
101
Aus den gesetzlichen Regelungen zu den Rentenabschlägen ergibt sich für Sie Folgendes:
102
….
103
Altersrente für Frauen:
104
Kein Rentenabschlag bei einem Rentenbeginn ab 01.10.2010
105
Mit Rentenabschlag frühester Rentenbeginn ab 01.10.2005
106
Die für diese Altersrente erforderlichen Voraussetzungen der Vertrauensschutzregelung sind nicht erfüllt.
107
Die vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente zu dem genannten Zeitpunkt würde zu einer Minderung der Rente um 18,0 % führen.
108
Altersrente für Schwerbehinderte:
109
Kein Rentenabschlag bei einem Rentenbeginn ab 01.10.2008
110
Mit Rentenabschlag frühester Rentenbeginn ab 01.10.2005
111
Die vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente zu dem genannten Zeitpunkt würde zu einer Minderung der Rente um 10,8 % führen…
112
Auch wenn diese Mitteilung seinerzeit zutreffend war, hat sie doch eine wesentliche Ursache von überragender Bedeutung für die Auffassung der Klägerin dafür gesetzt, sie würde eine Kürzung bei vorzeitiger Inanspruchnahme der Altersrente erfahren, worin sie sich durch spätere Recherchen bestätigt sah. Nachvollziehbar hat sie sich von weiteren Auskünften der Beklagten zunächst keine weiteren Erkenntnisse versprochen und würde nur im Fall des Erhalts des „Geburtstagsbriefes“ mit Inhalt des Schreibens vom 05.September 2005 Hoffnung auf andere Erkenntnis gehabt haben. So hatte sie auch infolge dieses erfolgten Hinweises in der Rentenauskunft vom 26. Juni 2000 einen weiteren Beratungsanspruch gegen die Beklagten nicht vor Augen. Sie hat sich unabhängig von der Beklagten selbständig informiert, nachdem sie sich von der Beklagten bereits informiert sah.
113
Die Klägerin hat glaubhaft angegeben, sie sei nicht zur Deutschen Rentenversicherung zur Beratung gegangen, weil sie den so genannten „Geburtstagsbrief“ zum 60. Lebensjahr erwartete. In der Bevölkerung werde dieses Schreiben so genannt, das ihr am 5.September 2005 übersandt worden sein soll.
114
Die Klägerin hat nachvollziehbar dargelegt, dass sie bereits im Jahr 2005 Erkundigungen eingeholt hat, wonach sie ab dem 60. Lebensjahr einen Anspruch auf Altersrente mit Abschlägen gehabt hätte. Sie hat dazu in Medien recherchiert, ohne den Beratungsanspruch gegenüber der Beklagten vor Augen zu haben. Dieses selbständige Handeln ist angesichts ihrer beruflichen Tätigkeit ab 1961 als Schreibkraft, Sekretärin, Bearbeiterin und von 1975 bis 1998 als Pharmareferentin einleuchtend.
115
Zudem befragte sie einen Bekannten, der als Rentenberater tätig war. Infolge dessen Antwort ging sie davon aus, sie würde dann den vorgenannten „Geburtstagsbrief“ mit etwa dem Inhalt des Schreibens vom 5. September 2005 erhalten haben, wenn ihr der ungekürzte Anspruch zugestanden hätte. Nachdem der Brief nicht eingegangen war, sah sie aufgrund dieses Vorverständnisses für sich keine Veranlassung, die Beklagte zur Beratung aufzusuchen.
116
Mithin wäre der Inhalt des von der Beklagten formulierten Briefes vom 05. September 2005 Anlass für die Klägerin gewesen, die Beratung der Beklagten in Anspruch zu nehmen.
117
Der Senat ist von ihrem Vortrag und nach den Ergebnissen ihrer Anhörungen im Gerichtsverfahren überzeugt und glaubt ihr, dass sie im Fall des Erhalts eines Hinweisschreibens mit dem Inhalt des Schreibens, von dem die Beklagte vorträgt, es im September 2005 der Klägerin zugeschickt zu haben, den Antrag schon 2005 gestellt hätte.
118
Die Beklagte ist ihrer – dem 60.Geburtstag der Klägerin zeitnahen- Hinweispflicht im Sinne des Inhalts des Schreibens vom 05. September 2005 auch nicht in anderen Bescheiden oder durch Absendung der Rentenauskunft unter dem Datum vom 26. Juni 2000 nachgekommen.
119
Dementsprechend war das erstinstanzliche Urteil zu ändern.
120
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreits.
121
Die Revision wurde auf der Grundlage von § 160 SGG zugelassen.