OLG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 20.08.2009 – 1 U 86/08
1. Vor einer Injektion im Hals-Schulter-Bereich ist die betroffene Hautstelle des Patienten gründlich (z. Bsp. bei Verwendung eines Desinfektionssprays durch Besprühen, anschließendes Wischen und erneutes Sprühen einer nachfolgenden mindestens dreißig Sekunden anhaltenden Einwirkzeit) zu desinfizieren. Dies gilt auch beim notärztlichen Einsatz in einem häuslichen Umfeld.(Rn.21)
2. Bei einem sog. „Quaddeln“ ist eine vorherige Desinfektion der Hände des behandelnden Arztes oder das Anlegen von Einweg-Handschuhen erforderlich.(Rn.24)
3. Schmerzensgeld in Höhe von 10.000 € bei einem groben Behandlungsfehler (vollständiges Unterlassen einer Desinfektion vor einer Injektionsbehandlung durch eine Notärztin, Folge: Blutvergiftung <Sepsis> mit einer beatmungspflichtigen Störung der äußeren Atmung und beginnendem Funktionsversagen von Leber und Niere; sechswöchige stationäre Behandlung, überwiegend intensivmedizinisch; Absterben des Bindegewebes an beiden Unterarmen mit anschließenden Verwachsungen und Narbenbildung).
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das am 13. August 2008 verkündete Urteil des Landgerichts Magdeburg, 9 O 420/06, wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen. Die Beschwer übersteigt 20.000 EUR nicht.
Gründe
I.
1
Der Kläger begehrt von der Beklagten Schadenersatz wegen behaupteter Behandlungsfehler der Beklagten während ihres Einsatzes als Notärztin im vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst am 22. und am 26. Juni 2005.
2
Der Kläger litt seit dem Morgen des 22. Juni 2005 an Nackenschmerzen. Da die Behandlung durch seinen Hausarzt am Vormittag keine nachhaltige Schmerzlinderung bewirkt hatte, ließ er sich am Abend des genannten Tages durch die Beklagte als Notärztin behandeln. Die Beklagte führte ein sog. „Quaddeln“ durch, bei dem sie drei Injektionen in den Schulter-Nacken-Bereich des Klägers setzte. Die erhoffte nachhaltige Muskelentspannung und Schmerzlinderung blieb weiter aus.
3
Am Morgen des 26. Juni 2005 (Sonntag) erschien die Beklagte auf den Notruf des Klägers erneut. Sie konnte nach ihren Angaben keine Hautveränderungen im Nackenbereich feststellen, sondern lediglich eine gewisse Benommenheit des Klägers, die sie jedoch auf eine fehlerhafte Medikamenteneinnahme zurückführte. Den Wunsch des Klägers auf eine Einweisung in ein Krankenhaus wies sie zurück und verwies statt dessen auf eine Vorstellung beim Hausarzt am nächsten Morgen.
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Am 27. Juni 2005 stellte der Hausarzt des Klägers stark anhaltende Schmerzen fest und äußerte einen Verdacht auf Kreislaufdysregulation. Er wies den Kläger in das Kreiskrankenhaus ein. Die Aufnahmeuntersuchungen führten schließlich zur Diagnose einer Blutvergiftung (Sepsis), die zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung bereits zu einer beatmungspflichtigen Störung der äußeren Atmung (sog. globale respiratorische Insuffizienz) sowie zu einem beginnenden Funktionsversagen von Leber und Niere geführt hatte. Als Auslöser der Blutvergiftung wurde das Bakterium Staphylococcus areus identifiziert. Die Herkunft des Erregers – körpereigene Bakterien des Klägers oder der Beklagten oder aus dem häuslichen Umfeld des Klägers – sowie insbesondere der Weg seines Eindringens in den Körper des Klägers konnte im Prozess nicht mehr aufgeklärt werden.
5
Der Kläger wurde aufgrund der Blutvergiftung ca. sechs Wochen stationär, überwiegend intensivmedizinisch, behandelt. Hierzu wurde er vorübergehend auch in eine Universitätsklinik verlegt.
6
Wegen der Verschlechterung seines Allgemeinzustandes musste er am 1. Juli 2005 vorsorglich in ein künstliches Koma versetzt werden. Die Blutvergiftung führte zu einem Absterben des Bindegewebes an beiden Unterarmen (sog. nekrotisierende Fascitis), welches mehrfache operative Wundbehandlungen sowie Entfernungen nekrotischen Gewebes (Wunddebridement, Fascienspaltung mit Nekrektomie) an beiden Unterarmen erforderlich machten. Ein Wundverschluss war erst am 21. Juli 2005 möglich.
7
An die stationäre Behandlung im Krankenhaus schlossen sich eine ca. zehnwöchige stationäre Rehabilitationsbehandlung und eine physikalische Therapie an. Der Kläger leidet nach eigenen Angaben bis heute an Schmerzen im Bereich beider Unterarme wegen der dort entstandenen Verwachsungen.
8
Der Kläger hat behauptet, dass die Beklagte die Injektionen am 22. Juni 2005 ohne eine Desinfektion oder Reinigung ihrer Hände und ohne eine Desinfektion der Einstichstellen beim Kläger vorgenommen habe; hierdurch seien die Erreger der Blutvergiftung in seinen Körper gelangt.
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Am 26. Juni 2005 habe die Beklagte die Anzeichen einer beginnenden Blutvergiftung verkannt. Jedenfalls sei sie verpflichtet gewesen, den Kläger wegen der unklaren Genese seiner anhaltenden Schmerzen in ein Krankenhaus einzuweisen. Dies hätte zu einer früheren Diagnose der Blutvergiftung, damit zu einem früheren Beginn der antibiotischen Behandlung und damit wegen Rückdrängung der Bakterienverbreitung sowie wegen der Unterbrechung des Zustroms von Bakterien zu diversen inneren Organen zu einer erheblich geringeren Intoxikation geführt; der Krankheitsverlauf wäre weit weniger fulminant als geschehen gewesen; die starken Nekrosen an den Unterarmen wären nicht oder nur in geringem Ausmaße aufgetreten.
10
Die Beklagte hat eine unterlassene Desinfektion der Einstichstellen am 22. Juni 2005 bestritten und dagegen behauptet, sie habe die Einstichstellen mit einem mit Alkohol getränkten Pad abgetupft.
11
Am 26. Juni 2005 habe nach dem Ergebnis der körperlichen Untersuchung des Klägers keine Veranlassung für eine Einweisung in das Krankenhaus bestanden. Die Anzeichen einer Blutvergiftung seien nicht zu erkennen gewesen, was sich auch aus den Schwierigkeiten der Diagnosestellung am 27. Juni 2005 beim Hausarzt und bei der Aufnahmeuntersuchung im Krankenhaus gezeigt habe.
12
Das Landgericht hat eine Beweisaufnahme zum Ablauf der Behandlung am 22. Juni 2005 durch Vernehmung der Ehefrau des Klägers und durch informatorische Anhörung beider Prozessparteien persönlich durchgeführt sowie ein orthopädisches Gutachten von Prof. Dr. J. W., Chefarzt der Klinik für Orthopädie eines Fachkrankenhauses, und ein medizinisch-mikrobiologisches Gutachten von Prof. Dr. W. K., Direktor des Institutes für Medizinische Mikrobiologie der Universität M., eingeholt und letzteres schriftlich ergänzen lassen.
13
Im Ergebnis seiner Beweisaufnahme hat das Landgericht der Klage stattgegeben und die Beklagte zur Zahlung von 10.000 € Schmerzensgeld und 7.000 € materiellen Schadenersatz verurteilt. Es hat seine Entscheidung im Wesentlichen darauf gestützt, dass die Beklagte nicht habe widerlegen können, dass die Blutvergiftung auf ihre Behandlung am 22. Juni 2005 zurückzuführen sei. Die Kammer hat in dem von ihr festgestellten vollständigen Unterlassen der erforderlichen Desinfektion einen groben Behandlungsfehler gesehen, der sich beweiserleichternd auf den notwendigen Nachweis der Kausalität dieses Fehlers für das Folgegeschehen auswirke.
14
Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung, die auf Klageabweisung gerichtet ist.
15
Sie bestreitet weiterhin einen Behandlungsfehler und greift insoweit die Beweiswürdigung des Landgerichts im Hinblick auf das Unterlassen der Desinfektion der Einstichstellen vor den Injektionen an. Sie vertritt die Auffassung, dass eine Desinfektion der Hände des Arztes im Bereitschaftsdienst und jedenfalls beim sog. „Quaddeln“ nicht erforderlich sei und verweist insoweit auf fehlende Einrichtungen für eine vollständige Desinfektion sowie auf eine fehlende Leitlinie über die Hygieneanforderungen beim „Quaddeln“. Im Übrigen habe sich eine unterlassene Desinfektion jedenfalls nicht ausgewirkt, weil die Desinfektionslösung nicht geeignet sei, den hier festgestellten Erreger der Blutvergiftung vollständig abzutöten.
16
Die Höhe der Verurteilung einschließlich der Nebenforderungen ist in der Berufungsinstanz unstreitig.
II.
17
Die Berufung der Beklagten ist zulässig; insbesondere wurde sie form- und fristgemäß eingelegt und begründet. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.
18
Das Landgericht hat zu Recht darauf erkannt, dass die vom Kläger gegen die Beklagte geltend gemachten Schadenersatzansprüche bereits wegen eines nachgewiesenen Behandlungsfehlers der Beklagten am 22. Juni 2005 begründet sind, dieser Behandlungsfehler als grober Behandlungsfehler zu bewerten ist und die Beklagte den ihr obliegenden Nachweis des Ausschlusses der Ursächlichkeit ihres Behandlungsfehlers für die weitere Krankheitsentwicklung des Klägers nicht geführt hat. Die hiergegen mit der Berufung erhobenen Einwendungen sind nicht geeignet, Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Tatsachenfeststellung des erstinstanzlichen Gerichts hervorzurufen. Die angefochtene Entscheidung beruht auch nicht auf Fehlern in der Rechtsanwendung.
19
1. Die tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts sind auch unter Berücksichtigung des Berufungsvorbringens nicht zu beanstanden.
20
1.1. Das Landgericht hat den für die notärztliche Behandlung des Klägers durch die Beklagte am 22. Juni 2005 einzuhaltenden Hygienestandard zutreffend bestimmt.
21
a) Die von den Injektionen betroffenen Hautstellen waren mit einer längeren Einwirkzeit zu desinfizieren.
22
Beide gerichtliche Sachverständige haben übereinstimmend ausgeführt, dass im Rahmen einer notärztlichen Behandlung auch in einem häuslichen Umfeld, wie hier, eine Desinfektion der Hautstelle, in die eine Injektion gesetzt werden soll, erforderlich ist (vgl. Gutachten W. vom 19. Juli 2007, S. 7 – GA Bd. I Bl. 146, 152 –; Gutachten K. vom 1. April 2008, S. 11 f. – GA Bd. II Bl. 34, 44 f. –). Insbesondere aus den Ausführungen des medizinisch-mikrobiologischen Sachverständigen K. ergibt sich, dass insoweit eine Unterscheidung zwischen „normaler“ Injektion“ und „Quaddeln“, wie sie hier von der Beklagten angeführt wird, nicht zu rechtfertigen ist, weil beide Arten der Injektionen jedenfalls Eindringstellen für Bakterien schaffen. Es ist ohne Weiteres nachvollziehbar, dass die Abwägung zwischen den erheblichen Gesundheitsgefahren durch mögliche Infektionen, dem verhältnismäßig geringeren Aufwand und den nahezu vernachlässigbaren Risiken einer prophylaktischen Desinfektion der betroffenen Hautstelle stets zur Entscheidung für die Durchführung der Desinfektion führen muss.
23
Hinsichtlich der gebotenen Art und Weise der Durchführung der Desinfektion haben die gerichtlichen Sachverständigen voneinander abweichende Angaben gemacht: Während der Sachverständige W. ein erstmaliges Abtupfen mit Alkoholpads, sodann eine Wartefrist von etwa zwei Minuten und dann ein zweites Abtupfen mit Alkoholpads für erforderlich erachtete (vgl. Gutachten S. 7, a.a.O.), beschrieb der Sachverständige K. einen Wechsel von Sprühen eines Desinfektionsmittels, Wischen der Hautregion und nochmaliges Sprühen mit 30 Sekunden Einwirkzeit (vgl. Gutachten S. 12, a.a.O.). Der Senat sieht hierin keinen Widerspruch, weil die notwendige Dauer der Einwirkung bei Alkohol durchaus länger sein kann als bei einem speziellen Desinfektionsmittel. Eine weitere Aufklärung dieser Abweichung ist nicht erforderlich, weil die Beklagte schon nach eigenem Bekunden keine der beiden beschriebenen Desinfektionsvorgänge vollzogen und selbst die kürzere Einwirkzeit nicht eingehalten hat.
24
b) Die Desinfektion der Hände der Beklagten war nach den geltenden Hygienestandards ebenfalls erforderlich. Dies ergibt sich aus den Ausführungen im Gutachten K., S. 12 und 16).
25
Der Beklagten ist zwar darin zu folgen, dass die apparativen Voraussetzungen für eine vollständige Desinfektion im häuslichen Umfeld regelmäßig nicht gegeben sind und wohl auch hier nicht vorgelegen haben. Gleichwohl ist der Anforderung, die eigenen Hände zumindest zu reinigen und den Versuch einer Desinfektion zu unternehmen oder sterile Handschuhe zu tragen, zu genügen. Denn gerade beim „Quaddeln“ kommen die Hände des behandelnden Arztes in einen sehr intensiven Kontakt mit den Einstichstellen auf der Haut des Patienten, so dass die Gefahr der Übertragung etwaiger körpereigener Bakterien des Arztes bzw. solcher von ihm „mitgeschleppter“ Bakterien besonders groß ist.
26
1.2. Diesen Hygienestandard hat die Beklagte bei der Behandlung des Klägers am 22. Juni 2005 nach den zutreffenden Feststellungen des Landgerichts nicht eingehalten.
27
a) Das Landgericht hat festgestellt, dass die Beklagte die Einstichstellen vor den Injektionen nicht desinfiziert hat. Diese Feststellungen hat es auf der Grundlage einer Erhebung aller angebotenen Beweise getroffen – mit Ausnahme des vom Kläger angebotenen Zeugnisses seiner Tochter, auf deren Vernehmung der Kläger jedoch in der Sitzung am 16. Juli 2008 verzichtet hat. Damit hat das Landgericht die ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft, um die Behandlungssituation am 22. Juni 2005 zu rekonstruieren. Die Wertungsentscheidungen des Landgerichts sind gut nachvollziehbar und mindestens naheliegend. Der Senat hat keinen Anlass für Zweifel am Beweisergebnis.
28
Den äußeren Verlauf der notärztlichen Behandlung mit Ausnahme der Frage der Desinfektion haben alle Beteiligten im Kern übereinstimmend geschildert. Die Beklagte hat die von der Ehefrau des Klägers bekundeten, letztlich nicht entscheidungserheblichen Umstände der Benutzung eines Taschentuches zur Entfernung eines Bluttropfens auf der Haut des Klägers nach den Injektionen sowie der Überlassung des Abfalls an die Ehefrau des Klägers zur Entsorgung im Hausmüll bestätigt. Danach ist der Schluss des Landgerichts, dass die Ehefrau des Klägers – entgegen der Darstellung der Beklagten – dem Behandlungsgeschehen beiwohnte und daher auch Angaben hierzu aus eigener Wahrnehmung machen konnte, nicht zu beanstanden.
29
Der weiteren Beweiswürdigung des Landgerichts liegt letztlich die Erwägung zugrunde, dass die Erinnerung der Ehefrau des Klägers und des Klägers selbst an eine für sie seltene Behandlungssituation durchaus genauer sein kann und es hier ist, als die Erinnerung der Beklagten an eine aus deren Sicht routinehafte, alltägliche Behandlungsmaßnahme. Diese Erwägung findet Stützen im Wortlaut des Sitzungsprotokolls vom 16. Juli 2008 und ist vor allem auch mit allgemeinen Erkenntnissen zur Erlebniswahrnehmung, -verarbeitung und –wiedergabe von Auskunftspersonen zu vereinbaren.
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Selbst wenn der Senat hilfsweise die Darstellung der Beklagten vom Abtupfen der späteren Einstichstellen auf der Haut des Klägers in ihrer informatorischen Parteianhörung vom 16. Juli 2008 zugrunde legte, wäre der o.g. Hygienestandard damit nicht erfüllt worden. Denn die von der Beklagten geschilderte Desinfektion durch kurzes Abtupfen mit einem Alkohol getränkten Pad war nicht ausreichend. Weder konnte der Alkohol nach so kurzer Einwirkzeit eine Wirkung entfalten, noch war durch das Tupfen ein nachhaltiges Entfernen anhaftender Bakterien zu erwarten.
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b) Das Unterlassen der Desinfektion oder auch nur Reinigung der eigenen Hände durch die Beklagte ist unstreitig. In zweiter Instanz hat die Beklagte lediglich versucht, dieses Verhalten zu rechtfertigen.
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1.3. Die Verletzung des gebotenen Hygienestandards hat das Landgericht zu Recht als einen groben Behandlungsfehler bewertet.
33
Da die Beklagte nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme überhaupt keine Desinfektionsmaßnahmen durchgeführt hat, ist der Schluss auf einen groben Behandlungsfehler ohne Weiteres nachvollziehbar.
34
Anders, als der Erfolg einer Desinfektionsmaßnahme, gehört jedenfalls die ordnungsgemäße Durchführung von Desinfektionsmaßnahmen zum voll beherrschbaren Organisationsbereich der medizinischen Behandlung. Mit anderen Worten: Es ist eine bloße Organisationsfrage, wenigstens den Versuch einer erfolgreichen Desinfektion zu unternehmen. Die Einhaltung der Hygienestandards gehört überall, auch im notärztlichen Einsatz, zu den unverzichtbaren, fundamentalen Anforderungen ärztlichen Handelns. Ihr völliges Unterlassen ist schlechterdings nicht nachvollziehbar.
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Unter Berücksichtigung des Inhalts des Gutachtens W. (dort S. 7 a.E.), dem der Sachverständige K. nicht entgegen getreten ist, stellt selbst das von der Beklagten geschilderte Verhalten – keinerlei Hygienemaßnahme bezüglich der eigenen Hände, kurzes Abtupfen der Einstichstellen mit einem Alkoholpad – einen Fehler dar, der einem Notarzt auf keinen Fall unterlaufen darf.
36
Dieser Bewertung steht nicht entgegen, dass mit der gebotenen Desinfektion eine Abtötung sämtlicher Bakterien des Typs Staphylococcus aureus nicht immer erreicht wird. Die Verfahren der Reinigung der Hautstellen des Arztes bzw. des Patienten mit Detergenzien sollen schon bestimmungsgemäß nicht zur vollständigen Abtötung aller Keimzellen führen. Sie sollen jedoch auch bei unzureichender Tötungswirkung zur Entfernung aller bzw. zur Verminderung der vorhandenen Bakterien an der künftigen Hautverletzungsstelle führen. Dieser Versuch ist ungeachtet seiner konkreten Erfolgsaussichten auch zu unternehmen.
37
Schließlich kann sich die Beklagte auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass die zuvor beschriebenen Anforderungen an die Desinfektion vor dem „Quaddeln“ noch nicht Gegenstand einer Leitlinie der AMWF seien. Der Senat muss der Frage der Existenz einer einschlägigen Leitlinie bzw. Textpassage einer Leitlinie nicht weiter nachgehen. Die Leitlinien der AMWF haben, wie aus ihrem Text jeweils selbst hervorgeht, reinen Empfehlungscharakter und sind ein wichtiges Hilfsmittel für die praktizierenden Ärzte zur Feststellung des aktuellen Erkenntnisstandes der medizinischen Wissenschaften. Der Bearbeitungsstand, aber auch der Aufstellungsbedarf ist in den verschiedenen Fachrichtungen unterschiedlich, und zwar sowohl hinsichtlich der Zahl der bereits erfassten Krankheitsbilder als auch hinsichtlich der Entwicklungs- und Aktualisierungsstufen. Allein aus dem Fehlen eines Leitlinientextes kann jedoch nicht auf das Fehlen eines Behandlungsstandards i.S. einer fundamentalen Anforderung geschlossen werden. Dieses Fehlen kann vielfältige Ursachen haben, von denen die bedeutsamste schon der erhebliche Aufwand zur Erstellung jeder einzelnen Leitlinie ist.
38
2. Das Landgericht hat in seiner angefochtenen Entscheidung weiter zu Recht darauf abgestellt, dass der Beklagten der Nachweis nicht gelungen ist, dass zwischen dem festgestellten groben Behandlungsfehler der Beklagten vom 22. Juni 2005 und der am 27. Juni 2005 beim Kläger diagnostizierten Blutvergiftung kein ursächlicher Zusammenhang besteht.
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Angesichts der Feststellung eines groben Behandlungsfehlers kommen dem Kläger hinsichtlich der Kausalität dieses Fehlers erhebliche Beweiserleichterungen zugute. Da die Unterlassung von Desinfektionsmaßnahmen bei Injektionen geeignet ist, das Eindringen von Bakterien des Typs Staphylococcus aureus in den Körper des Klägers und damit die Verbreitung dieser Bakterien im Blut (sog. Bakteriämie) und die Streuung der von diesen Bakterien abgesonderten Toxine in verschiedene innere Organe und Körperregionen zu ermöglichen, obliegt der Beklagten hier der Nachweis, dass sich dieses mögliche Szenario gerade nicht vollzogen hat. Diesen Beweis kann die Beklagte nach dem Inhalt des Gutachtens K. nicht führen.
40
Gegen diese Feststellungen und Wertungen des Landgerichts hat sich die Beklagte mit ihrer Berufungsbegründung im Einzelnen auch nicht gewandt.
41
3. Nach dem Vorausgeführten konnte für die Entscheidung des Senats – ebenso, wie für diejenige des Landgerichts – die Bewertung des Behandlungsgeschehens vom 26. Juni 2005 offen bleiben.
42
Nach dem derzeitigen Sachstand spricht vieles dafür, dass im Nichterkennen der beginnenden Blutvergiftung kein Diagnosefehler lag, insbesondere, weil mögliche unspezifische Symptome auch durch die Wirkung der verabreichten Medikamente zur Schmerzlinderung überdeckt waren (vgl. Gutachten vom 1. April 2008, S. 10 f.). Ob die Einweisung in ein Krankenhaus aus anderen Gründen medizinisch geboten gewesen wäre, wäre von einer weiteren Sachaufklärung über die Befunde der Beklagten am 26. Juni 2005 und deren fachärztliche Bewertung abhängig gewesen; dies ist hier jedoch nicht mehr entscheidungserheblich, weil sich der geltend gemachte Anspruch bereits aus den Fehlern der Behandlung am 22. Juni 2005 ergibt.
III.
43
Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
44
Die weiteren Nebenentscheidungen ergeben sich aus § 26 Nr.8 EGZPO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 S. 1, 713 sowie 543, 544 Abs. 1 S. 1 ZPO.
45
Die Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO war nicht zuzulassen, da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert.
46
Die Festsetzung des Streitwerts für die Gebührenberechnung im Berufungsverfahren beruht auf §§ 39 Abs. 1, 47 Abs. 1 und 48 Abs. 1 GKG i.V.m. § 3 ZPO.
47
Beschluss
48
Der Kostenwert des Berufungsverfahrens wird auf 17.000 € festgesetzt.