AG Dresden, Beschluss vom 29. September 2019 – 308 F 2936/19 eA
Zur Anwendbarkeit des Gewaltschutzgesetzes bei dauerhafter Schuldunfähigkeit eines Täters und zur Verhältnismäßigkeit eines Distanzgebots für einen demenzkranken Wohnungsnachbarn bei drohender Obdachlosigkeit
Tenor
1. Der Antragsgegner hat es zu unterlassen:
1.1. sich in einem Umkreis von 100 Metern zur Mietwohnung der Antragstellerin im Anwesen (…) Dresden, Wohnung (…), ohne vorherige Zustimmung aufzuhalten
1.2. mit der Antragstellerin in irgendeiner Form Kontakt aufzunehmen, auch unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln. Im Einzelnen wird dem Antragsgegner untersagt,
– die Antragstellerin anzurufen,
– die Antragstellerin anzusprechen und
– der Antragstellerin Briefe zu schreiben.
1.3. mit der Antragstellerin ein Zusammentreffen herbeizuführen. Sollte es zu einem zufälligen Zusammentreffen kommen, hat sich der Antragsgegner unverzüglich bis auf eine Entfernung von mindestens 100 Metern zu entfernen.
1.4. Die Dauer der Anordnungen wird befristet bis 31.03.2020.
2. Die sofortige Wirksamkeit des Beschlusses wird angeordnet.
3. Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsgegner.
4. Der Verfahrenswert wird auf 2.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1
Die Antragstellerin beantragt im Verfahren der einstweiligen Anordnung die Anordnung von Schutzmaßnahmen gemäß §§ 1 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 5, Abs. 2 GewSchG gegen den Antragsgegner.
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Durch eidesstattlicher Versicherung sowie Kopien der von ihr und dem Antragsgegner abgeschlossenen Wohnungsmietverträge, Abmahnungs- und Kündigungsschreiben hat sie folgenden Sachverhalt glaubhaft gemacht:
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Die 80-jährige Antragstellerin bewohnt seit dem 01.02.2016 als Mieterin die im (…) Stock des Anwesens (…) Dresden gelegene Wohnung Nr. (…). Der heute 78-jährige Antragsgegner bezog im Sommer 2017 als Mieter die auf derselben Etage liegende, der Mietwohnung der Antragstellerin unmittelbar benachbarte Wohnung Nr. (…). Zu jeder der beiden Wohnungen gehört ein Balkon, der lediglich durch einen Sichtschutz vom Nachbarbalkon getrennt ist.
4
Durch Beschluss des Amtsgerichts Dresden vom 05.12.2017 wurde für den Antragsgegner die Betreuung mit dem Aufgabenkreis „alle Angelegenheiten, inklusive Empfang, Öffnen und Anhalten der Post“ angeordnet und Frau C zur Berufsbetreuerin bestellt.
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2018 begann der Antragsgegner damit, die Antragsgegnerin von seinem Balkon aus durch einen Spalt zwischen dem die Balkons voneinander abgrenzenden Sichtschutz und der Hauswand zu beobachten. Immer häufiger lehnte er sich von seinem Balkon aus über den Sichtschutz, um direkt in das Wohnzimmer der Antragstellerin hineinsehen zu können. Ferner sah sich die Antragstellerin zunehmend heftigen verbalen Angriffen des Antragsgegners ausgesetzt, etwa mit den Worten „Du bist eine Hexe !“ und „Kümmere dich um eine neue Wohnung, du musst hier raus !“. Diesen Aussagen verlieh er immer häufiger mit harten Faustschlägen gegen den Sichtschutz Nachdruck. Am 13.09.2018 wurde die Antragstellerin von dem Antragsgegner im Zorn erneut beschimpft und angespuckt. Am 25.09.2018 schrie der Antragsgegner die Antragstellerin mit den Worten an „Du Hexe musst hier raus“, trat gegen die Balkonbrüstung und spuckte nach der Antragstellerin. Er griff um die Balkonbrüstung herum, riss Teile von der Balkonbepflanzung der Antragstellerin ab und warf diese nach der Antragstellerin. Aus Angst rief die Antragstellerin die Polizei.
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Am 17.08.2019 gegen 18:30 Uhr blickte der Antragsgegner erneut auf den Balkon der Antragstellerin. Als die Antragstellerin ihn bat, dies zu unterlassen, beschimpfte der Antragsgegner sie erneut als „alte Hexe“ und warf einen Schuh nach ihr.
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Am 19.08.2019 äußerte der Antragsgegner gegenüber der Antragstellerin im Rahmen einer auf den Balkonen geführten verbalen Auseinandersetzung: „Geh endlich nach Hause, sonst erschlage ich Dich.“ Die Antragstellerin erstattete Strafanzeige; bei der Staatsanwaltschaft Dresden werden deswegen Ermittlungsverfahren wegen Bedrohung und gefährlicher Körperverletzung gegen den Antragsgegner geführt.
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Durch die Vermieterin wurde dem bereits früher abgemahnten Antragsgegner wegen der Vorfälle vom 17. und 19.08.2019 mit an seine Betreuerin adressiertem anwaltlichem Schreiben vom 21.08.2019 die außerordentliche Kündigung des Mietverhältnisses ausgesprochen und eine Räumungsfrist bis zum 02.09.2019 gesetzt, die der Antragsgegner verstreichen ließ, ohne die Wohnung zu räumen.
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Durch das Gericht wurden die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Dresden und die Betreuungsakte des Amtsgerichts Dresden beigezogen. Nachdem der Antragsgegner, der sich vom 05.09.2019 bis 24.09.2019 einer psychiatrischen Behandlung auf einer geschlossenen Station des Universitätsklinikums Dresden unterzogen hat, auf fachärztliche Empfehlung zur Vermeidung einer weiteren Exazerbation seiner psychischen Erkrankung vom persönlichen Erscheinen entbunden worden war und auch die Antragstellerin dem Erörterungstermin trotz Anordnung des persönlichen Erscheinens fernblieb und durch eine Mitarbeiterin der Hausverwaltung hat vertreten lassen, wurde der Verfahrensgegenstand mit dieser Mitarbeiterin, der Betreuerin des Antragsgegners und anwaltlichen Bevollmächtigten der Antragsteller- und Antragsgegnerseite mündlich erörtert. Auf das Terminsprotokoll vom 27.09.2019 wird ergänzend Bezug genommen.
II.
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Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.
11
Allerdings scheidet der Erlass einer Gewaltschutzanordnung gemäß §§ 1 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 5, Abs. 2 GewSchG aus, weil sich der Antragsgegner nicht nur vorübergehend und nicht aufgrund des Genusses geistiger Getränke und ähnlicher Mittel in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet (arg. § 1 Abs. 3 GewSchG, vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 20.05.2010, 5 UF 26/10, FamRZ 2010, 1812). Aus einem der Betreuungsakte entnommenen ärztlichen Fachgutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie S. vom 17. Juli 2018, das vom Gericht mit Zustimmung der Betreuerin des Antragsgegners in das Verfahren eingeführt und im Erörterungstermin in seinen wesentlichen Auszügen verlesen wurde, ergibt sich, dass beim Antragsgegner eine senile Demenz, am ehesten vom Alzheimer-Typ (G 30.1, F00.1) mit daraus resultierender seelischer Behinderung“ sowie eine arterielle Hypertonie (I 10.90) vorliegt. Aufgrund der festgestellten seelischen Behinderung sei der Antragsgegner nicht in der Lage, seinen Willen frei zu bestimmen. An dieser Einschätzung hat das Gericht keinen Zweifel, zumal auch in der Antragsschrift ausgeführt wird, das Verhalten des Antragsgegners lasse darauf schließen, dass er keine Erinnerungen an seine zurückliegenden Wutanfälle habe und eine weitere vom Antragsgegner terrorisierte Nachbarin habe beobachtet, dass sich der Antragsgegner so verhalte, als würde bei ihm „jeder Tag im Kopf von Neuem beginnen“.
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Die beantragten Schutzanordnungen können jedoch auch gegenüber einem schuldunfähigen Täter in entsprechender Anwendung der §§ 823, 1004 BGB getroffen werden. Auch wenn derartige zivilrechtliche Unterlassungsansprüche – soweit sie nicht als sonstige Familienstreitsachen im Sinne der §§ 111 Nr. 10, 112 Nr. 3, 266 FamFG zu qualifizieren sind – grundsätzlich nicht den Familiengerichten, sondern gemäß §§ 23 Nr. 1, 71 GVG der ordentlichen Zivilgerichtsbarkeit zugewiesen sind, ist das Familiengericht analog § 17 Abs. 2 GVG nicht gehindert, seiner Entscheidung auch eine solche rechtswegfremde Anspruchsgrundlage zugrunde zu legen (vgl. OLG Frankfurt, aaO., FamRZ 2010, 1812, 1813).
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Dadurch, dass der Antragsgegner am 17.08.2019 einen Schuh nach der Antragstellerin warf, der diese, wie sich aus dem Inhalt der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte, insbesondere der Zeugenaussage der Antragstellerin und einer Lichtbildmappe ergibt, am Arm traf und dort eine Rötung und Schmerzen verursachte, hat der Antragsgegner vorsätzlich und widerrechtlich den Körper der Antragstellerin verletzt. Die am 19.08.2019 ausgesprochene Todesdrohung stellt zudem eine vorsätzliche Schutzgesetzverletzung gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 240, 241 StGB dar. Die Wiederholungsgefahr, die weitere Voraussetzung für einen quasinegatorischen Anspruch analog § 1004 BGB ist, ist unter Berücksichtigung der vorangegangenen Vorfälle – auch aus dem Jahr 2018 – zu vermuten und begründet das Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden des Gerichts gemäß § 49 FamFG.
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Zwar läuft die mit dieser Entscheidung getroffene Anordnung, sich nicht im Umkreis von 100 Metern zur Wohnung der Antragstellerin aufzuhalten, im Ergebnis darauf hinaus, dass der Antragsgegner die von ihm angemietete Nachbarwohnung für die nächsten sechs Monate nicht bewohnen darf. Dies ist jedoch im Ergebnis einer einzelfallbezogenen Abwägung kollidierender Grundrechte gerechtfertigt. Hierdurch wird zwar mit dem Besitzrecht des Antragsgegners als Mieter der Wohnung Nr. (…) ein in den Schutzbereich des Art. 14 GG fallendes Recht berührt, das indessen nicht schrankenlos ist, sondern dessen Inhalt und Schranken gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG durch die Gesetze bestimmt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 26.02.2014, XII ZB 373/11, zitiert nach juris, Tn. 14) und dessen Bestand durch die von der Vermieterin erklärte außerordentliche Kündigung vom 21.08.2019 in Frage steht. Dem steht auf Seiten des Antragstellerin außer deren durch Art. 14 GG geschütztes und damit nicht minder schwer wiegendes Besitzrecht als Mieterin der Wohnung Nr. (…) auch deren durch Art. 2 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich geschütztes Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gegenüber.
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Zwar ist der Antragsgegner insoweit schutzwürdig, als ihm durch eine Räumung seiner Mietwohnung Nr. (…) die Obdachlosigkeit droht und ihn diese aufgrund seines Alters und seiner psychischen Erkrankung (laut Akte des Betreuungsverfahrens: Grad der Behinderung: 70; Pflegegrad 3) besonders hart treffen würde. Jedoch ist es der Antragstellerin deswegen nicht zumutbar, weiterhin mit Rücksicht auf die krankheitsbedingten Angriffe des Antragsgegners, deren Opfer sie ist, Einschränkungen bei der Nutzung ihrer Mietwohnung und des zugehörigen Balkons hinzunehmen, zumal sie sogar noch zwei Jahre älter ist als der Antragsgegner und ihre Wohnung Nr. (…) bereits seit mehr als einem Jahr als Mieterin bewohnte, bevor der Antragsgegner im Sommer 2017 die Wohnung Nr. (…) bezog.
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Die getroffene Anordnung ist erforderlich, um die Antragstellerin vor körperlichen Angriffen und Bedrohungen des Antragsgegners ausreichend zu schützen. Das Gericht hat zwar erwogen, die Unterlassungsanordnung so zu gestalten, dass sie dem Antragsgegner lediglich die Nutzung des zu seiner Mietwohnung gehörenden Balkons, nicht jedoch der übrigen Wohnung befristet verwehrt, weil die von der Antragstellerin in ihrem Antrag konkret beschriebenen Übergriffe vom Antragsgegner von seinem Balkon aus verübt wurden. Abgesehen von den im Erörterungstermin geäußerten Bedenken der Betreuerin des Antragsgegners, dieser werde nicht begreifen, warum er seinen Balkon nicht nutzen dürfe, und bei Sicherung der Balkontür durch ein Schloss gewaltsam versuchen, diese zu öffnen, besteht jedoch die Gefahr, dass sich hierdurch die Angriffe des Antragsgegners auf die Antragstellerin lediglich örtlich verlagern würden. Denn der Inhalt des Ärztlichen Fachgutachtens vom 17. Juli 2018 deutet darauf hin, dass die Konfliktsituation zwischen der Antragstellerin und dem Antragsgegner nicht auf den situativen Kontext der Balkonnutzung beschränkt ist, sondern dass der Antragsgegner die Antragstellerin darüber hinausgehend in krankheitsbedingtem Wahn als „Hexe“ und ernsthafte Totfeindin ansieht. Wörtlich führt die Gutachterin aus:
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„Nochmals sprach Frau C. die Konflikte mit der Nachbarschaft an. So habe ihr Betreuter zur Nachbarin gesagt: „Entweder mein Leben oder deins.“ Dies wurde vom Betroffenen bestätigt. „Warum provoziert die mich ?“ Nochmals sprach er von den Haaren, die auf seinen Balkon geflogen seien. „Die hat einen Mann, der ist super, aber die Frau… Die darf nichts in meine Wohnung schmeißen. Die ist eine Hexe.“ Er berichtete dann, dass er Kinder habe sprechen hören, die auch formuliert hätten, dass die Nachbarin eine Hexe sei.“
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Zusammenfassend führt die Gutachterin aus, dass beim Antragsgegner „paranoides Erleben ersichtlich (sei), in welches die Nachbarin einbezogen wird.“ Aufgrund der festgestellten seelischen Behinderung bestehe die „Gefahr, dass sich der Betroffene selber erheblichen Schaden zufügt bzw. fremdaggressive Verhaltensweisen auftreten können. (…) Ein Verbleib in der Häuslichkeit ist (…) als hochgradig schwierig zu betrachten.“
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Die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit des Beschlusses beruht auf § 40 Abs. 3 Satz 2 FamFG. Insoweit ist die Interessenlage mit Fällen einer Gewaltschutzanordnung vergleichbar, für die § 216 Abs. 1 Satz 2 FamFG gilt.
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Die Kostenentscheidung entspricht billigem Ermessen gemäß §§ 51 Abs. 4, 81 Abs. 1 Satz 1 FamFG.
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Die Festsetzung des Verfahrenswertes beruht auf § 49 Abs. 1 FamGKG i.V.m. § 1 GewSchG.