Zum Mitverschulden des Busfahrgastes für erlittene Sturzverletzung

OLG Hamm, Urteil vom 13.06.2007 – 13 U 53/07

Nimmt ein Fahrgast einen ihm angebotenen Platz nicht an, verstößt er gegen die ihm als Busfahrgast obliegende Pflicht, sich so schnell und so sicher wie möglich festen Halt zu verschaffen (Rn. 30).

Hat der Fahrgast durch diese Pflichtverletzung die entscheidende und ausschlaggebende Ursache für einen Sturz gesetzt, tritt die zu Lasten des Busunternehmens bestehende anzusetzende Betriebsgefahr vollständig zurück (Rn.35).

Etwas anderes gilt ausnahmsweise nur dann, wenn der Busfahrer aufgrund einer ohne weiteres erkennbaren besonderen Hilfsbedürftigkeit und Gebrechlichkeit des Fahrgastes zu besonderer Aufmerksamkeit diesem gegenüber gehalten ist. Wollte man ohne eine solche erkennbare besondere Hilfsbedürftigkeit bzw. Gebrechlichkeit besondere Fürsorgepflichten eines Busfahrers verlangen, wäre dies realitätsfern und in der Praxis des täglichen öffentlichen Personennahverkehrs nicht sachgerecht (Rn.37).

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil der 6. Zivilkammer des Landgerichts Hagen vom 8. Februar 2007 abgeändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I.

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1. Wegen des in erster Instanz vorgetragenen Sachverhalts und wegen der in erster Instanz gestellten Anträge wird Bezug genommen auf den Tatbestand des Urteils des Landgerichts (Bl. 85 Rückseite bis 86 Rückseite GA); § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO. Klarstellend ist anzumerken, dass der Kläger am 17. April 1919 geboren ist, vgl. Bl. 39 GA, und deswegen am Unfalltag 18. Oktober 2005 nicht 87, sondern 86 Jahre alt war.

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Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen N (Bl. 73, 73 Rückseite GA), W (Bl. 73 Rückseite, 74 GA) und y (Bl. 74 bis 75 GA). Eine Anhörung des Klägers zum Unfallhergang ist wegen dessen Gesundheitszustandes, der einen Liegendtransport erfordern würde, Bl. 39 GA, nicht erfolgt. Das Landgericht hat sodann der Klage stattgegeben und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt ( vgl. i.e. Bl. 86 Rückseite bis 87 Rückseite GA):

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Der Kläger habe gegen die Beklagte aus Gefährdungshaftung gemäß §§ 7, 11 StVG einen Anspruch auf Ersatz des unfallbedingten Schadens einschließlich eines angemessenen Schmerzensgeldes. Aufgrund der Aussage der Zeugin N stehe fest, dass der Kläger durch den Betrieb des Busses bei dessen Anfahren zu Fall gekommen sei, als er sich etwa in der Mitte des Busses auf einen freien Platz habe setzen wollen. Die Geschwindigkeit des Busses beim Anfahren sei ohne Belang. Allein die Anfahrt aus dem Stand sei geeignet, zu einer Instabilität bei einem Fahrgast zu führen.

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Ein Mitverschulden des Klägers sei nicht gegeben. Es seien keine Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass der Kläger seiner Obliegenheit, sich im Bus möglichst schnell einen festen Halt zu suchen, nicht nachgekommen sei. Auch wenn der Kläger einen ihm im vorderen Teil des Busses angebotenen Platz nicht angenommen habe, sei es ihm nicht vorzuwerfen, dass er einen Platz im Mittelbereich gesucht habe. Denn ein solcher Platz sei beim Aussteigen wegen der Nähe zur Ausstiegstür günstiger (i.e. S. 5 des Urteils = Bl. 87 GA).

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Neben den geltend gemachten materiellen Schadenspositionen habe die Beklagte dem Kläger auch ein Schmerzensgeld in Höhe von 5.000,- € zu zahlen, insbesondere wegen der erheblichen Dauerfolgen des Unfalls. Dabei sei nicht außer Acht gelassen worden, dass der Busfahrer nicht schuldhaft gehandelt habe (i.e. S. 6 des Urteils = Bl. 87 Rückseite GA). Die Ersatzpflicht der Beklagten für zukünftige materielle unfallbedingte Schäden sei festzustellen. Das Auftreten weiterer immaterieller Schäden sei nicht wahrscheinlich.

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2. Mit der Berufung verfolgt die Beklagte weiter das Ziel einer vollständigen Klageabweisung. Zur Begründung führt sie neben einer pauschalen Bezugnahme auf das erstinstanzliche Vorbringen (Bl. 126 oben GA) im wesentlichen aus (vgl. i.e. Bl. 125 bis 132 GA):

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Das Landgericht habe die Beklagte zu Unrecht verurteilt. Das Urteil beruhe auf einer Rechtsverletzung und darauf, dass das Gericht die vorgetragenen Tatsachen nicht zutreffend gewürdigt habe. Das Landgericht verneine mit der angefochtenen Entscheidung gegen das Gesetz ein Mitverschulden des Klägers. Es müsse nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme als erwiesen, ja sogar als unstreitig angesehen werden, dass der Kläger trotz seiner erkennbar eingeschränkten Bewegungsfähigkeit einen ihm von einer aufstehenden Schülerin angebotenen Platz in der Reihe hinter dem Busfahrer abgelehnt habe. Dies habe der Busfahrer eindeutig erklärt. Die Ablehnung eines Sitzplatzes in der ersten Reihe stelle ein so erhebliches Mitverschulden dar, dass daneben mitwirkende Ursachen gänzlich zurückträten. Dem Kläger müsse ein sogenanntes Verschulden gegen sich selbst vorgeworfen werden. Hätte der Kläger festen Halt gesucht und den angebotenen Sitzplatz angenommen, wäre er beim Anfahren nicht gestürzt. Die Argumentation das Landgerichts zu den Vorteilen eines Sitzplatzes im Mittelbereich gegenüber dem eines im Einstiegsbereich sei nahezu abenteuerlich, konstruiert und ohne jeglichen Sachvortrag der Parteien, auch nicht des Klägers, hierzu erfolgt. Selbstverständlich halte ein Bus so lange an, bis ein Fahrgast mit Gehbehinderung den Bus verlassen habe.

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Das Landgericht habe die Bedeutung und die Tragweite der Allgemeinen Beförderungsbedingungen verkannt, die in den Rechtsstreit erstinstanzlich eingeführt worden seien (vgl. hierzu Bl. 69 ff GA). Hiernach habe jeder Fahrgast die Pflicht, sich stets so schnell wie möglich einen festen Halt zu verschaffen. Der Kläger habe aber den angebotenen Sitzplatz abgelehnt und es in Kenntnis seiner durch Gehstock und Trolley eingeschränkten Bewegungsfähigkeit vorgezogen, weiter durch den Bus zu laufen. Diese Pflichtverletzung sei ursächlich für den eingetretenen Schaden geworden. Es habe allein dem Kläger oblegen, unter Vermeidung eigener Gefährdung einen Sitzplatz zu erreichen. Grundsätzlich dürfe der Fahrer eines Linienbusses darauf vertrauen, dass die Fahrgäste der Verpflichtung nachkämen, sich einen festen Halt zu verschaffen. Der Fahrer müsse einen festen Fahrplan einhalten und sich nur ausnahmsweise bei deutlich erkennbarer Hilflosigkeit bzw. schwerwiegender Behinderung des Fahrgastes vergewissern, dass der Fahrgast einen festen Halt oder Platz gefunden habe. Ein solcher Fall liege nicht vor. Gerade weil der Kläger den angebotenen Platz abgelehnt habe, habe der Busfahrer die Sicherheit gewonnen, dass der Kläger sich auch weiterhin sicheren Halt verschaffen könne, um die Anfahrbewegung abzufedern. Der Verzicht auf einen freien Sitzplatz sei ein grobes Mitverschulden und lasse die allein vom Landgericht geprüfte Gefährdungshaftung vollständig entfallen.

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3. Die Beklagte beantragt,

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unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Hagen – 6 O 199/06 – vom 08.02.2007 die Klage abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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4. In der Berufungserwiderung trägt der Kläger neben einer pauschalen Bezugnahme auf das erstinstanzliche Vorbringen (Bl. 179/180 GA) im wesentlichen wie folgt vor (vgl. i.e. Bl. 179 bis 184 GA):

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Das Landgericht habe die Beklagte zu Recht verurteilt und die vorgetragenen Tatsachen zutreffend gewürdigt. Der Zeuge y habe nicht beschrieben, dass der Kläger einen ihm angebotenen Sitzplatz positiv abgelehnt habe, sondern nur ausgesagt, dass der Kläger weiter gegangen sei. Es müsse deshalb – was der Kläger erstmals in der Berufungserwiderung vorträgt – davon ausgegangen werden, dass der Kläger das Angebot nicht wahrgenommen habe. Deswegen habe er auch während des gesamten Prozesses bestritten, dass weitere Plätze frei gewesen seien. Der Kläger habe – wie er erstmals in der Berufungserwiderung vorträgt – zum Zeitpunkt des Unfalls an altersbedingter Schwerhörigkeit gelitten. Er sei damit beschäftigt gewesen, sich mit Gehstock und Trolley auf die Suche nach einem Sitzplatz oder zumindest einem festen Halt zu machen. Er habe – auch dies trägt er erstmals in der Berufungserwiderung vor – versucht, den Eingangsbereich mit Rücksicht auf weitere einsteigende Fahrgäste möglichst zügig zu räumen. Das Angebot der Zeugin N habe der Kläger ohne Zögern angenommen. Der Unfall habe sich in dem Moment ereignet, als der Kläger gerade im Begriff gewesen sei, diesen Platz einzunehmen.

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Das Landgericht habe es zu Recht als gerechtfertigt angesehen, dass der Kläger einen Platz in der Nähe der mittig gelegenen Ausstiegstür gesucht habe. Diese Motivation des Klägers sei auch in erster Instanz mündlich im letzten Verhandlungstermin anlässlich der Vernehmung des Zeugen y vorgetragen worden. Die Beklagte weise durch Aushänge darauf hin, dass der Ausstieg durch die Mittel- und Hintertür zu erfolgen habe. Ein gebrechlicher Fahrgast müsse wegen der hohen Sturzgefahr den völligen Stillstand des Busses abwarten, um zum Aussteigen aufzustehen und das Gepäck zusammen zu suchen.

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Der Anspruch des Klägers stütze sich auf Gefährdungshaftung gemäß § 7 Abs. 1 StVG, hilfsweise bei Verschulden der Beklagten auf § 280 BGB. Ein anspruchsausschließendes Mitverschulden des Klägers liege nicht vor. Der Kläger habe alles ihm Mögliche unternommen, um den Sturz zu vermeiden. Er habe sich im Rahmen seiner Möglichkeiten bemüht, einen festen Halt noch vor dem Anfahren zu suchen und einzunehmen, was das Landgericht zutreffend erkannt habe. Bei der einschlägigen Rechtsprechung, die eine Haftung des Fahrzeughalters nur bei erkennbarer außergewöhnlicher Schadensanfälligkeit des Fahrgastes anerkenne, handele es sich um eine grobe Verdrehung des gesetzlichen Regelfalles. Vielmehr habe der der Gefährdungshaftung unterliegende Halter in jedem Einzelfall ein haftungsausschließendes Mitverschulden des Geschädigten nachzuweisen. Die Annahme eines Anscheinsbeweises, der bei einem Sturz in einem öffentlichen Verkehrsmittel immer ein 100%iges Mitverschulden unterstelle, verdrehe die gesetzliche Risiko- und Beweislastverteilung in erheblichem Maße. Jedenfalls ergebe sich aus den Zeugenaussagen und dem Sachvortrag des Klägers eine Widerlegung des Anscheinsbeweises, da der Kläger alles ihm Mögliche zur Vermeidung des Sturzes unternommen habe. Darüber hinaus sei ein Verschulden auf Seiten der Beklagten nicht ausgeschlossen. Nach deren eigenem Vorbringen habe der Busfahrer die Gebrechlichkeit des Klägers erkannt. Diese sei durch das Alter des Klägers und den Gehstock offensichtlich gewesen. Es hätte sich dem Fahrer durchaus aufdrängen müssen, dass der Kläger dem anstehenden Anfahrruck nicht oder nur unzureichend gewachsen gewesen sein dürfte. Hätte er dem Kläger durch Lautsprecherdurchsage einen Hinweis auf das Anfahren gegeben, hätte der Kläger mit dem Hinsetzen noch gewartet, um beim Anfahren auf beiden Beinen zu stehen. Der Kläger habe beim – durchaus ruckartigen, wie von der Zeugin W beschrieben – Anfahren nur auf einem Bein gestanden; er habe sich zwar festgehalten, das habe ihm wegen seiner schwachen Konstitution aber nicht mehr helfen können.

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Der Darmverschluss sei kausal und zurechenbar auf den Unfall zurückzuführen, weil er durch lange Liegezeit und Bewegungsmangel stark begünstigt werde.

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5. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachvortrages und der Rechtsansichten der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

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6. Der Senat hat Beweis erhoben durch erneute Vernehmung der Zeugen N, W und y. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird Bezug genommen auf den Berichterstattervermerk zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat vom 13. Juni 2007.

II.

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Die Berufung der Beklagten hat in vollem Umfang Erfolg und führt in Abänderung des Urteils des Landgerichts zur vollständigen Abweisung der Klage.

21

Der Kläger hat unter keinem in Betracht kommenden Gesichtspunkt gegen die Beklagte einen Anspruch auf Ersatz des materiellen und immateriellen Schadens, der ihm durch den Sturz im Bus der Beklagten am 18. Oktober 2005 entstanden ist.

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1. Ein Anspruch aus §§ 280, 278 BGB i.V.m. dem zwischen den Parteien für die Busfahrt am 18. Oktober 2005 abgeschlossenen Beförderungsvertrag und ein Anspruch aus § 831 Abs. 1 S. 1 BGB scheiden aus, weil dem Busfahrer y der Beklagten kein schuldhaftes Fehlverhalten anzulasten ist, das für den Sturz des Klägers ursächlich geworden ist. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht fest, dass der Zeuge y einen ganz gewöhnlichen Anfahrvorgang ohne besonderen, über die mit dem Anfahren notwendigerweise verbundene Bewegung hinausgehenden Ruck durchgeführt hat. Es steht weiter fest, dass der Zeuge y gegenüber dem Kläger nicht zu besonderer Fürsorge verpflichtet war, so dass er sich vor dem Anfahren nicht darüber vergewissern musste, ob der Kläger einen festen Halt gefunden hatte (vgl. hierzu im einzelnen nachfolgend unter 2.), und auch das bevorstehende Anfahren nicht über Lautsprecher ankündigen musste.

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2. Der danach allein in Betracht kommende Anspruch aus §§ 7, 11 StVG führt wegen eines anspruchsausschließenden Mitverschuldens des Klägers nicht zum Erfolg der Klage.

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a) Der Sturz des Klägers ist zwar durch den Betrieb des Busses der Beklagten, nämlich durch den Anfahrvorgang verursacht worden. Das ist zwischen den Parteien jedenfalls in der Berufungsinstanz, nachdem die Beklagte diese Feststellung des Landgerichts in der Berufungsbegründung nicht angegriffen hat – unstreitig. Damit sind die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 StVG unproblematisch gegeben. Ein unfallursächliches Verschulden des Busfahrers der Beklagten ist nicht erforderlich.

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b) Die Haftung der Beklagten entfällt aber gemäß §§ 9 StVG, 254 BGB, weil dem Kläger ein unfallursächliches Mitverschulden zur Last fällt, hinter dem die vom Bus der Beklagten beim Anfahrvorgang ausgehende Betriebsgefahr vollständig zurücktritt.

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aa) Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats im Sinne des § 286 ZPO fest, dass dem Kläger unmittelbar nach dem Einsteigen der schräg hinter dem Busfahrer gelegene Einzelsitz – in Fahrtrichtung gesehen rechts vorn – von einer bis dahin dort sitzenden Schülerin angeboten worden ist, indem diese aufgestanden ist und zusätzlich dem Kläger den Platz auch verbal angeboten hat.

27

Der Senat hat keine Bedenken, der entsprechenden Aussage des Zeugen y zu folgen. Seine Aussage war glaubhaft. Er hatte als Busfahrer ohne weiteres die Möglichkeit, diesen sich direkt schräg seitlich hinter ihm abspielenden Vorgang wahrzunehmen. Seine Schilderung war frei von Widersprüchen – insbesondere ist durch die erneute Vernehmung vor dem Senat die Unklarheit hinsichtlich des Rucks beim Anfahren oder Bremsen (vgl. S. 2 unten des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 16. Januar 2007, Bl. 74 Rückseite unten GA) ausgeräumt worden – und nachvollziehbar. Angesichts des kurze Zeit später folgenden Unfalls des Klägers ist es auch verständlich, dass dem Zeugen dieser an sich alltägliche und gewöhnliche Vorfall im Gedächtnis geblieben ist. Genauso verständlich ist, dass andere Umstände – wie beispielsweise die Frage, ob er bei weiteren Fahrgästen kassieren musste – dem Zeugen nicht mehr erinnerlich waren, weil der kurze Zeit später gestürzte Kläger hierin nicht verwickelt war. Gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen bestehen keine Bedenken. Der Umstand allein, dass der Zeuge angestellter Mitarbeiter der Beklagten ist, ist für sich allein nicht geeignet, Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugen zu begründen.

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Die Aussagen der Zeuginnen N und W waren zur Frage eines Sitzplatzangebots im vorderen Bereich des Busses unergiebig und stehen daher der Aussage des Zeugen y nicht entgegen.

29

Auf die vom Kläger in der Berufungserwiderung diskutierte Frage, ob hinsichtlich der Verletzung der Pflicht zum Festhalten ein Anscheinsbeweis in Betracht kommt (vgl. hierzu z.B. OLG Oldenburg, VersR 2001, 118), kommt es daher im vorliegenden Fall nicht an, weil durch die Aussage des Zeugen y feststeht, dass der Kläger dieser Pflicht nicht nachgekommen ist.

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bb) Dadurch dass der Kläger den ihm angebotenen Platz nicht angenommen hat, hat er gegen die ihm als Busfahrgast obliegenden Pflicht verstoßen, sich so schnell und so sicher wie möglich festen Halt zu verschaffen.

31

(1) Die von der Beklagten zu Recht betonte Pflicht eines jeden Fahrgastes, sich so schnell wie möglich und dauernd festen Halt zu verschaffen, ist in der Rechtsprechung anerkannt (vgl. z.B. BGH VersR 1972, 152, 153; OLG Düsseldorf VersR 1986, 64; OLG Hamm OLGR 1992, 216; OLG Düsseldorf VersR 2000, 70; OLG Oldenburg VersR 2001, 118). Diese Pflicht folgt nicht nur aus den Regeln über die Fahrgastbeförderung, sondern leuchtet jedermann ein, weil man sonst bei den unvermeidlichen Fahrbewegungen des Busses als Fahrgast nur zu leicht das Gleichgewicht verlieren und im Bus anstoßen oder stürzen kann. Die Pflicht, sich festen Halt zu verschaffen, soll gerade den Fahrgast im eigenen Interesse vor einem ansonsten nicht sicher zu vermeidenden Sturz bei den Fahrbewegungen des Busses schützen.

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(2) Entgegen der Auffassung des Landgerichts kann es den Kläger nicht entlasten, dass er möglicherweise den Platz deswegen nicht angenommen hat, weil er sich einen Platz in der Nähe der Ausstiegstür suchen wollte. Denn das steht gerade nicht in Einklang mit der Verpflichtung, sich möglichst schnell Halt zu verschaffen, was insbesondere für eine betagte Person mit zwei durch Gehstock und Trolley belegten Händen nur durch Hinsetzen möglich ist. Das Bestreben nach einem dem Ausstieg nahen Platz ist zwar durchaus verständlich. Nach dem Einsteigen muss aber ein Fahrgast zunächst Vorsorge dafür treffen, so schnell wie möglich dem unmittelbar bevorstehenden Anfahren und den Fahrbewegungen Stand halten zu können. Die Sorge um ein möglichst einfaches Aussteigen ist demgegenüber in jeder Hinsicht zweitrangig. Vorliegend wird diese Zweitrangigkeit besonders offensichtlich, weil der Kläger ohnehin erst sechs Haltestellen später aussteigen wollte.

33

Im übrigen wird wohl jeder Busfahrer einem betagten und bepackten Fahrgast mit Gehstock, der auf dem Einzelsitzplatz ganz vorne sitzt, für den Ausstieg die vordere Tür öffnen. Wenn man überhaupt den Gesichtspunkt einer Sorge um den Ausstieg gelten lassen wollte, hätte der Kläger daher ebenfalls den nach der Aussage des Zeugen y angebotenen Platz annehmen müssen.

34

(3) Soweit der Kläger – erstmals in der Berufungserwiderung – wohl hilfsweise – vorträgt, er habe das Angebot der Schülerin nicht bemerkt, vermag ihn dies nicht zu entlasten. Zum einen ist dies wegen § 531 Abs. 2 S. 1 ZPO als verspätet vom Senat nicht zu berücksichtigen und im übrigen ohnehin deswegen nicht nachvollziehbar, weil nach der Aussage des Zeugen y der Platz nicht nur verbal, sondern durch Aufstehen und damit unübersehbar angeboten worden ist. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass der Kläger ohnehin verpflichtet war, nach einem freien Sitzplatz Ausschau zu halten. Soweit sich der Kläger in der Berufungserwiderung – ebenfalls erstmalig – auf ein Bestreben nach Freimachen des Einstiegsbereichs wegen nach ihm einsteigender Fahrgäste beruft, ist das ebenfalls gemäß § 531 Abs. 2 S. 1 ZPO vom Senat nicht zu berücksichtigen und im übrigen ohnehin unerheblich, weil der Kläger im eigenen Interesse gehalten war, so schnell wie möglich einen zugänglichen Sitzplatz einzunehmen (s.o.).

35

cc) Durch die Nichteinhaltung der ihm als Fahrgast eines Busses des öffentlichen Nahverkehrs im eigenen Interesse obliegenden Pflicht, sich möglichst schnell Halt zu verschaffen, hat der Kläger die entscheidende und ausschlaggebende Ursache für seinen unglücklichen Sturz mit den schwerwiegenden Folgen gesetzt. Dahinter tritt die zu Lasten der Beklagten allein anzusetzende Betriebsgefahr vollständig zurück.

36

(1) In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass in Fallkonstellationen wie der vorliegenden grundsätzlich schon einfache Fahrlässigkeit des Fahrgastes dazu führen kann, dass die einfache Betriebsgefahr des Fahrzeuges des öffentlichen Nahverkehrs zurück tritt (vgl. z.B. OLG Düsseldorf VersR 2000, 70; vgl. auch Kunschert in: Geigel, Der Haftpflichtprozess, 24. Auflage, Kapitel 22, Rn. 45 f und Kapitel 25 Rn. 309 f). Jeder Fahrgast muss grundsätzlich für seine eigene Sicherheit sorgen, weil es die primäre Aufgabe des Busfahrers ist, sich auf die Anforderungen des Straßenverkehrs einzustellen, das Verkehrsgeschehen zu beobachten und dementsprechend den Bus sicher im Verkehr zu bewegen. Im Hinblick auf die besonderen Anforderungen des § 10 StVO gilt dies speziell beim Anfahren nach dem Stillstand an einer Haltestelle, weil es sich bei der Wiedereingliederung in den fließenden Verkehrs nach der Wertung der StVO um einen besonders anspruchsvollen und gefahrenträchtigen Vorgang handelt, bei dem jegliche Gefährdung der Teilnehmer des fließenden Verkehrs ausgeschlossen sein muss (vgl. OLG Oldenburg VersR 2001, 118, 119).

37

(2) Etwas anderes gilt ausnahmsweise nur dann, wenn der Busfahrer aufgrund einer ohne weiteres erkennbaren besonderen Hilfsbedürftigkeit und Gebrechlichkeit des Fahrgastes zu besonderer Aufmerksamkeit diesem gegenüber gehalten war (vgl. allgemein Kunschert in: Geigel, Der Haftpflichtprozess, 24. Auflage, Kapitel 25 Rn. 309; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Auflage, § 16 StVG, Rn.5; BGH VersR 1993, 240, 241; BGH VersR 1972, 152, 153; OLG Hamm VersR 1975, 58, 58f). Wollte man ohne eine solche erkennbare besondere Hilfsbedürftigkeit bzw. Gebrechlichkeit besondere Fürsorgepflichten eines Busfahrers verlangen, wäre dies realitätsfern und in der Praxis des täglichen öffentlichen Personennahverkehrs nicht sachgerecht.

38

Der Kläger war aber bis zu seinem Sturz nicht in diesem Sinne erkennbar hilfsbedürftig und gebrechlich. Er war zum Unfallzeitpunkt nicht behindert. Er hat sich in erster Instanz sogar als für sein Alter in guter Verfassung bezeichnet (Bl. 62 GA) und seine Selbständigkeit betont (Bl. 4/5 GA); erst in der Berufungserwiderung ist, davon abweichend und deswegen im Hinblick auf § 531 Abs. 2 S. 1 ZPO zumindest problematisch, mehrfach von Gebrechlichkeit die Rede. Jedenfalls war aber der Kläger nicht erkennbar gebrechlich und hilfsbedürftig. Den Zeugen y und N ist beim Gang des Klägers nichts Besonderes aufgefallen. Die Zeugin W, deren Aussage insoweit als Enkelin des Klägers besonderes Gewicht zukommt, hat beschrieben, dass der Kläger zwar nur langsam und mit Stock, aber allein gehen konnte. Dies entspricht aber dem alltäglich zu beobachtenden Gangbild betagter Personen und ist kein Hinweis auf eine besondere Gebrechlichkeit. Auch der Einkaufstrolley begründete keine erkennbare Hilfsbedürftigkeit des Klägers. Es ist alltäglich, dass Fahrgäste des öffentlichen Nahverkehrs häufig mehr oder weniger schwer bepackt sind. Wollte man allein aus dem Alter eines Fahrgastes – Senioren benutzen häufig öffentliche Verkehrsmittel – oder aus dem Vorhandensein von Gepäckstücken eine besondere Pflicht des Busfahrers zu Aufmerksamkeit und Fürsorge herleiten, würde dies den Gegebenheiten des Nahverkehrs und der Eigenverantwortlichkeit der Fahrgäste nicht gerecht. Auch die Kombination von Alter und dem Mitführen von Gepäckstücken rechtfertigt ohne Hinzutreten weiterer Umstände keine besondere Fürsorgepflicht des Busfahrer. Das hohe Alter von 86 Jahren und die Benutzung eines Gehstocks sowie das Mitführen eines Einkaufstrolleys begründen daher keine besondere Sorgfalts- und Aufmerksamkeitspflicht des Busfahrers gegenüber dem Fahrgast (vgl. BGH VersR 1993, 240, 241; OLG Oldenburg VersR 2001, 118, 119).

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Ein unfallursächliches Verschulden kann daher dem Zeugen y als Fahrer des Busses nicht angelastet werden.

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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO.

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Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO; 26 Nr. 8 EGZPO.

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