Zum Mehrbedarf eines Empfängers von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Hartz IV) wegen kostenaufwändiger Ernährung

SG Magdeburg, Urteil vom 02. September 2021 – S 7 AS 940/17

1. Das Ausstellen einer ärztlichen Bescheinigung durch den behandelnden Arzt des Antragsstellers als Nachweis für den Mehrbedarf einer kostenaufwändigen Ernährung nach § 21 Abs 5 SGB II stellt keine Untersuchungsmaßnahme nach § 62 SGB I dar. (Rn.24)

2. Die durch die Einholung der ärztlichen Bescheinigung entstandenen Kosten sind im Rahmen der Mitwirkungspflicht nach § 60 SGB I des Antragsstellers nicht von dem Leistungsträger zu erstatten, soweit die Kosten nicht entgegen § 65 Abs 1 SGB I in einem angemessenen Verhältnis zu der in Anspruch genommen Sozialleistung stehen. (Rn.67)

3. Die Einholung der ärztlichen Bescheinigung als Nachweis eines Mehrbedarfs einer kostenaufwändigen Ernährung nach § 21 Abs 5 SGB II ist ein eigenes Geschäft des Antragsstellers nach §§ 677, 683 BGB im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 60 Abs 1 SGB I. (Rn.45)

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand
1
Der 1978 geborene Kläger begehrt die Übernahme von Kosten für die Ausstellung einer ärztlichen Bescheinigung.

2
Die Beklagte gewährte dem Kläger für den Leistungszeitraum vom 01. September 2016 bis zum 31. August 2017 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

3
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger mit anwaltlichen Schriftsatz vom 06. September 2016 Widerspruch ein und begründete diesen u. a. dahingehend, dass ihm aufgrund einer bestehenden chronischen Darmerkrankung in Form einer verzehrenden Erkrankung und gestörter Nährstoffaufnahme ein Mehrbedarf zustehen würde.

4
Die Beklagte forderte den Kläger mit Schreiben vom 14. September 2016 auf, die diesem Schreiben beigefügte ärztliche Bescheinigung zur Überprüfung des Mehrbedarfes von dem behandelnden Arzt ausgefüllt sowie unterschrieben bis zum 28. September 2016 einzureichen und wies dabei auf eine etwaige Versagung der Leistung bei fehlender Mitwirkung hin.

5
Die behandelnde Ärztin des Klägers füllte die beigefügte ärztliche Bescheinigung am 26. September 2016 aus, ohne ihn erneut zu untersuchen, und berechnete gegenüber dem Kläger hierfür Kosten in Höhe von 10,00 €. Der Kläger glich diese Kosten aus.

6
Der Kläger begehrte gegenüber der Beklagten mit Antrag vom 10. Oktober 2016 die Übernahme der entstandenen Kosten in Höhe von 10,00 €.

7
Dies lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27. Oktober 2016 ab, da diese Kosten aus dem Regelbedarf zu übernehmen seien. Eine spezielle Regelung zur Übernahme der begehrten Kosten sei im SGB II nicht gegeben.

8
Ebenso lehnte die Beklagte bereits mit Bescheid vom 12. Oktober 2016 die Gewährung eines Mehrbedarfes für kostenaufwendige Ernährung ab.

9
Der Kläger legte mit anwaltlichen Schreiben vom 08. November 2016 Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid vom 27. Oktober 2016 ein. Eine Übernahme sei gemäß § 65 a SGB I in Verbindung mit § 62 SGB I gegeben, da es sich bei der Vorlage der ärztlichen Bescheinigung um ein entsprechendes Verlangen einer ärztlichen Untersuchung handele.

10
Die Beklagte wies mit Widerspruchsbescheid vom 06. März 2017 den Widerspruch als unbegründet zurück. Eine Übernahme der begehrten Kosten nach § 65 a SGB I in Verbindung mit § 62 SGB I sei nicht gegeben, da es sich bei den Kosten für das Ausstellen eines Attests nicht um eine Untersuchung im Sinne der Norm handele, sondern nur um ein Bestätigen von einer in der Vergangenheit getroffenen Diagnose.

11
Mit Klage, eingegangen bei Gericht am 29. März 2017, verfolgt der Kläger sein Begehr weiter.

12
Er ist der Ansicht, die entstandenen Kosten seien übernahmefähig, da dem Ausfüllen der ärztlichen Bescheinigung eine ärztliche Begutachtung vorzugehen habe, ob die getroffene Diagnose noch zutreffe.

13
Weiterhin sei auch ein Erstattungsanspruch gemäß § 21 Abs. 3 S. 4 SGB X in Verbindung mit § 670 BGB gegeben. Die Kosten seien im Rahmen der Sachverhaltsaufklärung der Beklagten entstanden und daher zu übernehmen. Der Kläger habe dahingehend einen Auftrag für die Beklagte ausgeführt. Die Fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 21 SGB II seien im Rahmen der Auslegung der Übernahmefähigkeit mit heranzuziehen. Diese Ansicht vertrete auch die Bundesagentur für Arbeit.

14
Der Kläger beantragt,

15
den Bescheid vom 27. Oktober 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06. März 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger entstandene Attestgebühren in Höhe von 10,00 € zu zahlen.

16
Die Beklagte beantragt,

17
die Klage abzuweisen.

18
Die Beklagte nimmt auf die Begründung des Ablehnungs- und Widerspruchsbescheides Bezug und tritt einer Kostenübernahme entgegen.

19
Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

20
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 02. September 2021 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe
21
Die zulässige Klage ist unbegründet.

22
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zahlung der entstandenen 10,00 € für die ausgestellte ärztliche Bescheinigung. Die Ablehnung des Anspruches mit Bescheid vom 27. Oktober 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06. März 2017 ist rechtmäßig.

23
Im Einzelnen:

1.

24
Ein Zahlungsanspruch ergibt sich nicht aus § 65a Abs. 1 S. 1 SGB I in Verbindung mit § 62 SGB I.

25
Gemäß § 65a Abs. 1 S. 1 SGB I kann, wer einem Verlangen des zuständigen Leistungsträgers nach den §§ 61 oder 62 nachkommt, auf Antrag Ersatz seiner notwendigen Auslagen und seines Verdienstausfalles in angemessenem Umfang erhalten. Gemäß § 62 SGB I soll, wer Sozialleistungen beantragt oder erhält, sich auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers ärztlichen und psychologischen Untersuchungsmaßnahmen unterziehen, soweit diese für die Entscheidung über die Leistung erforderlich sind.

26
Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben.

27
Der Kläger hat sich keiner Untersuchungsmaßnahme auf Verlangen der Beklagten im Sinne des § 62 SGB I unterzogen.

28
Ärztliche Untersuchungen sind alle Maßnahmen, die von approbierten Ärzten nach den Regeln der medizinischen Wissenschaft durchzuführen sind, um – für die Entscheidung über die Leistung erforderliche – Feststellungen über den Gesundheitszustand einer Person zu treffen (vgl. BeckOK SozR/Hase, 61. Ed. 1.12.2020, SGB I § 62 Rn. 4).

29
Die behandelnde Ärztin des Klägers hat lediglich ein zuvor bei ihm durch sie diagnostiziertes Krankheitsbild mit der Bescheinigung bestätigt, ohne ihn erneut zu untersuchen.

30
Eine ärztliche Untersuchung hat die Beklagte im Antragsvordruck auch nicht gefordert, sondern lediglich eine ärztliche Bescheinigung.

31
Hinzu kommt, dass es sich bei den Kosten für das ärztliche Attest nicht um Auslagen des Klägers handelt. Dazu gehören Fahrt-, Verpflegungs- und Übernachtungskosten sowie sonstige Kosten (z.B. Kosten einer notwendigen Begleitperson oder einer Haushaltshilfe.

32
Bei den Kosten für die Bescheinigung handelt es sich um die Kosten der ärztlichen Maßnahme (vgl. SG Braunschweig, Urteil vom 13. Januar 2016 – S 17 AS 3211/12 –, Rn. 17 – 18, juris).

33
Entgegen der Ansicht des Klägers führt auch eine Berücksichtigung der Grundsätze der Fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 21 SGB II Rn. 21.29 ff. im Rahmen der Auslegung nicht zu einem anderen Ergebnis.

34
Soweit die Fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 21 SGB II Rn. 21.29 Abs. 2 die Aufforderung zur Vorlage der vorgesehenen Bescheinigung als ein Verlangen im Sinne des § 62 SGB I, sich ggf. einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen und das Ergebnis der Abklärung auf dem Vordruck bestätigen zu lassen, bewerten und dadurch die Voraussetzungen nach § 65a SGB I für die Erstattung angemessener Kosten für die Ausstellung der Bescheinigung damit erfüllt seien, steht dies im klaren Widerspruch zum Wortlaut des § 62 SGB I, welcher auf eine Untersuchung abstellt.

35
Eine über den Wortlaut hinausgehende Auslegung von §§ 62, 65a Abs. 1 S. 1 SGB I ist von dem Sinn und dem Zweck der Vorschrift nicht mit umfasst. Durch § 65a SGB I soll verhindert werden, dass Antragsteller oder Leistungsempfänger durch die Mitwirkung i. S. d. §§ 61 und 62 wirtschaftlich unzumutbar belastet werden (BT-Drs. 8/2034, 42; BeckOK SozR/Hase, 61. Ed. 1.6.2014, SGB I § 65a). Der Aufwendungsersatzanspruch soll verhindern, dass dem Betroffenen seine Mitwirkung allein aus wirtschaftlichen Gründen unzumutbar ist. Da der Amtsermittlungsgrundsatz durch die Mitwirkungsobliegenheiten letztlich abgestützt wird, soll der Betroffene nicht auch noch zusätzlich finanziell über Gebühr belastet werden (Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann/Joussen, 7. Aufl. 2021 Rn. 1, SGB I § 65a Rn. 1).

36
Sinn und Zweck der Norm stellt daher auf die Verhinderung unzumutbarer Belastungen bei der Mitwirkung des Antragsstellers ab. Bei den Kosten für die Ausstellung der ärztlichen Bescheinigung handelt es sich nach der Gebührenordnung für Ärzte im Regelfall für eine kurze Bescheinigung, wobei der in Höhe des bei Privatrechnungen übliche 2,3-fache Satze, mithin 5,36 € heranzuziehen ist. Eine weitergehende Auslegung auf generelle zumutbare finanzielle Belastungen steht daher im Widerspruch des Sinns und Zwecks der Norm. Eine weitergehende Auslegung ist auch nicht aus systematischen Gründen angezeigt, da § 65 SGB I Grenzen der Mitwirkung anhand einer Einzelfallbetrachtung vorsieht.

2.

37
Ein Zahlungsanspruch ergibt sich auch nicht aus den Fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 21 SGB II (Rn. 21.29 ff).

38
Eine Bindungswirkung aus den Fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 21 SGB II (Rn. 21.29 ff) besteht für die Beklagte nicht. Aus internen Regelungen kann sich ein Anspruch nur bei Ermessensentscheidungen ergeben, wenn aus diesen eine Selbstbindung der Verwaltung folgt (vgl. BSG vom 7. Juli 2011 B 14 KG 2/09 R Rn. 11, juris). Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG erfasst nur Ungleichbehandlungen, die aus Handlungen ein- und desselben Hoheitsträgers resultieren. Die unterschiedliche Auslegung und Anwendung derselben Rechtsvorschriften durch verschiedene Behörden verletzen noch kein Verfassungsrecht. Die Beklagte als ein kommunaler Träger nach § 6a SGB II (Optionskommune) ist daher nicht aufgrund Art. 3 Abs. 1 GG verpflichtet, ihr Handeln an der Verwaltungspraxis anderer Behörden, hier der Bundesagentur für Arbeit, auszurichten. Die Fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit sind auch keine allgemeinen Verwaltungsvorschriften im Sinne des Art. 84 Abs. 2 GG oder des § 48 Abs. 2 S 2 SGB 2. Auch dient § 6b Abs. 4 SGB II nicht der Gewährleistung eines grundsätzlich einheitlichen Gesetzesvollzugs (vgl. BSG, Beschluss vom 24. Juni 2020 – B 4 AS 26/20 B –, juris).

3.

39
Eine Kostenübernahme nach § 64 Abs. 1 S. 1 SGB X scheidet ebenfalls aus, da § 64 Abs. 1 S. 1 SGB X allein die Kostenfreiheit des Verfahrens vor den Behörden nach diesem Gesetzbuch regelt. Ein Zahlungsanspruch nach § 64 Abs. 2 S. 1 SGB X ist ebenfalls nicht gegeben. § 64 Abs. 2 S. 1 SGB X regelt die Kostenfreiheit für ein Tätigwerden anderer Behörden im Zusammenhang mit einer beantragten Sozialleistung (vgl. LSG Sachsen-Anhalt Urt. v. 18.4.2013 – L 5 AS 66/08, BeckRS 2013, 201055 Rn. 35, 36, beck-online).

4.

40
Weitere Regelungen zum Ersatz von Aufwendungen eines Antragstellers im Rahmen der Amtsermittlungspflicht gemäß § 21 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 4 SGB X i. V. m. § 60 Abs. 1 SGB I sind nicht gegeben.

41
Der geltend gemachte Leistungsanspruch ist nicht nach den Grundsätzen der Vorschriften über den Auftrag gemäß § 670 BGB oder eine Geschäftsführung ohne Auftrag gemäß § 677 f. BGB begründet.

42
Ein Anspruch ergibt sich nicht aus §§ 662, 670 BGB.

43
Macht gemäß § 670 BGB der Beauftragte zum Zwecke der Ausführung des Auftrages Aufwendungen, die er den Umständen nach für erforderlich halten darf, so ist der Auftraggeber zum Ersatz verpflichtet.

44
Ein Auftrag lag hier nicht vor. Bei behördliche Anordnungen an Privatpersonen handelt es sich nicht um Aufträge im Sinne von § 670 BGB (vgl. dazu LSG Sachsen-Anhalt Urt. v. 18.4.2013 – L 5 AS 66/08, BeckRS 2013, 201055 Rn. 35, 36, beck-online; SG Gießen, Urteil vom 09. November 2016 – S 25 AS 609/14 –, ; Jauernig, BGB, 18. Aufl. 2021, § 670, Rn. 6; a. A. SG Braunschweig Urt. v. 13.1.2016 – S 17 AS 3211/12, BeckRS 2016, 68056, beck-online).

45
Ein Zahlungsanspruch ergibt sich auch nicht aus §§ 677, 683. BGB.

46
Diese sind im öffentlichen Recht entsprechend anzuwenden, soweit – wie hier – ein Erstattungsanspruch nach den §§ 102 f. SGB X ausscheidet (BSG, Urteil vom 12. Januar 2010, B 2 U 28/08 R (24); LSG Sachsen-Anhalt Urt. v. 18.4.2013 – L 5 AS 66/08, BeckRS 2013, 201055 Rn. 35, 36, beck-online).

47
Wer gemäß § 677 BGB ein Geschäft für einen anderen besorgt, ohne von ihm beauftragt oder ihm gegenüber sonst dazu berechtigt zu sein, hat das Geschäft so zu führen, wie das Interesse des Geschäftsherrn mit Rücksicht auf dessen wirklichen oder mutmaßlichen Willen es erfordert.

48
Entspricht gemäß § 683 S. 1 BGB die Übernahme der Geschäftsführung dem Interesse und dem wirklichen oder dem mutmaßlichen Willen des Geschäftsherrn, so kann der Geschäftsführer wie ein Beauftragter Ersatz seiner Aufwendungen verlangen.

49
Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben.

50
Die Geschäftsführung ohne Auftrag setzt voraus, dass der Geschäftsführer ein Geschäft „für einen anderen“ besorgt. Das ist der Fall, wenn er das Geschäft nicht (nur) als eigenes, sondern (auch) als fremdes führt, also in dem Bewusstsein und mit dem Willen, zumindest auch im Interesse eines anderen zu handeln (BGHZ 16, 12, 13; 65, 354, 357; 114, 248, 249 f.; Senatsurteil vom 2. April 1998 – III ZR 251/96WM 1998, 1356, 1358). Der Bundesgerichtshof unterscheidet zwischen objektiv und subjektiv fremden Geschäften.

51
Bei objektiv fremden Geschäften, die schon ihrem Inhalt nach in einen fremden Rechts- und Interessenkreis eingreifen, wird der Fremdgeschäftsführungswille vermutet (BGH Urt. v. 23.9.1999 – III ZR 322/98, BeckRS 1999, 30074327, beck-online). Dies gilt auch für den Willen, ein fremdes Geschäft mit zu besorgen, falls es sich auch um ein objektiv fremdes Geschäft handelt, wozu genügt, dass das Geschäft seiner äußeren Erscheinung nach nicht nur dem Besorger, sondern auch einem Dritten zugutekommt (BGH Urt. v. 23.9.1999 – III ZR 322/98, BeckRS 1999, 30074327, beck-online).

52
Hingegen erhalten objektiv eigene oder neutrale Geschäfte ihren Fremdcharakter erst durch den Willen des Geschäftsführers (auch) zu einer Fremdgeschäftsführung. Dafür besteht grundsätzlich keine tatsächliche Vermutung; der Wille, ein solches Geschäft zugleich für einen anderen zu führen, muss vielmehr hinreichend nach außen in Erscheinung treten (BGH Urt. v. 23.9.1999 – III ZR 322/98, BeckRS 1999, 30074327, beck-online).

53
Hier fehlt es bereits an einem fremden Geschäft. Der Kläger hat ein eigenes Geschäft geführt.

54
Ein objektiv eigenes Geschäft liegt vor, wenn der Geschäftsführer durch seine Geschäftsbesorgung seine eigene Rechtsposition beeinträchtigt bzw. berührt (MüKoBGB/Schäfer, 8. Aufl. 2020 Rn. 40, BGB § 677 Rn. 40).

55
So liegt es hier.

56
Die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung ist eine solche Mitwirkungspflichten des Klägers, welche ein eigenes Geschäft des Klägers darstellt (vgl. SG Gießen Urt. v. 9.11.2016 – S 25 AS 609/14, BeckRS 2016, 74628, beck-online).

57
Die Einholung der ärztlichen Bescheinigung dient im Rahmen der Mitwirkungspflicht des Klägers als Antragssteller als Nachweis für den begehrten Mehrbedarf der kostenaufwendigen Ernährung gemäß § 21 Abs. 5 SGB II.

58
Ausschlaggebend für die Frage, ob der Kläger mit der Einholung der Bescheinigung auf dem Formular der Beklagten eines ihrer Geschäft besorgt hat, ist, ob der Kläger dazu selbst nach § 60 SGB I selbst verpflichtet war und damit ein eigenes Geschäft geführt hat oder, ob er nur an der Amtsermittlung des Beklagten nach § 21 Abs. 2 S. 1 SGB X beteiligt war.

59
Vorliegend war der Kläger gemäß § 60 SGB I selbst verpflichtet, die streitgegenständliche Bescheinigung seiner Ärztin vorzulegen.

60
Nach § 60 Abs. 1 SGB I hat, wer Sozialleistungen beantragt oder erhält,

61
1. alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind, und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers der Erteilung der erforderlichen Auskünfte durch Dritte zuzustimmen,

62
2. Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden sind, unverzüglich mitzuteilen,

63
3. Beweismittel zu bezeichnen und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen oder ihrer Vorlage zuzustimmen.

64
Bei der streitgegenständlichen vorgelegten ärztlichen Bescheinigung handelt es sich um ein Beweismittel im Sinne des § 60 Abs. 1 Nr. 3 SGB I, welches für den Leistungsbezug, die Gewährung des beantragten Mehrbedarfes i. S. v. § 21 Abs. 5 SGB II, relevant war. § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB I findet nicht nur auf bereits vorhandene Beweismittel, sondern auch auf solche, die erst noch beschafft werden müssen, Anwendung (vgl. BSG vom 26. Mai 1983 10 RKg 13/82 Rn. 9; SG Gießen Urt. v. 9.11.2016 – S 25 AS 609/14, BeckRS 2016, 74628, beck-online).

65
Der Vorlage der ärztlichen Bescheinigung durch den Kläger steht auch § 65 Abs. 1 SGB I nicht entgegen.

66
Für die Vorlage von noch zu beschaffenden Beweismitteln ergeben sich Grenzen aus § 65 Abs. 1 SGB I, die der Mitwirkungspflicht und der Annahme eines eigenen Geschäfts des Antragsstellers widersprechen können.

67
Die Voraussetzungen von § 65 Abs. 1 SGB I sind nicht erfüllt.

68
Gemäß § 65 Abs. 1 SGB I besteht eine Mitwirkungspflicht nach §§ 60 und 61 SGB I nicht, soweit

69
1. ihre Erfüllung nicht in einem angemessenen Verhältnis zu der in Anspruch genommenen Sozialleistung oder ihrer Erstattung steht oder

70
2. ihre Erfüllung dem Betroffenen aus einem wichtigen Grund nicht zugemutet werden kann oder

71
3. der Leistungsträger sich durch einen geringeren Aufwand als der Antragsteller oder Leistungsberechtigte die erforderlichen Kenntnisse selbst beschaffen kann.

72
Die Übernahme der Kosten durch den Kläger ist im Sinne des § 65 Abs. 1 Nr. 1 SGB I angemessen im Verhältnis zu der in Anspruch genommen Sozialleistung.

73
§ 65 Abs. 1 Nr. 1 SGB I bezieht sich auf die Zweck-Mittel-Relation und konkretisiert maßgeblich den allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (BSG 28.3.2013 – B 4 AS 42/13 R, NZS 2013, 757). Dies gilt entsprechend dem Gesetzeswortlaut für Leistungen wie Erstattungen. Es ist daher abzuwägen, inwieweit die Interessen des Leistungsträgers an der Mitwirkungshandlung in einer angemessenen Relation zum Interesse des Antragstellers/Leistungsbeziehers stehen, wobei sowohl objektive als auch subjektive Kriterien zu berücksichtigen sind (BSG 20.3.1981 – 8/8a RU 46/80, SozR 1200 § 63 Nr. 1). Maßgeblich ist wie stets bei der Ermittlung des Inhalts eines unbestimmten Rechtsbegriffes („angemessen“) eine Einzelfallbetrachtung.

74
Diese wird sich entscheidend auch an der in Frage stehenden Mitwirkungspflicht zu orientieren haben; bei der Mitwirkungspflicht nach § 60 SGB I oder § 61 SGB I wird, sofern § 65 Abs. 1 SGB I nicht ohnehin durch Abs. 3 verdrängt ist, das Interesse des Antragstellers/Leistungsempfängers regelmäßig weniger hoch zu bewerten sein, als bei gesundheitlichen Eingriffen. Unverhältnismäßig kann ein Mitwirkungsverlangen auch sein, wenn der Aufwand für den Betroffenen in keiner Relation zu der erstrebten, möglicherweise nur sehr geringen Sozialleistung steht (Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann/Joussen, 7. Aufl. 2021, SGB I § 65 Rn. 4).

75
Unter Berücksichtigung der Gesamtumstände ist eine Unangemessenheit durch eigenständige Zahlung der entstandenen Attestgebühren in Höhe von 10,00 € durch den Kläger nicht zu erkennen.

76
Aufgrund der verzehrenden Erkrankung des Klägers könnte ein Mehrbedarf gemäß § 21 Abs. 5 SGB II des Klägers in Höhe von monatlich 10 % des Regelbedarfes Betracht kommen (vgl. Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge). Dies würde einen monatlichen Betrag von 36,40 € entsprechend eines Regelbedarfes von monatlich 364,00 € gemäß § 20 Abs. 2 SGB II in der Fassung gültig ab 01. August 2016 bis 31. Dezember 2016 begründen. Die entstandenen Attestgebühren in Höhe von 10,00 € sind daher bei einem Leistungszeitraum von sechs Monaten nicht als unangemessen zu bezeichnen. Weitere Gründe, dass der Kläger nicht zur Zahlung fähig sei oder aus denen sich für den Kläger eine besondere Belastung durch die vorgenommene Zahlung ergeben würde, sind nicht ersichtlich.

77
Die Voraussetzungen von § 65 Abs. 1 Nr. 3 SGB I liegen ebenfalls nicht vor.

78
Die Beklagte hätte die notwendigen Angaben auch durch Einholung eines Befundberichts nach § 21 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 i. V. m. § 100 Abs. 1 SGB X erlangen können. Dafür wäre aufgrund der Notwendigkeit der vorherigen Anforderung einer Schweigepflichtentbindungserklärung von dem Kläger aber ein höherer Aufwand für die Beklagte im Verhältnis zu dem Aufwand des Klägers erforderlich gewesen.

5.

79
Auch nach den Grundsätzen des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs scheidet eine Kostenübernahmeverpflichtung aus.

80
Der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch setzt als aus den allgemeinen Grundsätzen des öffentlichen Rechts abgeleitetes Rechtsinstitut voraus, dass im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnisses Leistungen ohne rechtlichen Grund erbracht wurden oder sonstige rechtsgrundlose Vermögensverschiebungen stattgefunden haben. Auch ohne ausdrückliche Normierung wird dem Anspruchsinhaber durch den in weitgehender Analogie zu den §§ 812 ff. BGB entwickelten öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch ein Recht auf Herausgabe des Erlangten verschafft (BSG Urt. v. 27.8.2011 – B 4 AS 1/10 R, BeckRS 2011, 77054 Rn. 24, beck-online). Die Anwendung des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs ist dabei nicht auf Fälle beschränkt, in denen eine Behörde oder ein Versicherungsträger einem Versicherten oder einem anderen Leistungsträger ohne Rechtsgrund eine Leistung erbracht hat. Auf diesen Anspruch kann sich auch der Bürger stützen, wenn zu seinen Lasten eine Vermögensverschiebung eingetreten ist und ein Sozialleistungsträger etwas erhält, was ihm nicht zusteht (BSG Urt. v. 27.8.2011 – B 4 AS 1/10 R, BeckRS 2011, 77054 Rn. 24, beck-online).

81
Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben.

82
Es ist zu Lasten des Klägers keine Vermögensverschiebung eingetreten, da es sich bei den Kosten für das Ausstellen der ärztlichen Bescheinigung nicht um Aufwendungen der Beklagten handelt, sondern um die im Rahmen der Mitwirkungspflicht selbst zu tragen Kosten.

6.

83
Der Kläger kann auch keinen Anspruch auf Zahlung aufgrund des sozialrechtlichen Herstellungsanspruch gegen die Beklagte geltend machen.

84
Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch setzt voraus, dass der Sozialleistungsträger eine ihm auf Grund Gesetzes oder Sozialrechtsverhältnisses obliegende Pflicht, insbesondere zur Beratung (§ 14 SGB I) und Auskunft (§ 15 SGB I), verletzt hat. Weiter ist erforderlich, dass zwischen der Pflichtverletzung des Sozialleistungsträgers und dem Nachteil des Betroffenen ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Schließlich muss der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden können (BSG Urt. v. 20.10.2010 – B 13 R 15/10 R, BeckRS 2011, 66442, beck-online). Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist somit nicht auf die Gewährung von Schadensersatz im Sinne einer Kompensation in Geld, sondern auf Naturalrestitution gerichtet, d.?h. auf Vornahme einer Handlung zur Herstellung einer sozialrechtlichen Position im Sinne desjenigen Zustands, der bestehen würde, wenn der Sozialleistungsträger die ihm aus dem Sozialrechtsverhältnis erwachsenen Nebenpflichten ordnungsgemäß wahrgenommen hätte (BSG Urt. v. 20.10.2010 – B 13 R 15/10 R, BeckRS 2011, 66442, beck-online).

85
Der Kläger verlangt keine Amtshandlung der Beklagten, sondern eine Geldzahlung, so dass auch der sozialrechtliche Herstellungsanspruch als Anspruchsgrundlage ausscheidet (vgl. LSG Sachsen-Anhalt Urt. v. 18.4.2013 – L 5 AS 66/08, BeckRS 2013, 201055 Rn. 55, beck-online).

5.

86
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

6.

87
Die Kammer hat gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.

88
Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine konkrete Rechtsfrage zu einer Norm des Bundesrechts aufwirft, die – über den Einzelfall hinaus – allgemeine Bedeutung hat und einer Klärung durch das Berufungsgericht bedürftig und fähig ist (vgl. BSG Beschl. v. 7.3.2017 – B 2 U 140/16 B, BeckRS 2017, 109289 Rn. 5, beck-online).

89
So liegt es hier.

90
Die Rechtsfrage der Übernahmefähigkeit von entstanden Kosten für die Ausstellung einer ärztlichen Bescheinigung hat allgemeine Bedeutung über den Einzelfall hinaus.

Dieser Beitrag wurde unter Sozialrecht abgelegt und mit , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert