Zum Beginn der Verjährungsfrist bei retrograder Amnesie des Geschädigten

BGH, Urteil vom 04.12.2012 – VI ZR 217/11

Die für den Beginn der Verjährung erforderliche Kenntnis des Geschädigten kann fehlen, wenn dieser infolge einer durch die Verletzung erlittenen retrograden Amnesie keine Erinnerung an das Geschehen hat (Anschluss Senatsurteil vom 22. Juni 1993, VI ZR 190/92, VersR 1993, 1121).

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des 13. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 12. Juli 2011 wird auf Kosten des Beklagten zurückgewiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Der 1976 geborene Kläger wurde in der Zeit von 1985 bis 1990 mehrfach durch den Beklagten sexuell missbraucht. Er hat behauptet, er habe das Geschehen bis zu einer Familienfeier im April 2005 vollständig verdrängt und deshalb keine Kenntnis davon gehabt. Bei dieser Feier habe seine jüngere Schwester offenbart, von dem Beklagten missbraucht worden zu sein. Erst dadurch sei die Erinnerung an den eigenen Missbrauch zurückgekehrt. Dies habe für ihn bis heute massive psychische Folgen; es liege das Vollbild einer posttraumatischen Belastungsstörung vor. Der Beklagte hat die Einrede der Verjährung erhoben.

2

Das Landgericht hat den Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 7.500 € verurteilt. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte seinen Klageabweisungsantrag weiter.

Entscheidungsgründe

I.

3

Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht dem Kläger ein Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld in Höhe von 7.500 € gemäß § 823 Abs. 1, § 847 BGB aF zu. Das Landgericht habe die beiden im angefochtenen Urteil konkret festgestellten Fälle sexuellen Missbrauchs des Klägers durch den Beklagten mit zutreffender Begründung als unstreitig angesehen. Dagegen habe sich die Berufung nicht gewendet. Damit stünden die beiden vom Landgericht angenommenen Fälle eines sexuellen Missbrauchs in den Jahren 1988 und 1990 fest.

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Der aus diesen Verletzungshandlungen folgende Schmerzensgeldanspruch sei nicht verjährt. Die Verjährung bestimme sich gemäß Art. 229 § 6 Abs. 1 Satz 2 EGBGB für den Zeitraum vor dem 1. Januar 2002 nach § 852 Abs. 1 BGB aF. Nach dieser Vorschrift sei der Schadensersatzanspruch in drei Jahren von dem Zeitpunkt an verjährt, in welchem der Verletzte von dem Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen Kenntnis erlangt habe. Bei dem zum Zeitpunkt der Tat beschränkt geschäftsfähigen Kläger habe die Verjährung grundsätzlich mit dem Eintritt der Volljährigkeit im Dezember 1994 begonnen. Das Landgericht habe aber zutreffend angenommen, dass der Kläger bis zum April 2005 keine Kenntnis von der Person des Schädigers und den anspruchsbegründenden Umständen gehabt habe. Gemäß der durchgeführten Beweisaufnahme habe er das schädigende Ereignis bis April 2005 aufgrund einer psychischen Traumatisierung verdrängt und deswegen keine Erinnerung mehr daran gehabt, die ihm die erfolgversprechende Erhebung einer Schadensersatzklage ermöglicht hätte. Die Verjährung habe deshalb erst mit dem Schluss des Jahres 2005 begonnen und sei rechtzeitig durch Erhebung der Klage im September 2008 gehemmt worden (§ 199 Abs. 1, § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB).

II.

5

Die Beurteilung des Berufungsgerichts hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand.

6

1. Die Revision wendet sich nicht gegen die Feststellung, dass der Beklagte den Kläger in zwei konkret benannten Fällen sexuell missbraucht hat. Sie wendet sich ebenfalls nicht gegen die rechtlichen Überlegungen des Berufungsgerichts hinsichtlich der Anwendung der Verjährungsvorschriften. Hiergegen ist auch aus revisionsrechtlicher Sicht nichts zu erinnern. Insbesondere durfte das Berufungsgericht annehmen, dass es an der für den Beginn der Verjährung erforderlichen Kenntnis des Geschädigten vom Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen fehlen kann, wenn der Geschädigte infolge einer durch die Verletzung erlittenen retrograden Amnesie keine Erinnerung mehr an das Geschehen hat (vgl. Senatsurteil vom 22. Juni 1993 – VI ZR 190/92, VersR 1993, 1121, 1122).

7

2. Die Revision wendet sich ohne Erfolg gegen die Beurteilung, die vom Kläger geltend gemachte Schmerzensgeldforderung sei wegen sexueller Übergriffe in den Jahren 1988 und 1990 nicht verjährt. Das Berufungsgericht hat seiner Entscheidung rechtsfehlerfrei die vom Landgericht festgestellten Tatsachen zugrunde gelegt und rechtsfehlerfrei Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen verneint (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).

8

Die Revisionsrüge geht in erster Linie dahin, dass das Berufungsgericht ein aussagepsychologisches Gutachten (Glaubhaftigkeitsgutachten) hätte einholen müssen. Das Berufungsgericht hat dies allerdings zu Recht nicht als erforderlich angesehen, nachdem der Gerichtssachverständige nach umfassender Befragung des Klägers in seinem psychiatrischen Gutachten die Angaben des Klägers als plausibel angesehen hat. Infolgedessen hat es auf der Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen keine Zweifel gegen die Richtigkeit und Vollständigkeit der vom Landgericht getroffenen Feststellung gehabt, dass der Kläger bei Eintritt der Volljährigkeit und danach bis zum April 2005 keine Kenntnis von dem Missbrauch im Sinne des § 852 Abs. 1 BGB aF und des § 199 Abs. 1 Nr. 2 Fall 1 BGB hatte.

9

a) Soweit die Revision geltend macht, der Sachverständige habe die Angaben des Klägers nur als „plausibel“ angesehen, ist darauf hinzuweisen, dass es nicht Aufgabe des Sachverständigen ist, darüber zu befinden, ob die zu begutachtende Aussage wahr ist oder nicht; dies ist dem Tatrichter vorbehalten. Der Sachverständige soll vielmehr dem Gericht die Sachkunde vermitteln, mit deren Hilfe es die Tatsachen feststellen kann, die für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit wesentlich sind (vgl. BGH, Urteil vom 12. November 2003 – 2 StR 354/03, NStZ-RR 2004, 87, 88; Pfister, FPPK 2008, 3, 4). Demgemäß ist die Beurteilung von Zeugenaussagen oder der Glaubhaftigkeit eines Parteivorbringens grundsätzlich ureigene richterliche Aufgabe, bei der es nur ausnahmsweise der Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens bedarf (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 – 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164, 182; Pfister, aaO, S. 5).

10

b) Im Streitfall war es nicht erforderlich, zusätzlich zu der psychiatrischen Begutachtung ein aussagepsychologisches Gutachten einzuholen. Gegenstand einer aussagepsychologischen Begutachtung ist – wie sich bereits aus dem Begriff ergibt – nicht die Frage nach einer allgemeinen Glaubwürdigkeit des Untersuchten im Sinne einer dauerhaften personalen Eigenschaft. Es geht vielmehr um die Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, d.h. einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (vgl. BGH, Urteile vom 30. Juli 1999 – 1 StR 618/98, aaO, 167; vom 30. Mai 2000 – 1 StR 582/99, NStZ 2001, 45, 46). Vorrangig geht es also um die Analyse des Aussageinhalts, d.h. um eine methodische Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben einem tatsächlichen Erleben entsprechen (vgl. BGH, Urteil vom 11. Januar 2005 – 1 StR 498/04, NJW 2005, 1519, 1521 mwN.; Pfister, aaO, S. 6 sowie die vom Beklagten vorgelegte Studie von Volbert, Aussagen über traumatische Erlebnisse, veröffentlicht in FPPK 2011, S. 18, 29). Demgemäß sind die Kriterien für ein aussagepsychologisches Gutachten anhand einer Fallkonstellation entwickelt worden, in der zu prüfen war, ob ein Missbrauch überhaupt stattgefunden hat und ob der Angeklagte wirklich der Täter war. Dies entspricht nicht dem vorliegenden Fall. Hier sind zwei Missbrauchsfälle tatrichterlich festgestellt worden und es geht nur um die Frage, ob die geltend gemachten Ansprüche deshalb nicht verjährt sind, weil der Kläger wegen einer Verdrängung des Missbrauchsgeschehens mit der Folge des Erinnerungsverlusts bis 2005 keine Kenntnis im Sinne des § 852 Abs. 1 BGB aF und des § 199 Abs. 1 Nr. 2 Fall 1 BGB hatte. Bei einer solchen Fragestellung war die Einholung eines zusätzlichen aussagepsychologischen Gutachtens nicht erforderlich (vgl. auch BGH, Urteil vom 23. August 2007 – 3 StR 301/07, NStZ 2008, 116, 117). Die Revisionserwiderung weist im Übrigen zu Recht daraufhin, dass der Beklagte nach Vorlage des psychiatrischen Ergänzungsgutachtens und Fristsetzung durch das Landgericht nur die Überprüfung der Glaubhaftigkeit der Angaben des Klägers hinsichtlich des zugrunde gelegten – jedenfalls im Berufungsverfahren nicht mehr streitigen – Tatgeschehens beantragt hat. Die in der psychiatrischen Exploration und im Prozessvortrag erfolgten Aussagen des Klägers in Bezug auf die Frage nach der geltend gemachten Amnesie zu bewerten, war Sache des psychiatrischen Sachverständigen und in der abschließenden Gesamtschau Sache des sachverständig beratenen Gerichts.

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