Zum Ausgleichsanspruch wegen Flugverspätung

LG Stuttgart, Urteil vom 21.03.2012 – 13 S 93/11

Die Kammer sieht keinen Anlass, von der Rechtsprechung des EuGH abzuweichen, wonach ein Ausgleichsanspruch auch Fluggästen verspäteter Flüge zustehen kann.

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Nürtingen vom 27.03.2011 – Aktenzeichen 11 C 178/11 – wird zurückgewiesen.

2. Von den Kosten der Berufungsinstanz tragen

von den Gerichtskosten und den außergerichtlichen Kosten der Beklagten der Kläger Ziff. 1 18 % und die Beklagte 82 %,

von den augergerichtlichen Kosten des Klägers Ziff. 1 dieser selbst 47 % und die Beklagte 53 %,

die außergerichtlichen Kosten der Kläger Ziff. 2 bis 4 tragt die Beklagte.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

4. Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.

Streitwert für das Berufungsverfahren: 1.222,79 €

(Berufung: 1.000 €, Anschlussberufung: 222,79 €)

Gründe:

Die Beklagte wendet sich mit ihrer Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Nürtingen, mit dem sie zu Ausgleichszahlungen von jeweils 250,00 € an die Kläger aufgrund der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.02.2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer
Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (im Folgenden: VO (EG) Nr. 261/2004) verurteilt wurde.

1. Die Kläger waren Fluggäste des Flugs Nr. 4 U 2513, den die Beklagte durchführte und der am 06.09.2010 planmäßig um 20.35 Uhr in Madrid abfliegen und um 23.05 Uhr in Stuttgart landen sollte. Die Entfernung zwischen Stuttgart und Madrid beträgt 1.360 km Luftlinie. Tatsächlich verließ das Flugzeug erst um 22.47 Uhr Madrid und landete wegen des in Stuttgart bestehenden Nachtflugverbots um 1.17 Uhr auf dem Flughafen Köln/Bonn. Der Kläger Ziff. 1, dem das Nachtflugverbot bekannt war, hatte während des Fluges nach dem Zielflughafen gefragt, jedoch von einer Flugbegleiterin die Auskunft erhalten, Zielflughafen sei Stuttgart. Erst 15 Min. vor der Landung erfuhren die Passagiere des Fluges, dass der Flughafen Köln/Bonn angeflogen und die Fluggäste per Bustransfer nach Stuttgart weiterbefördert werden sollen.

Der Kläger Ziff. 1 mietete sich am Flughafen Köln/Bonn ein Auto für 214,44 € und erreichte am 07.09.2010 gegen 6 Uhr morgens Stuttgart. Für Nahrungsmittel in Köln wandte der Kläger Ziff. 1 5,35 € und für ein Parkticket in Stuttgart 3,00 € auf.

Der Kläger Ziff. 1 trägt vor, er habe am 07.09.2010 um 9 Uhr morgens einen wichtigen Besprechungstermin in Stuttgart gehabt, den er nicht hätte einhalten können, wenn er den von der Beklagten zur Verfügung gestellten Bustransfer nach Stuttgart genutzt hätte.

Die Kläger sind der Ansicht, die Voraussetzungen für eine Ausgleichszahlung, die der EuGH in seinem Urteil vom 19.11.2009 (Aktenzeichen C-402/07 und C-432/07) ausgesprochen hat, lägen hier vor.

Die Kläger haben erstinstanzlich zuletzt beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an die Kläger jeweils 250,00 € nebst Zinsen, an den Kläger Ziff. 1 weitere 222,79 € nebst Zinsen und an alle Kläger als Mitgläubiger 234,97 € an vorgerichtlichen Anwaltskosten nebst Zinsen zu bezahlen.

Die Beklagte beantragte Klagabweisung, hilfsweise die Vorlage des Verfahrens an den EuGH und höchst hilfsweise die Aussetzung des Verfahrens aus den in der Berufungsinstanz wiederholten Gründen.

Die Beklagte ist der Ansicht, die Klage könne schon deswegen keinen Erfolg haben, weil ein Ausgleichsanspruch nach Art. 5 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 b) voraussetze, dass der Flug annulliert wurde. Die Verordnung unterscheide hinsichtlich der Rechtsfolgen ausdrücklich zwischen Verspätung und Annullierung. Eine Annullierung stelle es nicht dar, wenn der Flug tatsächlich durchgeführt werde. Die Beklagte habe sich – anders als bei einer Annullierung – keine Kosten des Fluges erspart, das gebuchte Flugzeug habe lediglich statt Stuttgart den Flughafen Köln/Bonn angeflogen. Die Beklagte ist weiter der Auffassung, die Auslegung des EuGH im Urteil vom 19.11.2009, Aktenzeichen. C-402/07 (EuGH NJW 2010, 43), kollidiere mit dem Montrealer Übereinkommen (im Folgenden: MU). Nach Art. 29 MU sei Schadensersatz nur unter den in dem Übereinkommen genannten Voraussetzungen zu leisten. Schließlich macht die Beklagte geltend, die Abflugverzögerung in Madrid habe auf einem außergewöhnlichen Umstand im Sinne von Art. 5 Abs. 3 VO (EG) Nr. 261/2004 beruht, da ein plötzlich aufgetretener technischer Defekt den Austausch des Fluggeräts habe erforderlich werden lassen. Außerdem sei das Nachtflugverbot in Stuttgart ein außergewöhnlicher Umstand im Sinne von Art. 5 Abs. 3 VO (EG) Nr. 261/2004.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens in erster Instanz, einschließlich der Antragstellung, wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen, § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO.

2. Das Amtsgericht hat mit Urteil vom 27.04.2011 (Bl. 157 d.A.) die Beklagte verurteilt, an die Kläger jeweils 250,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 22.10.2011 zu bezahlen. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen, soweit Ersatz von Mietwagenkosten, Kosten für Nahrungsmittel, Parkgebühren und vorgerichtliche Anwaltskosten verlangt werden.

Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:

Das Gericht halte zwar an seiner im Urteil vom 27.09.2010, Aktenzeichen 11 C 1219/10, geäußerten Rechtsauffassung fest, wonach Nur-Verspätungsfalle nicht zu einem Anspruch auf Ausgleichszahlungen führen; im zu entscheidenden Fall liege allerdings eine sehr kritikwürdige Täuschung der Mitarbeiter der Beklagten gegenüber den Klägern vor, die der Beklagten zuzurechnen sei. Dieses Verhalten sei hinsichtlich der Auswirkungen für die Passagiere gravierender als die Annullierung. Im Fall der Annullierung sollen die Fluggäste nach Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 261/2004 Angaben erhalten zu einer möglichen anderweitigen Beförderung. Hätte die Beklagte mitgeteilt, dass der Flug nach Stuttgart von der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung zum Nachtflugverbort abhänge, deren Erteilung mehr als unsicher gewesen sei, hätten die Fluggäste die Wahl gehabt, ob sie den Flug nach Köln als anderweitige Beförderung akzeptieren oder nicht. Diese Wahlmöglichkeit habe die Beklagte den Fluggästen durch ihre Täuschung genommen, weshalb dieser Sachverhalt der Annullierung gleich zu erachten sei.

Das Vorbringen der Beklagten zu den außergewöhnlichen Umständen sei kein ernsthaftes Verteidigungsvorbringen. Der technische Defekt sei nicht ansatzweise konkretisiert, das Nachtflugverbot sei bekannt und kein „außergewöhnlicher Umstand“.

3. Gegen dieses Urteil wendet sich die Beklagte mit der Berufung mit dem Ziel der vollständigen Klagabweisung, hilfsweise der Vorlage des Verfahrens dem EuGH zur Vorabentscheidung, höchst hilfsweise der Aussetzung des Verfahrens oder Zulassung der Revision.

Die Beklagte ist der Ansicht, es liege hier weder der Fall einer Annullierung noch einer erheblichen Verspätung des Flugs vor. Weiter beruft sie sich auf außergewöhnliche Umstände.

Die Beklagte beantragt:

Unter Abänderung des Urteils des Amtsgerichts Nürtingen zu Aktenzeichen – 11 C 178/11 – vom 27.04.2011 wird die Klage vollständig abgewiesen,

hilfsweise:

1. Das Verfahren wird ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof die zwischen den Parteien streitigen Fragen in der Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV (ex. Artikel 234 Abs. 3 EGV) zur Vorabentscheidung vorgelegt:

a) Ist es mit den Grundsätzen der Verfassung der Europaischen Gemeinschaft vereinbar, insbesondere dem Grundsatz der Gewaltenteilung, dem Grundsatz der Rechtssicherheit und dem Übermaßverbot, wenn die Verordnung dahingehend ausgelegt wird, dass einem von einer bloßen Verspätung von mehr als 3 Stunden betroffenen Fluggast eine Ausgleichszahlung nach Art. 7 der Verordnung zusteht, obwohl die Verordnung dies nur im Falle einer Beförderungsverweigerung oder Annullierung des gebuchten Fluges vorsieht, die Ansprüche des Fluggastes im Falle einer Verspätung aber auf Unterstützungsleistungen nach Art. 9 der Verordnung und – wenn die Verspätung mehr als 5 Stunden dauert – auch auf Unterstützungsleistungen nach Art. 8 Abs. 1 lit. a) der Verordnung beschränkt und verstößt die Zuerkennung einer Ausgleichszahlung im Falle einer Flugverspätung bei internationalen Flugen nicht gegen das Völkerrecht, weil nach Art. 29 Montrealer Übereinkommen bei der Beförderung von Reisenden ein Anspruch auf Schadensersatz nur unter den Voraussetzungen und mit den Beschränkungen geltend gemacht werden, die in dem Übereinkommen vorgesehen sind?

b) Ist bejahendenfalls für die Entstehung des Ausgleichsanspruchs nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung allein die Dauer der Verspätung am letzten Zielort maßgeblich oder setzt ein Ausgleichsanspruch wegen Verspätung aufgrund der Entscheidung des EuGH vom 19.11.2009 – C-402/07 – zusätzlich voraus, dass der Tatbestand von Art. 6 Abs. 1 erfüllt ist, also schon der Start mit einer Verzögerung erfolgt ist, welche die in Art. 6 Abs. 1 der Verordnung definierten Grenzen übersteigt?

c) Sind Art. 5 und 7 der Verordnung dahingehend auszulegen, dass den Flugästen ein Anspruch auf Ausgleichszahlung auch dann zusteht, wenn der Flug zwar weder annulliert wurde und auch keine erhebliche Verspätung im Sinne der Entscheidung des EuGH vom 19.11.2009 – C-402/07 – vorlag, der Flug vielmehr mit einer unterhalb der in Art. 6 Abs. 1 der Verordnung definierten Grenze den Abflugort verlassen hat, jedoch nicht an dem vorgesehenen Zielflughafen, sondern auf einem anderen Flughafen in der Region gelandet ist, weil eine Landung auf dem ursprünglich vorgesehenen Zielflughafen aufgrund des dort herrschenden Nachtlandeverbots nicht möglich war?

Hilfsweise zu Ziff. 1 lit. a):

2. Das Verfahren wird ausgesetzt, bis der Europäische Gerichtshof gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV über das Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts Köln – 142 C 535/08 – vom 04.10.2010, das Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice für England & Wales – C-629/10 – und über das Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Köln zu Aktenzeichen – 10 S 224/10 – vom 26.07.2011 entschieden hat.

Hilfsweise zu Ziff. 1 lit. b):

3. Das Verfahren wird ausgesetzt, bis der Europäische Gerichtshof gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV über das Vorabentscheidungsersuchen des BGH – Xa ZR 80/10 – vom 09.12.2010 (EuGH – C.11/11 -) entschieden hat.

Äußerst hilfsweise:

4. Die Revision gegen die Entscheidung des Landgerichts Stuttgart wird zugelassen.

Die Kläger beantragen:

Die Berufung und die Hilfsanträge 1 bis 4 werden zurückgewiesen.

Die Kläger sind weiter der Ansicht, die Voraussetzungen für eine Ausgleichszahlung, die der EuGH in seinem Urteil vom 19.11.2009 (Aktenzeichen C-402/07 und C-432/07). ausgesprochen hat, lägen hier vor. Danach seien Fluggäste verspäteter Flüge den Fluggästen annullierter Flüge im Hinblick auf Ausgleichszahlungen gleichzustellen, wenn sie ihr Endziel nicht früher als 3 Stunden nach der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen.

Der Kläger Ziff. 1 hat seine mit Schriftsatz vom 29.09.2011 (Bl. 194 d.A.) rechtzeitig eingelegte Anschlussberufung, mit der er beantragt hat, die Beklagte zu verurteilen, an ihn weitere 222,79 € an Mietwagenkosten, Kosten für Lebensmittel und Parkgebühren nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 22.10.2010 zu zahlen, im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 29.02.2012 (Protokoll Bl. 254, 255 d.A.) zurückgenommen.

4. Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf die bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung am 29.02.2012 eingereichten Schriftsätze sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung (Bl. 254 d.A.) verwiesen, § 313 Abs. 2 Satz 2 ZPO.

Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg.

1. Die Kläger haben einen Ausgleichsanspruch gegen die Beklagte in Höhe von jeweils 250 € aufgrund der entsprechenden Anwendung des Art. 7 Abs. 1 a) nach der Rechtsprechung des EuGH vom 19.11.2009 (Aktenzeichen C-402/07, C-432/07, EuGH NJW 2010, 43).

Es kann hier offen bleiben, ob die Ansicht des Amtsgerichts zutrifft, dass der vorliegende Fall aufgrund Täuschung der Kläger dem Fall der Annullierung gleichzustellen ist. Es sind jedenfalls die Voraussetzungen gegeben, unter denen nach der Rechtsprechung des EuGH vom 19.11.2009 (EuGH NJW 2010, 43) Fluggästen verspäteter Flüge ein Ausgleichsanspruch wie im Fall eines annullierten Fluges zusteht.

a) Flug Nr. 4 U 2513 hat Madrid am 06.09.2010 anstatt um 20.35 Uhr um 22.47 Uhr – und damit 2 Stunden und 12 Minuten später als geplant – verlassen und ist statt um 23.05 Uhr in Stuttgart um 1.17 Uhr in Köln/Bonn gelandet. Unter Inanspruchnahme eines Mietwagens haben die Kläger ihr Endziel Stuttgart erst gegen 6.00 Uhr morgens und damit fast 7 Stunden später erreicht. Hätten sie den von der Beklagten angebotenen Bustransfer in Anspruch genommen, hätten sie ihr Endziel Stuttgart erst um 6.30 Uhr und damit fast 7 1/2 Stunden später erreicht.

b) Damit liegt eine Abflugverspätung im Sinne des Art. 6 Abs. 1 a) VO (EG) Nr. 261/2004 vor: Der Flug von Madrid nach Stuttgart war ein Flug über eine Entfernung von 1.360 km, dessen planmäßige Abflugzeit sich um 2 Stunden und 17 Minuten verzögerte.

c) Zwar stehen den Klägern die geforderten Ausgleichszahlungen in Höhe von je 250,00 € nach dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 1 c) i.V.m. Art. 7 Abs. 1 a) VO (EG) Nr. 261/2004 nicht zu, da der Flug nicht annulliert wurde.

Allerdings hat der EuGH in seiner Entscheidung vom 19.11.2009 (EuGH NJW 2010, 43) Art. 5, 6 und 7 der VO (EG) Nr. 261/2004 dahingehend ausgelegt, dass die Fluggaste verspäteter Flüge im Hinblick auf die Anwendung des Ausgleichsanspruchs den Flugästen annullierter Flüge gleichgestellt werden und somit den in Art. 7 VO (EG) Nr. 261/2004 vorgesehenen Ausgleichsanspruch geltend machen können, wenn sie wegen eines verspäteten Fluges einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden, d.h. wenn sie ihr Endziel nicht früher als drei Stunden nach der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen.

Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.

d) An die Entscheidung des EuGH vom 19.11.2009 (EuGH NJW 2010, 43) ist die Kammer zwar rechtlich nicht gebunden, denn Vorabentscheidungen des EuGH entfalten außerhalb des Ausgangsrechtsstreits keine unmittelbare Bindungswirkung (Schwarze, EU-Kommentar, 2. Auflage, Art. 234 EGV, Rn. 66). Allerdings haben sie aufgrund ihrer Leitfunktion für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts über den Einzelfall hinaus eine tatsächlich rechtsbildende Wirkung, die einer „erga omnes“-Wirkung zumindest nahe kommt (vgl. Schwarze, EU-Kommentar, 2. Auflage, Art. 234 EGV, Rn. 66 m.w.N.).

Die Kammer sieht keinen Anlass, von der Rechtsprechung des EuGH abzuweichen, wonach ein Ausgleichsanspruch auch Fluggästen verspäteter Flüge zustehen kann. Auch der BGH legt der Entscheidung vom 09.12.2010 (BGH NJW 2011, 880) zur VO (EG) Nr. 261/2004 die Vorabentscheidung des EuGH vom 19.11.2009 zugrunde.

Eine erneute Vorlage an den EuGH kommt nach Ansicht der Kammer nicht in Betracht, da zwar die Auslegung der VO (EG) Nr. 261/2004 entscheidend für den Ausgang des Rechtsstreits ist, aber die gestellte Frage bereits in einem gleich gelagerten Fall Gegenstand einer Vorabentscheidung war (vgl. hierzu EuGH vom 04.11.1997, Slg. 1997 16013, Rn. 29 – Parfums Christian Dior).

2. Es liegt hier auch kein „außergewöhnlicher Umstand“ vor, der trotz großer Verspätung nicht zu einem. Ausgleichsanspruch führen würde (vgl. EuGH NJW 2010, 43).

Die Beklagte begründet die Verspätung mit plötzlich auftretenden technischen Problemen, die dazu geführt hätten, dass das Fluggerät habe ausgetauscht werden müssen.

Allerdings fällt nach der Rechtsprechung des EuGH „ein bei einem Flugzeug aufgetretenes technisches Problem (…) nicht unter den Begriff ,außergewöhnliche Umstände‘ im Sinne dieser Bestimmung (…), es sei denn, das Problem geht auf Vorkommnisse zurück, die aufgrund ihrer Natur oder Ursache nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens sind und von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen sind“ (EuGH NJW 2010, 43). Wie das Amtsgericht zutreffend anmerkt, fehlt es hier an geeignetem Vortrag der Beklagten zu Art und Umständen des technischen Defekts, um beurteilen zu können, ob hier ausnahmsweise das technische Problem als außergewöhnlicher Umstand angesehen werden könnte.

Die Beklagte ist weiter der Ansicht, dass das in Stuttgart herrschende Nachtflugverbot ein „außergewöhnlicher Umstand“ im Sinne des Art. 5 Abs. 3 VO (EG) Nr. 261/2004 sei. Es ist bereits zweifelhaft, ob ein Umstand wie das Nachtflugverbot, das der Beklagten von vornherein bekannt gewesen sein muss, ein „außergewöhnlicher Umstand“ sein kann. Doch selbst wenn man dies bejahen würde, so hat die Beklagte schon nicht vorgetragen, welche Maßnahmen sie ergriffen hat, um einen so späten Abflug zu vermeiden, damit das Nachtflugverbot relevant werden kann (vgl. Art. 5 Abs. 3 VO EG Nr. 261/2004).

3. Es besteht keine Veranlassung, das vorliegende Verfahren gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen oder entsprechend § 148 ZPO auszusetzen:

a) Die Beklagte fordert die Vorlage des Verfahrens zur Vorabentscheidung über die Frage, ob die Entscheidung des EuGH vom 19.11.2009 (EuGH NJW 2010, 43) mit dem Recht der Europäischen Gemeinschaft vereinbar ist (Hilfsantrag 1 a).

Art. 267 AEUV ermöglicht eine Vorlage zur „Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft“. Die Kammer hat keinen Zweifel an der Gültigkeit der Entscheidung des EuGH vom 19.11.2009 (vgl. hierzu auch AG Köln vom 24.02.2012, Aktenzeichen 145 C 263/11). Sie hat auch keinen Zweifel an der Auslegung der Entscheidung des EuGH vom 19.11.2009. Wenn die Kammer Zweifel hätte, wäre sie allenfalls gehalten, die Frage, ob den Klägern aufgrund der festgestellten Abflugs- und Ankunftsverspätung Ausgleichszahlungen entsprechend Art. 7 Abs. 1 a) VO (EG) Nr. 261/2004 zustehen, dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.

Im übrigen sind zur Vorlage an den EuGH nur letztinstanzliche Gerichte verpflichtet, wenn sich eine entscheidungserhebliche Frage der Auslegung von Gemeinschaftsrecht stellt, Art. 267 Abs. 3 AEUV. Andere als letztinstanzliche Gerichte sind zur Vorlage berechtigt, Art. 267 Abs. 2 AEUV (vgl. hierzu Zöller/Greger, ZPO, 29. Auflage, § 148, Rn. 3b). Nachdem die Kammer die Revision gegen dieses Urteil zulässt, ist sie nicht letztinstanzliches Gericht.

b) Die Beklagte möchte im Wege der Vorabentscheidung geklärt haben, ob die Zuerkennung einer Ausgleichszahlung im Falle einer Flugverspätung unvereinbar mit Art. 29 MU ist (Hilfsantrag 1 a).

Das Montrealer Übereinkommen begrenzt die Verpflichtung von Schadensersatzzahlungen, schließt jedoch nicht weitergehende Leistungen, die nicht auf Schadensersatz gerichtet sind, aus. So sieht es auch der EuGH in seinem Urteil vom 01.10.2006 (Aktenzeichen C-344/04). Das Gericht betont, den Bestimmungen der Art. 19, 22 und 29 MU sei klar zu entnehmen, dass sie nur regeln, unter welchen Voraussetzungen Fluggäste im Anschluss an die Verspätung eines Fluges Ansprüche auf Schadensersatz als individuelle Wiedergutmachung gegen die Beförderungsunternehmen geltend machen können, die für einen aus einer Verspätung entstandenen Schaden die Verantwortung tragen. Weder aus den zitierten noch aus einer anderen Bestimmung des Montrealer Übereinkommens ergebe sich jedoch, dass dessen Verfasser solche Beförderungsunternehmen vor allen andersartigen Maßnahmen hätten bewahren wollen.

Die Beklagte selbst folgt in ihrem Schriftsatz vom 07.04.2011 (Bl. 98, 105 d.A.) der Ansicht, dass es sich bei der Verpflichtung zur Zahlung einer Ausgleichsleistung nach der VO (EG) Nr. 261/2004 gerade nicht um Schadensersatz handelt, weil es ausdrücklich nicht darauf ankomme, ob dem Fluggast tatsächlich ein Schaden entstanden sei, und sei es auch nur ein immaterieller.

Auch der BGH hat in seinem Urteil vom 18.02.2010 (BGH NJW 2010, 2281) ausgeführt, er gehe davon aus, dass das vom EuGH vertretene Auslegungsergebnis in der Entscheidung vom 19.11.2009 (EuGH NJW 2010, 43 ff.) mit dem Montrealer Übereinkommen vereinbar sei.

c) Weiter verlangt die Beklagte die Klärung der Frage durch den EuGH, ob für die Entstehung des Ausgleichsanspruchs allein die Dauer der Verspätung am letzten Zielort maßgeblich sei oder zusätzlich die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 VO erfüllt sein müssen (Hilfsantrag 1 b).

Da das Flugzeug von Madrid aus mit einer Verspätung von 2 Stunden und 12 Minuten startete, ist der Tatbestand des Art. 6 Abs. 1 a) VO erfüllt. Es liegt eine Abflugverspätung vor. Die gestellte Frage ist nicht entscheidungserheblich.

d) Die Beklagte begehrt die Vorlage der Frage an den EuGH, ob den Fluggästen ein Anspruch auf Ausgleichszahlungen auch dann zusteht, wenn der Flug zwar weder annulliert wurde und auch keine erhebliche Verspätung im Sinne der Entscheidung des EuGH vom 19.11.2009 vorliegt, der Flug also mit einer Verspätung „unterhalb der in Art. 6 Abs. 1 der Verordnung definierten Grenze den Abflugort verlassen hat“, jedoch nicht am Zielflughafen, sondern auf einem anderen Flughafen gelandet ist (Hilfsantrag 1 c).

Auch diese Frage ist für den Rechtsstreit unerheblich, weil eine Abflugverspätung vorliegt, also die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 a) VO erfüllt sind.

e) Soweit die Beklagte die Aussetzung im Hinblick auf das Vorlageverfahren des AG Köln (Beschluss vom 03.11.2010, Aktenzeichen 142 C 535/08), den Beschluss des Landgerichts Köln vom 26.07.2011 (Aktenzeichen 10 S 224/10, C-413/11 beim EuGH) oder das Vorlageverfahren des High Court of Justice (England and Wales) vom 24.12.2010 (Aktenzeichen C629/10) begehrt, gilt das zum Hilfsantrag 1 a) (oben Nr. 3 a und b) Gesagte.

Das Landgericht Köln hat in seiner Entscheidung vom 26.07.2011, Aktenzeichen 10 S 224/10, genau die in Hilfsantrag 1 a) formulierte Frage der Beklagten dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt; das Amtsgericht Köln war in seiner Entscheidung vom 03.11.2010, Aktenzeichen 142 C 535/08, der Ansicht, der EuGH müsse im Wege der Vorabentscheidung das Verhältnis der VO (EG) Nr. 261/2004 zum Montrealer Übereinkommen klären und der High Court of Justice (England and Wales) müchte die Voraussetzungen, unter denen in Nur-Verspätungsfallen überhaupt Ausgleichsleistungen entgegen dem Wortlaut der VO (EG) Nr. 261/2004 in Betracht kommen, noch einmal geklärt haben (EuGH vom 24.12.2010, Rs. C-629/10).

Eine Pflicht zur Aussetzung dieses Verfahrens entsprechend § 148 ZPO besteht nicht, da die Kammer nicht von der Unwirksamkeit des Gemeinschaftsrechtsaktes ausgeht (vgl. EuGH NJW 1988, 1451) und auch nicht von der Rechtsprechung des EuGH abweichen will (vgl. Z011er/Greger, ZPO, 29. Auflage, § 148, Rn. 7).

Der EuGH hat in seiner Entscheidung vom 19.11.2009 Grundsätze aufgestellt, unter die sich der hier zu entscheidende Fall problemlos fassen lässt. Es ist auch nicht erkennbar, dass die hier entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschüpfend beantwortet ist, wie die Beklagte mit Verweis auf die Entscheidung des BVerfG vom 25.02.2010 (Aktenzeichen 1 BvR 230/09) meint.

f) Die Beklagte begehrt hilfsweise die Aussetzung des Verfahrens, bis der EuGH über das Vorabentscheidungsersuchen des BGH vom 09.12.2010 (Aktenzeichen C-11/11) entschieden hat.

Diesem Antrag ist schon deswegen nicht zu folgen, weil die dort gestellte Fragen im vorliegenden Verfahren nicht entscheidungserheblich ist.

Frage 1 des BGH betrifft die Frage der Abflugverzögerung unterhalb der in Art. 6 Abs. 1 VO (EG) Nr. 261/2004 festgehaltenen Grenzen; Frage 2 betrifft die Verspätung bei Flügen, die aus mehreren Teilstrecken zusammengesetzt sind. Beide Fragen sind hier nicht relevant.

4. Die Revision war gem. § 543 Abs. 2 Nr. 2, 2. Alt. ZPO zuzulassen. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert eine Entscheidung des Revisionsgerichts.

a) Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen bei einer großen Verspätung Fluggästen aufgrund der VO (EG) Nr. 261/2004 ein Anspruch auf Ausgleichszahlungen zusteht, ist in der erst- und zweitinstanzlichen Rechtsprechung auch nach der Entscheidung des EuGH vom 19.11.2009 (EuGH NJW 2010, 43) umstritten. Selbst am Landgericht Stuttgart besteht eine unterschiedliche Kammerrechtsprechung in diesen Fällen (vgl. Landgericht Stuttgart, Aktenzeichen 4 S 230/11, Beschluss vom 19.12.2011 über die Aussetzung des Rechtsstreits im Hinblick auf das Vorlageverfahren des High Court of Justice [England and Wales], EuGH vom 24.12.2010, Rs. C-629/10, ebenso Landgericht Stuttgart, Aktenzeichen 5S58/11, Beschluss vom 10.01:2012).

b) Der BGH hat mit Entscheidung vom 18.02.2010 (BGH NJW 2010, 2281) in einem Nur-Verspätungsfall Ausgleichszahlungen zuerkannt, allerdings handelt es sich gerade um das Verfahren, zu dem die Vorabentscheidung des EuGH vom 19.11.2009 ergangen ist, weshalb der BGH an die Entscheidung des EuGH unmittelbar gebunden war.

c) Der BGH hat seiner Entscheidung vom 09.12.2010 (BGH NJW 2011, 880) die Rechtsprechung des EuGH zu Ausgleichszahlungen bei Nur-Verspätungsfällen nach der VO (EG) Nr. 261/2004 implizit zugrunde gelegt (vgl. aber auch BGH NJW 2010, 1522). Der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung würde es dienen, würde der BGH zu dieser Frage noch einmal ausdrücklich Stellung nehmen.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 97 Abs. 1, 92 Abs. 1 ZPO. Nachdem der Kläger Ziff. 1 die zulässige Anschlussberufung in der mündlichen Verhandlung vom 29.02.2012 auf Hinweis der Kammer zurückgenommen hat, waren ihm die Kosten der Anschlussberufung aufzuerlegen. im Übrigen waren sie der Beklagten aufzulegen, da ihre Berufung erfolglos ist.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergeht gem. §§ 708 Nr. 10, 711, 709 ZPO.

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