Zu den Voraussetzungen der Zurechnung ein beruflich bedingten Körperbelastung für eine Bandscheibenerkrankung

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 07.10.2010 – L 2 U 553/08

Die Konsensempfehlungen (Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule – Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbeurteilung, in: Trauma und Berufskrankheit 3-2005, S. 211 ff.) weisen unter Nr. 1.4 4. Spiegelstrich darauf hin, dass die geforderte ausreichende berufliche Belastung eine plausible zeitliche Korrelation zur Entwicklung der bandscheibenbedingten Erkrankung aufweisen muss und folgern hieraus, dass die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs mit der Länge des Zeitraums zwischen Ende der Exposition und erstmaliger Diagnose der Erkrankung abnimmt (Rn. 24).

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 15. Mai 2008 wird zurückgewiesen.

Kosten haben die Beteiligten einander auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

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Die Beteiligten streiten über die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 2110 der Berufskrankheitenverordnung (Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkungen von Ganzkörperschwingungen im Sitzen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können – BK Nr. 2110).

2

Der 1940 geborene Kläger arbeitete unter anderem von 1958 bis 1962 als Hilfsarbeiter und anschließend bis zu einem Unfall am 7. Juli 1997, bei dem es zu einer Wirbelsäulenstauchung kam, überwiegend als Kraftfahrer bei verschiedenen Arbeitgebern.

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Mit Schreiben vom 30. Januar 1998 bzw. 13. Juli 1998 zeigten die für den Kläger zuständige Krankenkasse bzw. sein Arbeitgeber der Beklagten den Verdacht auf das Vorliegen einer Berufskrankheit an.

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Der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten teilte mit Schreiben vom 12. Februar 1999 unter anderem mit, die arbeitstechnischen Voraussetzungen zur Annahme einer gefährdenden Belastung des Klägers im Sinne der BK Nr. 2108 seien nicht gegeben. Hinsichtlich der BK Nr. 2110 seien die arbeitstechnischen Voraussetzungen während der Tätigkeit von Oktober 1962 bis April 1989 gegeben. Daraufhin veranlasste die Beklagte die Begutachtung des Klägers durch den Chefarzt der Klinik für Neurologie der Landesklinik B Dr. M. Dieser führte unter dem 28. Mai 1999 unter anderem aus, bei dem Kläger liege eine Osteochondrose der Lendenwirbelsäule mit besonderer Betonung des Übergangssegmentes L5/S1 vor. In diesem Segment sei es zusätzlich zu einem Bandscheibenprolaps gekommen, der zu einer Wurzelkompression linksseitig führe. Die nachgewiesene berufsbedingte Ganzkörperschwingung, der der Kläger langjährig in sitzender Position ausgesetzt gewesen sei, sei ursächlich als schädigendes Ereignis für die aufgetretenen Lendenwirbelsäulenschäden anzusehen. Die MdE betrage 40 v. H. Er empfehle der Beklagten die Anerkennung des Beschwerdebildes des Klägers nach BK 70 DDR-BKVO. Der mit der Erstellung einer gutachterlichen Stellungnahme beauftragte Facharzt für Chirurgie und Arbeitsmedizin Dr. O führte unter dem 29. Juni 1999 aus, dass unter Berücksichtigung des Krankheitsverlaufes, mit Beginn der Beschwerden circa acht Jahre nach Beendigung der relevanten Expositionen, und der Befundkonstellation, mit Hinweisen auf eine Anlagestörung in Form einer Dysostose, die auch im MRT vom 4. Mai 1999 beschrieben werde, sowie eines engen Spinalkanals eher von einer vorwiegend endogenen Verursachung des Krankheitsbildes auszugehen sei. Nachdem auch der Facharzt für Arbeitsmedizin und Gewerbearzt Dr. J in seiner Stellungnahme vom 20. Juli 1999 dem zugestimmt hatte, lehnte die Beklagte den Antrag auf Anerkennung einer BK Nr. 70 BKVO-DDR mit Bescheid vom 27. September 1999 ab.

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Im anschließenden Widerspruchsverfahren wies der Kläger unter anderem darauf hin, dass er auch über den März 1989 bis zu seinem Unfall am 07. Juli 1997 als Kraftfahrer tätig gewesen sei.

6

Mit Widerspruchsbescheid vom 14. März 2000 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Im anschließenden Klageverfahren (Az. S 8 U 24/00) veranlasste die Beklagte eine erneute Stellungnahme ihres Technischen Aufsichtsdienstes, der unter dem 7. August 2000 unter anderem ausführte, die Nutzfahrzeuge, die der Kläger ab April 1989 geführt habe, seien innerhalb der Lenkzeit nicht geeignet gewesen, ausreichende Tagesdosiswerte zu verursachen. Eine Gesamtbelastungdosis der Lendenwirbelsäule infolge von Ganzkörperschwingungen, die im Sitzen einwirken würden, habe nicht errechnet werden können. Es werde festgestellt, dass die Nutzfahrzeuge nicht geeignet gewesen seien, eine gefährdende Belastung im Sinne der BK Nr. 2110 zu begründen.

7

Der in diesem Verfahren als Sachverständiger bestellte Facharzt für Arbeitsmedizin Dr. L führte in seinem Gutachten vom 31. Oktober 2001 unter anderem aus, bei dem Kläger bestehe ein Zustand nach Kompressionsfraktur des 1. Lendenwirbelkörpers. Dieser sei Folge des Unfalls vom 7. Juli 1997. Es lägen Röntgenaufnahmen aus den Jahren 1996 bis 2000 vor. Im Jahr 1996, also vor dem Unfall, sei eine Keilwirbelbildung des 1. Lendenwirbelkörpers nicht nachweisbar. Die Röntgenaufnahmen vom 7. Juli und 14. Juli 1997 seien sicher in direktem zeitlichem Zusammenhang mit dem Unfall angefertigt worden. In beiden Aufnahmen sei eindeutig bereits eine Reduktion der Vorderkantenhöhe nachweisbar. Diese Abnahme sei innerhalb der kurzen Zeit nach dem Unfall um einige Millimeter zunehmend. Eine eindeutige und sichtbare Keilwirbelbildung sei in den nachfolgenden Aufnahmen nachweisbar. Diese, in den Röntgenaufnahmen in unmittelbarem Zusammenhang zum Unfall nachweisbare Keilwirbelbildung, sei mit Wahrscheinlichkeit Ergebnis des Unfalls. Die gesamte Lendenwirbelsäule des Klägers und auch die oberen Anteile der Brustwirbelsäule würden degenerative Veränderungen aufweisen. Bandscheibenvorfälle in der unteren Lendenwirbelsäule und Einengungen der Neuroforamina würden beschrieben. Es sei die Frage, ob die Beschwerden des Klägers eher durch die Keilwirbelbildung oder durch die allgemeinen degenerativen Veränderungen hervorgerufen würden. Bei genauer Betrachtung des klinischen Bildes und des Beschwerdebildes müsse festgestellt werden, dass der Ursprung der Beschwerden eher in den oberen Abschnitten der Lendenwirbelsäule lokalisiert werde. Die Beschwerden würden in die unteren Bereiche der Brustwirbelsäule ringförmig um den Thorax und in den unteren Rücken ausstrahlen. Auch klinisch sei der Hauptschwerpunkt der Beschwerden in die oberen Anteile der Lendenwirbelsäule zu projizieren. Auch anamnestisch seien Rückenbeschwerden erst ab dem Unfalltag ein relevantes Problem. Hätte man vor dem Unfall 1997 die Frage gestellt, ob die Bedingungen für eine BK Nr. 2110 erfüllt seien, so hätte man dies verneinen müssen. Der Kläger sei zwar in erheblichem Maße bis 1989 und wahrscheinlich auch bis 1997 Ganzkörperschwingungen ausgesetzt gewesen. Die starken degenerativen Veränderungen der Lendenwirbelsäule könnten als belastungsadäquates Schadensbild gewertet werden. Die relativ sporadisch auftretenden Rückenbeschwerden seien damals aber in keiner Weise ein chronisches, funktionell relevantes und zu erheblichen Beeinträchtigungen führendes Krankheitsbild gewesen. Direkt ab dem Unfallereignis habe jedoch eine erhebliche Beschwerdesymptomatik bestanden. Zu beachten sei auch, dass die massive Stauchung im Zusammenhang mit dem Unfall auf eine bereits vorgeschädigte Wirbelsäule getroffen sei und den Prozess möglicherweise verstärkt oder klinisch relevant gemacht habe. Eine exaktere Differenzierung, in welchem Maße das jetzige Beschwerdebild allein auf die Stauchung oder auf die degenerativen Veränderungen zurückzuführen sei, sei nicht möglich. Eine genaue Abgrenzung des Schadensbildes von einer BK Nr. 2110 sei ebenso wenig möglich. Eine besonders hohe und langjährige Belastung durch Ganzkörperschwingungen habe vorgelegen. Die massiven degenerativen Veränderungen der Lendenwirbelsäule und der unteren Brustwirbelsäule seien als belastungskonformes Schadensbild zu werten. Das Beschwerdebild selbst sei aber eher unmittelbar Folge des Unfallereignisses. Die MdE durch das Wirbelsäulenleiden infolge des Unfalls schätze er auf 30 v.H. ein.

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In der mündlichen Verhandlung vom 7. Dezember 2001 hat der Kläger die Klage (Az. S 8 U 24/00), gerichtet auf die Anerkennung einer BK nach Sonderentscheid nach dem Recht der ehemaligen DDR zurückgenommen und gleichzeitig einen Antrag bei der Beklagten gestellt, ihm aufgrund des Arbeitsunfalls vom 07. Juli 1997, hilfsweise wegen einer BK Nr. 2110 eine Unfallrente nach einer MdE von 30 v.H. zu gewähren.

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Nach Abschluss des Klageverfahrens hinsichtlich der Anerkennung von bleibenden Folgen des Arbeitsunfalls vom 07. Juli 1997 beantragte der Kläger mit Schreiben vom 3. Dezember 2004 die Anerkennung seiner Wirbelsäulenbeschwerden als BK Nr. 2110 und führte unter anderem aus, er gehe zunächst davon aus, dass das bei ihm vorliegende Krankheitsbild auf die festgestellten beruflichen Einwirkungen bis 1989 zurückzuführen sei. Außerdem bestreite er, dass er lediglich bis 1989 Einwirkungen von Ganzkörperschwingungen ausgesetzt gewesen sei. Er habe auch darüber hinaus bis zum 7. Juli 1997 als Berufskraftfahrer gearbeitet und sei hier Ganzkörperschwingungen ausgesetzt gewesen. In der daraufhin von der Beklagten erneut veranlassten Stellungnahme ihres Technischen Aufsichtsdienstes vom 3. Februar 2005 führte dieser unter anderem aus, die Tätigkeit des Klägers sei geeignet gewesen, eine Gefährdung im Sinne der BK Nr. 2110 zu begründen. Bis zum 31. Dezember 1992 habe noch eine gefährdende Schwingungsbelastung in der überwiegenden Anzahl der Arbeitstage und bis zum 31. Dezember 1994 in der nicht überwiegenden Anzahl der Arbeitstage bestanden.

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Der von der Beklagten mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragte Chirurg Dr. E führte in seinem Gutachten vom 27. April 2005 unter anderem aus, unter Berücksichtigung der Röntgenaufnahmen von 1996/1997 mit nahezu unauffälligen Bandscheibenräumen L3/L4, L4/L5, L5/S1 könne eine Berufskrankheit durch Vibrationsbelastungen der Bandscheiben nicht wahrscheinlich gemacht werden. Das Ausmaß der Veränderungen im Bereich dieser Segmente überschreite zusätzlich nicht das in diesem Alter zu erwartende. Von einem seit langen Jahren bestehenden Beschwerdebild könne nicht ausgegangen werden. Ein durchgehendes Beschwerdebild bestehe letztendlich erst seit 1997 nach Feststellung einer Fraktur des 1. Lendenwirbelkörpers. Hier würden sich auch weiterhin die Hauptbeschwerden projizieren, die Beschwerden in den Lendenwirbelsäulensegmenten L4/L5, L5/S1 seien als eher gering anzusehen. Mit Bescheid vom 23. Mai 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. August 2005 lehnte die Beklagte nach Auswertung dieses Gutachtens die Anerkennung einer BK Nr. 2110 ab.

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Der im anschließenden Klageverfahren als Sachverständiger bestellte Chirurg und Sozialmediziner Dr. B hat in seinem Gutachten vom 23. Dezember 2005 sowie einer ergänzenden Stellungnahme vom 26. September 2006 unter anderem ausgeführt, der Kläger leide nicht nur unter Verschleißerscheinungen im Brust- und Lendenwirbelsäulenbereich, sondern auch im Halswirbelsäulenbereich. Bei der Untersuchung anlässlich der Begutachtung seien funktionale Einschränkungen in sämtlichen Wirbelsäulenabschnitten nachweisbar gewesen. Es lägen also generalisierte Wirbelsäulenveränderungen vor und nicht eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule allein, die durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkungen von Ganzkörperschwingungen im Sitzen zu Stande gekommen sei. Auch habe der Kläger seine Tätigkeit nicht aufgegeben, weil solche Einwirkungen zu einem schwerwiegenden Körperschaden geführt hätten. Es sei vielmehr nachweisbar, dass der Kläger auch in Wirbelsäulenabschnitten, die nicht den Lendenwirbelsäulenbereich betreffen würden, immer wieder auftretende Beschwerden gehabt habe. Darüber hinaus werde auch auf eine Fehlhaltung der Wirbelsäule und auf eine Spinalkanalstenose hingewiesen. Diese Veränderungen seien schicksalhaft aufgetreten. Die anlässlich der Begutachtung durchgeführte radiologische Untersuchung habe zweifelsfrei ergeben, dass die Veränderungen im Halswirbelsäulenabschnitt und im Brustwirbelsäulenabschnitt noch stärker entwickelt seien als in der Lendenwirbelsäule selbst. Insofern seien aus medizinischen Gründen keine gesundheitlichen Voraussetzungen vorhanden, eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule anzunehmen, die berufsbedingt sei. Vielmehr liege ein generalisierter Verschleißprozess der Wirbelsäule mit besonderer Betonung der Halswirbelsäule vor. Funktionale Einschränkungen seien in sämtlichen Wirbelsäulenabschnitten nachweisbar. Auch die radiologischen Untersuchungsbefunde, die eine Spinalkanalstenose schon vor Jahren gesichert hätten, würden darauf hinweisen, dass bei dem Kläger erhebliche anlagebedingte Vorschäden vorliegen würden, die die gesundheitlichen Beeinträchtigungen bedingen würden. Die Gesundheitsstörungen, die festgestellt worden seien, würden nicht die medizinischen Voraussetzungen nach der Berufskrankheitenverordnung BK Nr. 2110 erfüllen. (Hinsichtlich der Einzelheiten dieses Gutachtens sowie der ergänzenden Stellungnahme wird auf Blatt 41 bis 67 sowie 76 bis 77 der Gerichtsakte verwiesen).

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Der gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ebenfalls als Sachverständiger bestellte Facharzt für Arbeitsmedizin Dr. L hat in seinem Gutachten vom 16. Oktober 2007 unter anderem ausgeführt, im Vordergrund des von dem Kläger aktuell geklagten Beschwerdebildes seien die seit 1997 bestehenden chronischen linksseitig pseudoradikulär ausstrahlenden Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule zu nennen. Sowohl die vorliegenden konventionellen Röntgenaufnahmen als auch die Befunde der MRT- und CT-Untersuchung der Lendenwirbelsäule würden seit 1997 bestätigen, dass sich in der gesamten Lendenwirbelsäule, aber auch der unteren Brustwirbelsäule des Klägers deutliche degenerative Veränderungen finden lassen würden. Zusätzlich zu den Zeichen der Osteochondrosis intervertebralis sowie der Spondylosis vertebralis seien im MRT 2001 auch ein Bandscheibenvorfall im Segment L5/S1 mit Einengung des Neuroforamens und eine Bandscheibenprotrusion L4/L5 darstellbar. Weiterhin sei eine keilförmige Wirbelkörperdeformierung des 1. Lendenwirbelkörpers als Zustand nach Kompressionsfraktur beschrieben. In neueren Röntgenaufnahmen der Halswirbelsäule (2005) würden auch in der unteren Halswirbelsäule geringe bis mäßige Verschleißumformungen mit Osteochondrose, Spondylose und Spondylarthrose nachgewiesen. Es könne damit die Diagnose eines chronischen linksseitigen pseudoradikulär ausgeprägten lumbalen Schmerzsyndroms bei deutlichen degenerativen Veränderungen der gesamten Lendenwirbelsäule und der unteren Anteile der Brustwirbelsäule und Keilwirbelbildung des 1. Lendenwirbelkörpers gestellt werden. Dieses Krankheitsbild entspreche dem Krankheitsbild Typ 1 der Konsensempfehlungen. Zu fordern sei zusätzlich, dass Grundlage für das klinische Bild altersuntypische degenerative (bandscheibenbedingte) Veränderungen der Lendenwirbelsäule seien. Die Konsenskriterien würden dafür klare qualitative und quantitative Richtlinien für die Bewertung der entsprechenden degenerativen Veränderungen (Chondrosegrad, Sklerose, Spondylarthrose, Spondylose, dorsale Spondylophyten, Bandscheibenvorfall) nennen. Diese Kriterien habe er auf die vorliegenden Röntgenaufnahmen und MRT- bzw. CT-Befunde und Aufnahmen im vorliegenden Fall angewandt. Unter Verwendung der vorliegenden Röntgenaufnahmen der Lendenwirbelsäule vom 22. Dezember 2005 würden sich stark ausgeprägte (altersuntypische) degenerative Veränderungen insbesondere in der unteren Lendenwirbelsäule mit Chondrose, Sklerose, Spondylosen, Spondylarthrose und Bandscheibenvorfall finden. Leichte ausgeprägte Veränderungen, die (ausgenommen die Sklerosierung) noch alterstypisch seien, fänden sich aber auch in der oberen Lendenwirbelsäule. Hinzuweisen sei auf die Keilwirbelbildung des 1. Lendenwirbelkörpers, die wahrscheinlich als Folge des Stauchungstraumas 1997 entstanden sei. Im Vergleich zu den Röntgenaufnahmen der Lendenwirbelsäule aus dem Jahr 1996 (26. Februar 1996) sei festzustellen, dass 1996 die Chondrose der unteren Lendenwirbelsäule geringer ausgeprägt gewesen sei. Spondylotische Kantenanbauten seien jedoch schon vorhanden gewesen. Degenerative Veränderungen fänden sich auch im Bereich der Hals- und Brustwirbelsäule. Die Veränderungen in der Halswirbelsäule seien aber nicht stärker ausgeprägt. Es sei außerdem kein entsprechendes klinisches Bild vorhanden, der Kläger klage weder über Nacken- noch Schulter-Nackenschmerzen noch habe die klinische Untersuchung pathologisch relevante Auffälligkeiten ergeben. Als konkurrierende Ursache sei die Fraktur des 1. Lendenwirbelkörpers zu diskutieren. In den Konsensempfehlungen werde angegeben, dass insbesondere in Fehlstellung verheilte Lendenwirbelkörperfrakturen als konkurrierende Ursachen für die BK Nr. 2108 und BK Nr. 2110 zu betrachten seien. Das Stauchungstrauma 1997 habe damals nicht unmittelbar zu einer Zerstörung des 1. Lendenwirbelkörpers geführt, sondern sei wohl eher eine Stauchung der Vorderkante gewesen, die im Laufe der Zeit zu einer Keilwirbelbildung geführt habe. Durch die röntgenologisch nachweisbare Keilwirbelbildung sei jedoch weder eine ausgeprägte Kyphosierung der Wirbelsäule noch eine Instabilität bedingt worden. Versteifungen in dem Bewegungssegment mit biomechanischer Relevanz für die untere Lendenwirbelsäule lägen nicht vor. Anzumerken sei jedoch, dass die vom Kläger geäußerten Beschwerden (auch) in der oberen Lendenwirbelsäule lokalisiert würden. In der klinischen Untersuchung seien besonders die Dornfortsätze der oberen Lendenwirbelsäule klopfschmerzhaft gewesen. Andererseits seien die pseudoradikulär in das linke Bein ausstrahlenden Schmerzen und Beschwerden auf die degenerativen Veränderungen der unteren Lendenwirbelsäule zu beziehen. In seinem Gutachten von 2001 habe er bereits darauf hingewiesen, dass es Schwierigkeiten bereite, die mit dem Stauchungstrauma in Zusammenhang stehenden Beschwerden von den Beschwerden abzugrenzen, die durch die ausgeprägten degenerativen Veränderungen der Lendenwirbelsäule hervorgerufen würden. Hilfreich könne in diesem Fall sein, wenn man das Stauchungstrauma nicht als eigenständige Einwirkung betrachte, sondern als eine Form einer Einwirkung mechanischer Schwingungen. Im aktualisierten Merkblatt zur BK Nr. 2110 werde ausdrücklich auf das erhöhte Gesundheitsrisiko bei der Einwirkung stoßhaltiger und besonders intensiver Schwingungen hingewiesen. Der Unfallhergang 1997 sei in diesem Verständnis eine besonders intensive (einmalige) Einwirkung mechanischer Schwingungen (Stoßbelastung) auf die Lendenwirbelsäule. Zu beachten sei auch, dass die massive Stauchung im Zusammenhang mit dem Unfall auf eine bereits vorbelastete Wirbelsäule getroffen sei und dies den Degenerationsprozess möglicherweise verstärkt oder klinisch relevant gemacht habe. Offen bleibe die Tatsache, dass in Röntgenaufnahmen der Lendenwirbelsäule die degenerativen Veränderungen der unteren Lendenwirbelsäule trotz der langjährigen Schwingungsbelastung 1997 nur moderat ausgeprägt gewesen seien. Das Schadensbild einer BK Nr. 2110 liege vor. Eine besonders intensive und langjährige Belastung durch Ganzkörperschwingungen sei bestätigt. Die massiven degenerativen Veränderungen der unteren Lendenwirbelsäule seien als belastungskonformes Schadensbild zu werten. Der Ursachenzusammenhang zwischen der besonderen Einwirkung und dem Schadensbild könne entsprechend den Kriterien der Konsensempfehlungen wahrscheinlich gemacht werden. Das Stauchungstrauma der Lendenwirbelsäule könne sicher unterschiedlich bewertet werden. Entweder sei es direkt als Folge einer besonders intensiven, einmaligen mechanischen Schwingungseinwirkung zu sehen. Dann würden sich die Folgen in das Schadensbild einordnen. Werde es separat eingeordnet, bleibe jedoch bestehen, dass der Kläger unter einer Erkrankung aufgrund altersuntypischer, bandscheibenbedingter degenerativer Veränderungen der unteren Lendenwirbelsäule leide und eine langjährige Exposition gegenüber Ganzkörperschwingungen bestanden habe. Arbeitsbedingte Faktoren würden im Ursachengefüge überwiegen. Die MdE schätze er auf 20 v.H. ein. (Hinsichtlich der Einzelheiten dieses Gutachtens wird auf Blatt 92 bis 120 der Gerichtsakte verwiesen).

13

Die Beklagte ist dem Gutachten des Sachverständigen Dr. L unter Berufung auf ein von ihr übersandtes Gutachten des Chirurgen und Sozialmediziners M vom 5. Februar 2008, der insbesondere darauf hinwies, dass auf den zeitnah zur Aufgabe der belastenden Tätigkeit erstellten Röntgenaufnahmen 1996 und 1997 noch keine Veränderungen nachgewiesen worden seien, die für eine Berufskrankheit sprechen würden, entgegengetreten. (Hinsichtlich der Einzelheiten dieses Gutachtens wird auf Blatt 128 bis 141 der Gerichtsakte verwiesen).

14

Mit Urteil vom 15. Mai 2008 hat das Sozialgericht Neuruppin die Klage abgewiesen und zur Begründung unter anderem ausgeführt, unter Beachtung der im Unfallversicherungsrecht geltenden Beweismaßstäbe lasse sich nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nachweisen, dass die bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule des Klägers auf seine berufliche Tätigkeit zurückzuführen seien. Dies ergebe sich nachvollziehbar aus den Ausführungen des Dr. E im Verwaltungsverfahren und werde gestützt durch die Feststellung des Sachverständigen Dr. B im Klageverfahren. Dem Gutachten des Dr. L habe sich die Kammer nicht anschließen können.

15

Gegen das ihm am 17. Juli 2008 zugestellte Urteil hat der Kläger am 8. August 2008 Berufung beim Landessozialgericht Berlin-Brandenburg eingelegt und sein Begehren weiter verfolgt. Zur Begründung beruft er sich insbesondere auf das seiner Ansicht nach überzeugende Gutachten des Sachverständigen Dr. L.

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Der Kläger beantragt,

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das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 15. Mai 2008 und den Bescheid der Beklagten vom 23. Mai 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. August 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, das Vorliegen einer Berufskrankheit nach Nr. 2110 der Anlage der Berufskrankheitenverordnung anzuerkennen und ihm eine Verletztenrente nach einer MdE von wenigstens 30 v. H. zu gewähren.

18

Die Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

20

Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

21

Der Sachverständige Dr. L hat in einer ergänzenden Stellungnahme vom 18. Juni 2010 unter anderem ausgeführt, vorliegende degenerative Veränderungen würden sich auch nach Wegfall der schädigenden Einwirkungen weiter entwickeln. Das Ende der Belastung durch mechanische Ganzkörperschwingungen im Jahr 1997 werde nicht mit der Erwartung verbunden, dass danach die bestehenden degenerativen Veränderungen quasi zum Stillstand kommen würden. Andererseits sei bekannt, dass durch ein Stauchungstrauma auch degenerative Veränderungen induziert werden könnten. Das damals gestauchte Wirbelsegment sei nicht versteift, so dass man typischerweise von verstärkten Belastungen der darunter und der darüber liegenden Wirbelsäulensegmente ausgehen könne. Die Entwicklung des Krankheitsbildes in dem direkten Zusammenhang zu dem Stauchungstrauma sei aber stets auffällig gewesen. Im Gutachten selbst habe er bereits betont, dass die Differenzierung zwischen dem Schaden, der durch das Stauchungstrauma und dem Schaden, der durch die langjährige Ganzkörpervibrationsbelastung induziert worden sei, nur schwer zu unterscheiden sei. Er habe bereits in seinem Gutachten die relativ moderate Ausprägung der degenerativen Veränderungen der unteren Lendenwirbelsäule in 1997 betont.

22

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des Vorbringens der Beteiligten im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (Az. ) verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.


Entscheidungsgründe

23

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig aber unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage hinsichtlich der Anerkennung einer BK Nr. 2110 zu Recht abgewiesen, weil der angefochtene Bescheid in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid erhalten hat, rechtmäßig ist und den Kläger nicht beschwert. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 2110.

24

Das Sozialgericht hat ausführlich die Rechtsgrundlagen für die Anerkennung einer BK Nr. 2110 dargelegt, diese auf der Grundlage des schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachtens des Sachverständigen Dr. B sowie des im Verwaltungsverfahren tätigen Gutachters Dr. E verneint und sich ebenfalls ausführlich mit dem wenig überzeugenden Gutachten des Dr. L auseinandergesetzt. Der Senat sieht daher von einer weiteren umfangreichen Darstellung der Entscheidungsgründe gemäß § 153 Abs. 2 SGG ab, da er die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist. Ergänzend ist lediglich folgendes auszuführen: Die Konsensempfehlungen (Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule – Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbeurteilung, in: Trauma und Berufskrankheit 3-2005, S. 211 ff.) weisen unter Nr. 1.4 4. Spiegelstrich darauf hin, dass die geforderte ausreichende berufliche Belastung eine plausible zeitliche Korrelation zur Entwicklung der bandscheibenbedingten Erkrankung aufweisen muss und folgern hieraus, dass die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs mit der Länge des Zeitraums zwischen Ende der Exposition und erstmaliger Diagnose der Erkrankung abnimmt. An einer solchen plausiblen zeitlichen Korrelation fehlt es zur Überzeugung des Senats vorliegend, denn sämtliche im Verfahren tätigen Gutachter und Sachverständigen, auch der gemäß § 109 SGG auf Antrag des Klägers beauftragte Dr. L haben stets ausgeführt, dass sich aus den Röntgenaufnahmen aus den Jahren 1996 und Juli 1997, also aus den Röntgenaufnahmen kurz vor bzw. zum Zeitpunkt der Aufgabe der Berufstätigkeit, gerade kein einer BK Nr. 2110 entsprechendes Schadensbild ableiten lässt. Ein solches konnte Dr. L erst den Röntgenaufnahmen aus dem Jahr 2005, also acht Jahre nach Aufgabe jeglicher Tätigkeit, entnehmen. Aus der Stellungnahme des Technischen Aufsichtsdienstes der Beklagten vom 03. Februar 2005 folgt sogar, dass der Kläger seit dem 01. Januar 1993 nicht mehr in der überwiegenden Anzahl von Arbeitstagen und ab dem 01. Januar 1995 nicht mehr gefährdenden Schwingungsbelastungen ausgesetzt war. Damit lagen zwischen Aufgabe der belastenden Tätigkeit und Feststellung eines belastungskonformen Schadensbildes sogar 11 bzw. 13 Jahre. Hierzu hat der Sachverständige Dr. L in seiner ergänzende Stellungnahme vom 18. Juni 2010 zwar ausgeführt, dass bestehende degenerative Veränderungen auch nach Ende der Belastung durch mechanische Ganzkörperschwingungen nicht zum Stillstand kommen, was sicherlich richtig ist. Hieraus lässt sich jedoch nicht schließen, dass auch die nach Ende der Exposition fortschreitenden degenerativen Veränderungen (noch) berufsbedingt sind. So weist auch Dr. L darauf hin, dass die degenerativen Veränderungen der unteren Lendenwirbelsäule 1997 eine relativ moderate Ausprägung hatten und die Entwicklung des bei dem Kläger vorliegenden Krankheitsbildes in direktem zeitlichen Zusammenhang zu dem Stauchungstrauma stets auffällig gewesen sei. Auch er geht somit davon aus, dass sich das die Voraussetzungen einer BK Nr. 2110 erfüllende Schadensbild erst nach 1997 entwickelt hat. Dann kann aber zur Überzeugung des Senates in Anwendung der Konsensempfehlungen nicht von einer Ursächlichkeit zwischen den bis 1994 bzw. bis längstens 1997 bestehenden schädigenden beruflichen Einwirkungen und dm zeitlich deutlich danach auftretenden Gesundheitsschaden ausgegangen werden.

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Nach alldem ist die Berufung zurückzuweisen.

26

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und trägt dem Ausgang des Verfahrens Rechnung.

27

Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG gegeben ist.

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