Zu den Voraussetzungen der Befreiung von der Gurtanlegepflicht

Oberverwaltungsgericht Lüneburg, Beschluss vom 26.02.2015 – 12 LA 137/14

Zu den Voraussetzungen der Befreiung von der Gurtanlegepflicht

Tenor

Der Antrag des Klägers, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig – 6. Kammer (Einzelrichterin) – vom 26. Juni 2014 zuzulassen, wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf
5.000,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der Kläger begehrt die Genehmigung einer Ausnahme von der Pflicht, einen Sicherheitsgurt im Fahrzeug anzulegen.

Mit Schreiben vom 15. April 2012 beantragte der Kläger, ihn von der Anschnallpflicht als Beifahrer zu befreien, weil er durch einen schweren Schlaganfall eine linksseitige Lähmung davongetragen habe, noch immer die Funktion seines linken Arms aufgehoben und das Anschnallen für ihn als Beifahrer dadurch unmöglich sei. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 29. Juni 2012 ab, weil eine Ausnahme von der Gurtanlegepflicht auf Dauer nur erteilt werden könne, wenn der Betreffende durch das Anlegen des Sicherheitsgurts ernste Gesundheitsschäden erleiden würde, denen auf anderer Weise nicht vorgebeugt werden könne. Das habe der Kläger nicht geltend gemacht. Es sei ihm möglich, den Sicherheitsgurt anzulegen, sei es, dass er sich vom Fahrer des Fahrzeugs beim Anlegen helfen lasse, oder ggf. auf dem linken Rücksitz Platz nehme, um den Sicherheitsgurt dort mit der rechten Hand selbst anzulegen.

Die daraufhin erhobene Verpflichtungsklage hat das Verwaltungsgericht mit dem im Tenor bezeichneten Urteil und im Wesentlichen folgender Begründung abgewiesen: Die Beklagte habe den vom Kläger gestellten Antrag ermessensfehlerfrei abgelehnt. Der Kläger habe eine ärztliche Bescheinigung darüber, dass er aufgrund des ärztlichen Befundes von der Anlegepflicht befreit werden müsse, nicht vorgelegt und mache auch im Übrigen nicht geltend, dass die Position oder der Druck des Gurtes etc. zu gesundheitlichen Problemen führe. Auch die von der Beklagten vorgenommene Abwägung der individuellen Interessen des Klägers mit den öffentlichen Belangen, die mit der Gurtpflicht des § 21a Abs. 1 Satz 1 StVO verfolgt würden, sei nicht zu beanstanden. Ein atypischer Ausnahmefall, der die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung rechtfertigen könne, liege nicht vor. Die vom Kläger vorgetragenen Argumente führten nicht zu einem ausnahmsweisen Überwiegen seiner Interessen gegenüber den öffentlichen Interessen an der Einhaltung der Gurtpflicht. Soweit er geltend mache, er sei wegen einer linksseitigen Lähmung nicht in der Lage, sich als Beifahrer selbst anzuschnallen, habe die Beklagte rechtsfehlerfrei damit argumentiert, dass er auf dem Beifahrersitz vom jeweiligen Fahrer des Fahrzeugs angeschnallt werden könne. Auch wenn der Kläger damit auf die Hilfe Dritter angewiesen sei, überwögen die öffentlichen Belange. Das vom Kläger in der mündlichen Verhandlung geltend gemachte Verbot einer Diskriminierung von Behinderten führe zu keinem anderen Ergebnis. Im Übrigen habe die Beklagte ebenfalls zu Recht darauf hingewiesen, dass sich der Kläger (zumindest in viertürigen Fahrzeugen) auch auf dem hinteren linken Sitz ohne Hilfe Dritter selbst mit der rechten Hand anschnallen könne. Auch das Argument des Klägers, da er sich nicht selbst abschnallen könne, bestehe für ihn gegenüber gesunden Personen eine höhere Gefahr des Ertrinkens oder des Verbrennens im Fahrzeug bei einem entsprechenden Unfall, könne den geltend gemachten Anspruch nicht begründen. Zum einen betreffe dies lediglich den Fall, in dem der Kläger unter Mithilfe des Fahrers den Beifahrersitz nutzen müsse, weil es sich um ein zweitüriges Fahrzeug handele. Zum anderen sei die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nur in dringenden Ausnahmefällen zulässig. Sie komme nur dann in Betracht, wenn mit der Gurtpflicht konkrete ernsthafte Gesundheitsschäden verbunden seien, denen auf anderem Weg nicht vorgebeugt werden könne. Das Risiko des Klägers, tatsächlich einen Verkehrsunfall zu erleiden, bei dem die Möglichkeit des Ertrinkens oder Verbrennens bestehe und der Fahrzeugführer nicht in der Lage sei, den Kläger abzuschnallen, sei jedoch erheblich geringer einzuschätzen als das Risiko eines Unfalls, bei dem dieser aufgrund des Nichtanlegens des Gurts schwere Verletzungen mit Folgen auch für die Allgemeinheit erleide. Entgegen der Ansicht des Klägers führten auch die Feststellungen des Bundesgerichtshofs in seinem Urteil vom 17. Juni 2014, bei dem es um die zivilrechtliche Frage des Mitverschuldens eines ohne Schutzhelm fahrenden Fahrradfahrers gegangen sei, nicht zu einem Anspruch auf Erteilung der begehrten Ausnahmegenehmigung.

II.

Der Antrag des Klägers, gegen dieses Urteil die Berufung zuzulassen, bleibt ohne Erfolg. Der allein in Anspruch genommene Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils) ist nicht hinreichend dargelegt worden und besteht auch in der Sache nicht.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit eines Urteils sind begründet, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt wird. Der Rechtsmittelführer muss darlegen, warum die angegriffene Entscheidung aus seiner Sicht unrichtig ist. Die Richtigkeitszweifel müssen sich auch auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen. Diese Voraussetzungen sind vorliegend schon deshalb nicht erfüllt, weil sich der Kläger im Wesentlichen darauf beschränkt, nach Art einer Berufungsbegründung der Auffassung des Verwaltungsgerichts seine eigene, gegenteilige Ansicht entgegenzusetzen.

Davon abgesehen sind die tragenden Erwägungen des angegriffenen Urteils auch in der Sache nicht zu beanstanden. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend entschieden, dass eine Ausnahme von der Gurtanlegepflicht des § 21a Abs. 1 Satz 1 StVO nur in besonders dringenden Fällen und unter strengen Anforderungen an den Nachweis ihrer Notwendigkeit zulässig ist. Dabei ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt, dass auch gewichtigere subjektive Beeinträchtigungen dem Betroffenen bei der Abwägung des Risikos, das er bei Nichtanlegung des Sicherheitsgurts für sich und für andere Verkehrsteilnehmer eingeht, durchaus zuzumuten sein können. Physische oder psychische Beeinträchtigungen, die in Folge des Gurtanlegens auftreten, rechtfertigen es angesichts des weit überwiegenden Nutzens der Sicherheitsgurte und des im Falle der Nichtanlegung bestehenden erheblichen Risikos in der Regel nicht, den Insassen eines Kraftfahrzeugs von der Pflicht zum Gurtanlegen zu befreien. So ist etwa die mit psychischen Beeinträchtigungen verbundene Abneigung, den Gurt anzulegen oder sich beim Anlegen helfen zu lassen, nicht geeignet, die Notwendigkeit einer Befreiung von der Gurtanlegepflicht aus Zumutbarkeitsgesichtspunkten zu begründen. Ein Kraftfahrzeugführer oder Mitfahrer hat nur dann einen Anspruch auf Befreiung von der Pflicht zum Anlegen des Sicherheitsgurts, wenn die Benutzung des Gurts aus gesundheitlichen Gründen unzumutbar ist, weil mit der Nutzung für ihn konkret ernsthafte Gesundheitsschäden verbunden sind, denen auf anderem Wege nicht vorgebeugt werden kann und die als solche ärztlicherseits bestätigt werden können (vgl. dazu näher BGH, Urt. v. 29.9.1992 – VI ZR 286/91 -, BGHZ 119, 268; ferner König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42. Aufl., § 21a StVO Rn. 12). Darin liegt eine Verletzung von Grundrechten nicht (vgl. BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, Beschl. v. 24.7.1986 – 1 BvR 331/85 u. a. -, NJW 1987, 180).

Anders als der Kläger meint, trifft es auch nicht zu, dass der Verzicht auf den Sicherheitsgurt in erster Linie den Bereich der Selbstgefährdung berührt. Einen derartigen Einwand haben sowohl das Bundesverfassungsgericht (a. a. O.) als auch der Bundesgerichtshof (bereits mit Urt. v. 20.3.1979 – VI ZR 152/78 -, BGHZ 74, 25) als nicht tragfähig zurückgewiesen und des Näheren ausgeführt, dass derjenige, der sich als Insasse eines Kraftfahrzeugs in den allgemeinen Straßenverkehr begibt, nicht nur auf sein eigenes Risiko handelt, sondern auch über das Ausmaß des im heutigen Straßenverkehr immer gegenwärtigen Risikos anderer Verkehrsteilnehmer mitentscheidet, und die Gurtanlegepflicht in vielfacher Weise nicht nur die berechtigten Interessen ggf. betroffener anderer Verkehrsteilnehmer, sondern auch der Allgemeinheit schützt (Inanspruchnahme von Rettungsdiensten und medizinischen Versorgungseinrichtungen, Belastung der Sozialversicherungssysteme, dazu insbesondere BGH, Urt. v. 20.3.1979, a. a. O., juris Rn. 29 f.) Die von dem Kläger demgegenüber befürchteten Unfallszenarien (Gefahr von Feuer, drohendes Ertrinken im Fahrzeug) hat das Verwaltungsgericht im Rahmen einer Wahrscheinlichkeitsbetrachtung zu Recht als eher fernliegend und ungeeignet zur Begründung des geltend gemachten Anspruchs auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung bezeichnet.

Aus dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 17. Juni 2014 (- VI ZR 281/13 -, NJW 2014, 2493) vermag der Kläger zu seinen Gunsten ebenfalls nichts herzuleiten. Der Bundesgerichtshof hat mit diesem Urteil entschieden, dass Schadensersatzansprüche eines Radfahrers, der bei einem Verkehrsunfall Kopfverletzungen erlitten hat, die durch das Tragen eines Schutzhelms zwar nicht verhindert, wohl aber hätten gemildert werden können, grundsätzlich nicht wegen Mitverschuldens gemindert sind, weil der Verordnungsgeber aus verkehrspolitischen Erwägungen bislang bewusst davon abgesehen habe, eine Helmpflicht für Radfahrer einzuführen und es jedenfalls zur Zeit des Unfallereignisses auch nicht dem allgemeinen Verkehrsbewusstsein entsprochen habe, das Tragen von Fahrradhelmen für erforderlich zu halten. Demgegenüber hat der Verordnungsgeber die Verpflichtung zum Anlegen von Sicherheitsgurten bereits im Jahr 1975 begründet und entspricht es seit langem – wie auch die zitierte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs annimmt – der verantwortungsbewussten Überzeugung aller einsichtigen und vernünftig handelnden Kraftfahrer, dass die Benutzung des Sicherheitsgurts eine zur Schadensminderung grundsätzlich geeignete und erforderliche Maßnahme ist.

Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO; § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

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