Zu den Anforderungen an die Verkehrssicherungspflichten an einem Bahnübergang

LG Dessau-Roßlau, Urteil vom 31.01.2014 – 4 O 749/12

1. Eine Spurrillenbreite der Schienen an einem Bahnübergang von im Mittel 8,05 cm bzw. im Maximum von 8,56 cm begründet einen Verstoß gegen die (allgemeine) Verkehrssicherungspflicht. Dies umso mehr, wenn der Bahnübergang in seiner spitzwinkligen zweigleisigen und zur Straße unter einem Winkel von weniger als 30° liegenden Anordnung für Zweiradfahrer ungünstig angelegt sei, indem die Schienen und damit die vier Spurrillen in einem Winkel befahren müssen, der ein rechtwinkliges Kreuzen der Schienen nicht ermöglicht, so dass der Radfahrer viermal innerhalb von ca. 8 m Fahrstrecke seine Fahrtrichtung um 45° ändern oder die gesamte Straßenbreite zum Queren des Bahnüberganges in Anspruch nehmen muss.

Es genügt in diesen Fällen nicht, dass der Bahnübergang nach den Regeln der StVO angekündigt wird und die Schienen von Weitem erkennbar sind.

Den ortskundigen Radfahrer trifft jedoch ein Mitverschulden (1/3).

2. Schmerzensgeld bei dreifacher Mittelgesichtsfraktur, Prellung am Handgelenk und Platzwunde am Auge mit Sehminderung von 50 %, fortdauerndem Schmerz, Beeinträchtigung des Greifvermögens und 1/3 Mitverschulden: 4000 €

Leitsatz des Gerichts

Tenor

1.) Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 4.799,25 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten seit dem 12. Dezember 2012 zu zahlen.

2.) Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche weiteren materiellen und immateriellen Schäden, die ihr in Zukunft aus dem Unfall vom 09. August 2012 gegen 18.45 Uhr am Ortsausgang Kö. aus Kö. kommend in Richtung K. entstehen, zu ersetzen, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen sind.

3.) Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 256,62 € zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

4.) Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin zu 40 % und die Beklagte zu 60 %.

5.) Das Urteil ist für beide Parteien gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand
1

Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Zahlung von Schmerzensgeld, Schadensersatz und Feststellung der Ersatzpflicht für künftige Schäden wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht in Anspruch.
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Die Klägerin befuhr am 09. August 2012 gegen 18.45 Uhr mit ihrem Fahrrad, einem normalen Stadtrad, Marke M., die W.straße aus Kö. kommend in Richtung K.. Sie war mit der Zeugin M. unterwegs. Beim Überfahren des beschrankten Bahnüberganges am Ortsausgang Kö. und stürzte und fiel dabei auf den Kopf. Hierdurch erlitt sie u.a. eine dreifache Mittelgesichtsfraktur links und eine Prellung am linken Handgelenk. Die Klägerin wurde im ….klinikum H. operiert, wobei die Fraktur mit Platten verschraubt und eine am linken Auge befindliche Platzwunde genäht werden musste. Die Klägerin wurde zudem am Oberkiefer operiert.
3

Die Klägerin behauptet, mit ihrem Fahrrad in den Spalt zwischen Gleis und eingefasstem Betonbett geraten und hierdurch gefallen zu sein. Dabei sei sie vorsichtig und langsam über den Bahnübergang gefahren. Der Spalt zwischen Gleis und eingefasstem Betonbett sei jedoch – so ist die Klägerin weiterhin der Ansicht – zu breit gewesen und habe nicht der Norm entsprochen. Insoweit habe er eine unzulässige Gefahr für die Verkehrsteilnehmer dargestellt und sei Ursache ihres Sturzes gewesen. Die Beklagte habe damit gegen ihre Verkehrssicherungspflicht verstoßen und zudem komme eine Haftung nach § 1 Haftpflichtversicherungsgesetz in Betracht.
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Sie leide seit dem Unfall unter ständigen Schmerzen und müsse Schmerzmittel einnehmen. Auch sei am linken Auge eine Sehminderung von 50 % festgestellt worden. Sie habe zudem weiterhin Schmerzen im linken Handgelenk und könne mit der linken Hand nicht richtig zugreifen, so dass sie angesichts dieser Verletzungen und Beeinträchtigungen ein Schmerzensgeld von mindestens 8.000,00 € für angemessen erachte.
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Zudem – so behauptet die Klägerin weiter – sei aufgrund des Sturzes ihre hochwertige Brille beschädigt worden, so dass sie sich, da sie auf eine Brille angewiesen sei, vom Optiker eine neue Brille habe anfertigen lassen müssen, die 995,00 € gekostet habe. Auch seien ihr weitere materielle Schäden, wie Fahrraddurchsicht, Fahrtkosten, Zuzahlungen zum Krankenhausaufenthalt und Rettungswagen sowie Rezeptkosten in Höhe von insgesamt 173,88 € entstanden, wobei wegen der Einzelheiten auf die Aufstellung in der Klageschrift Seite 6 verwiesen werde. Auch habe sie für einen geplanten und aufgrund des Sturzes nicht angetretenen Urlaubes eine Auslandskrankenversicherung in Höhe von 12,00 € abschließen müssen, deren Kosten sie ebenfalls von der Beklagten erstattet verlange, ebenso wie eine Unkostenpauschale von 20,00 €.
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Schließlich, so meint die Klägerin, stehe ihr auch ein Feststellungsinteresse für die Ersatzpflicht der Beklagten für künftige Schäden zu. Zurzeit sei noch nicht absehbar, ob sich die Beschwerden am Auge bessern oder es zu einer ständigen Beeinträchtigung komme, so dass auch die Entstehung weiterer Schäden nicht unwahrscheinlich sei. Letztlich begehre sie von dem Beklagten die Erstattung außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe der nicht anrechenbaren 0,65 Geschäftsgebühr in Höhe von insgesamt 399,72 €.
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Die Klägerin beantragt:
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1. Die Beklagte wird verurteilt, an sie 1.198,88 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
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2. Die Beklagte wird verurteilt, an sie ein angemessenes Schmerzensgeld nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
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3. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche weiteren Schäden, die ihr in Zukunft aus dem Unfall vom 09. August 2012 gegen 18.45 Uhr am Ortsausgang Kö. aus Kö. kommend in Richtung K. entstehen, zu ersetzen, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergehen.
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4. Die Beklagte wird verurteilt, an sie außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 399,72 € zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie ist der Ansicht, dass keine Verkehrssicherungspflichtverletzung ihrerseits vorliege. Der Spalt zwischen Gleis und eingefasstem Betonbett werde maßgeblich von der Breite des Radkastens der Züge bestimmt, wobei ein notwendiges Spiel, das die Räder haben müssen, hinzukomme. Dieser Spalt sei hier nicht ungewöhnlich groß gewesen. Im Übrigen, so meint die Beklagte weiter, sei jedem Verkehrsteilnehmer als allgemeine Lebenserfahrung bekannt, dass das Überqueren eines Bahnüberganges einer besonderen Aufmerksamkeit bedürfe. Der Bahnübergang sei zudem ordnungsgemäß nach den Regeln der StVO angekündigt und die Schienen von Weitem erkennbar gewesen. Aufgrund ihrer Ortskenntnis hätte die Klägerin sich darauf einstellen können. Bei einem sorgfältigen und geraden Überqueren des Bahnüberganges wäre die Klägerin nicht in den Spalt gerutscht, so dass von einem Fahrfehler der Klägerin auszugehen sei. Die Klägerin habe den Unfall selbst verschuldet.
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Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen Bezug genommen.
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Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin M., wobei wegen des Beweisergebnisses auf das Sitzungsprotokoll vom 24. April 2013 (Bl. 47 ff. d. A.) verwiesen wird. Es hat zudem Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens des Sachverständigen Dr.-Ing. habil. G., wobei wegen der Einzelheiten auf dessen Gutachten vom 03.Oktober 2013 auf Bl. 77 ff. d. A. Bezug genommen wird.

Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist überwiegend begründet.
18

Der Klägerin steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 4.799,25 € gemäß § 823 Abs. 1 BGB zu.
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Entgegen der Ansicht der Klägerin ist die Beklagte jedoch nicht aus Gefährdungshaftung nach § 1 HaftpflG (Haftpflichtversicherungsgesetz) einstandspflichtig, denn ein Unfall, der wie hier, nur durch eine Betriebsanlage und nicht durch den Bahnbetrieb als solchen verursacht wird, stellt keinen Betriebsunfall i.S.d. HaftpflG dar (vgl. BGH, VersR 1958, 609; OLG Hamm, NZV 1998, 154).
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Die Beklagte haftet jedoch wegen Verletzung ihrer Verkehrssicherungspflicht nach § 823 Abs. 1 BGB. Hiernach ist derjenige, der eine Gefahrenlage – gleich welcher Art – schafft, grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern (vgl. statt vieler BGH, NJW 2007, 762).
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Hiergegen hat die Beklagte verstoßen. Nach dem eingeholten Sachverständigengutachten des Sachverständigen Dr. habil. G. vom 03. Oktober 2013 steht fest, dass der streitgegenständliche Bahnübergang eine besondere Gefahrenquelle darstellt. Der Sachverständige führt hierzu überzeugend aus, dass nach den Vorgaben der B. AG, hier der Richtlinie 815 D. AG in der Fassung 2008, Spurrillenbreiten zwischen den Schienen und den Ausplattungen im Gleis zwischen 4,5 und 7,0 cm betragen sollen, während das hier im Ortstermin festgestellte Breitenmaß der Spurrille im Mittel 8,05 cm beträgt und sogar ein Maximum von 8,56 cm festgestellt worden ist. Hinzu komme – so führt der Sachverständige weiter aus -, dass der Bahnübergang hier in seiner spitzwinkligen zweigleisigen und zur Straße unter einem Winkel von weniger als 30° liegenden Anordnung für Zweiradfahrer ungünstig angelegt sei, da sie die Schienen und damit die vier Spurrillen in einem Winkel befahren müssen, der ein rechtwinkliges Kreuzen der Schienen nicht ermöglicht. Der Radfahrer müsste dazu viermal innerhalb von ca. 8 m Fahrstrecke seine Fahrtrichtung um 45° ändern oder die gesamte Straßenbreite zum Queren des Bahnüberganges in Anspruch nehmen, was eine Verkehrsgefährdung darstelle. Eine rechtwinklige Schienenquerung sei damit nicht möglich.
22

Das Gericht schließt sich den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. Ing. habil. G. nach eigener kritischer Prüfung an und macht sie sich zu Eigen. Der Sachverständige ist von zutreffenden Voraussetzungen ausgegangen und hat seine Untersuchungen und Ergebnisse nachvollziehbar und plausibel geschildert und hieraus die richtigen Schlussfolgerungen gezogen.
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Hiernach liegt mit dem Bahnübergang eine besondere Gefahrenquelle, einmal durch die zu breite Spurrille zwischen Gleis und eingefasstem Betonbett und zudem durch seine spitzwinklig liegende Anordnung zur Straße vor, was ein Kreuzen der Bahngleise durch Fahrradfahrer nicht problemlos möglich macht.
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Eine Abänderung dieser Gefahrenlage oder eine Warnung vor dieser wäre der Beklagten zumutbar gewesen, um eine Schädigung anderer Verkehrsteilnehmer, insbesondere Zweiradfahrer, möglichst zu verhindern. Die Beklagte hat damit ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt.
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Der Beklagten ist vorliegend jedoch ein Mitverschulden an dem Unfall in Höhe von 1/3 anzurechnen. Die Klägerin war ortskundig und insoweit waren ihr die Gegebenheiten des Bahnüberganges bekannt. Auch wenn sie angibt, vorsichtig gefahren zu sein, hätte sie den Bahnübergang hier aufgrund seiner schwierigen Lage noch umsichtiger befahren müssen, was ihrer Mitfahrerin, der Zeugin M., so ja auch gelungen ist. Soweit die Zeugin M. bekundet hat, dass die Klägerin weit links gefahren sei, sieht das Gericht hierin jedoch kein Mitverschulden, da dieses für den Sturz aufgrund des zu breiten Spaltes zwischen Gleis und eingefassten Betonbett keinesfalls ursächlich gewesen ist.
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Die Beklagte haftet daher für 2/3 des der Klägerin entstandenen Schadens.
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Die Beklagte ist dem substantiierten klägerischen Vortrag zum materiellen Schaden in Höhe von insgesamt 1.198,88 € nicht entgegengetreten, so dass dieser vorliegend, der mit entsprechenden Belegen bekräftigt wird, von der Beklagten in Höhe von 2/3 des entstandenen Schadens zu erstatten ist. Des Weiteren hält das Gericht angesichts der von der Klägerin vorgetragenen Verletzungen und Beschwerden ein Schmerzensgeld in Höhe von 6.000,00 € für angemessen, was dem entspricht, was die Kammer in gleichgelagerten Fällen mit ähnlichen Verletzungsfolgen als Schmerzensgeld zugesprochen hat.
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Ausgehend von einem Gesamtschaden von 7.198,88 € ist die Beklagte daher verpflichtet, der Klägerin einen Betrag in Höhe von 4.799,25 € zu erstatten.
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Der Klägerin steht darüber hinaus auch ein Feststellungsinteresse hinsichtlich der Ersatzpflicht der Beklagten für künftige materielle und immaterielle Schäden zu. Nach deren substantiiertem Vortrag, dem die Beklagte ebenfalls nicht entgegengetreten ist, sind die Beschwerden am Auge noch nicht vollständig verheilt und es ist derzeit auch nicht abzusehen, ob eine Besserung eintritt oder ein Dauerschaden verbleibt. Insoweit sind weitere künftige Schäden nicht auszuschließen, so dass die Klägerin ein berechtigtes Feststellungsinteresse nach § 256 ZPO besitzt.
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Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 288 Abs. 1, 291 ZPO.
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Schließlich steht der Klägerin auch ein Anspruch auf Erstattung der angefallenen außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten als weitere notwendige Schadenskosten in Höhe von 256,62 € gemäß § 249 BGB zu.
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Ausgehend von einer berechtigten Forderung von 4.799,25 € beträgt die geltend gemachte 0,65 Geschäftsgebühr 195,65 € zuzüglich 20,00 € Post- und Telekommunikationspauschale und 19 % Mehrwertsteuer ergeben sich erstattungsfähige Rechtsanwaltskosten in Höhe von 256,62 €.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 ZPO und berücksichtigt das gegenseitige Verhältnis von Obsiegen und Unterliegen.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S. 1 und 2 ZPO.

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