Verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Hilfebedürftigem und Helfer stehen Unfallversicherungsschutz des Unglückshelfers nicht entgegen

BSG, Urteil vom 12. Dezember 2006 – B 2 U 39/05 R

1. Der Weg zum Ort der Gefahr ist Teil der nach § 2 Abs 1 Nr 13 SGB 7 versicherten Rettungshandlung.

2. Verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Hilfebedürftigem und Helfer stehen dem Versicherungsschutz als Unglückshelfer nicht entgegen.

Tatbestand

Strittig ist die Anerkennung eines Unfalls als Arbeitsunfall.

Der Kläger ist der Vater der im Jahre 1995 geborenen A. S. E. (im Folgenden A). A erhält von ihrer Pflegekasse aufgrund des bei ihr vorliegenden Morbus Pompe und der Notwendigkeit einer assistierten Beatmung mittels Tracheotomie Leistungen nach der Pflegestufe III. In der Nacht vom 5. auf den 6. Mai 2001 gegen 0.20 Uhr knickte der Kläger, als er sich wegen des Ertönens der Alarmanlage des Beatmungsgeräts der Tochter zu ihr begeben wollte, auf der Treppe um und zog sich einen Muskelfaserriss zu. Die beklagte Unfallkasse lehnte die Anerkennung dieses Ereignisses als Arbeitsunfall ab (Bescheid vom 5. März 2002, Widerspruchsbescheid vom 5. Juli 2002).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 2. Januar 2004). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Klägers die Beklagte verurteilt, den Sturz als Arbeitsunfall anzuerkennen (Urteil vom 12. Oktober 2005), und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen des § 2 Abs 1 Nr 13a des Siebten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VII) seien erfüllt. Es habe eine erhebliche Gefahr für die Gesundheit der A vorgelegen, wie sich aus der Auslösung des Alarms ergebe, weil die Kanüle, die A mit Luft versorgt habe, verstopft gewesen sei. Nur durch sofortiges Absaugen des Schleims habe ein Ersticken innerhalb kurzer Zeit verhindert werden können. Trotz der Erkrankung der A, die ständige Pflege erfordert habe, habe für diese keine ständige Lebensgefahr bestanden, vielmehr habe es sich um eine akute unvorhergesehene Gefahr für deren Gesundheit gehandelt, wie der Alarm des Beatmungsgeräts gezeigt habe, der sofortiges Handeln notwendig gemacht habe. Der Versicherungsschutz nach § 2 Abs 1 Nr 13a SGB VII umfasse auch den Weg zur Hilfeleistung.

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts und macht geltend: Durch den Kläger und seine Ehefrau sei die Behandlungspflege ihrer Tochter übernommen worden und hierzu gehöre auch die Überwachung des Beatmungsgeräts einschließlich unvorhersehbarer Komplikationen. Diese Behandlungspflege sei durch das Eltern-Kind-Verhältnis geprägt und ihrem Unternehmen „Haushalt“ zuzuordnen (Hinweis auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 25. Oktober 1989 – 2 RU 4/89SozR 2200 § 539 Nr 134). Versicherungsschutz nach § 2 Abs 1 Nr 13a SGB VII sei ausgeschlossen, wenn die Rettungshandlung dem eigenen Unternehmen zuzurechnen sei (Hinweis auf BSG vom 24. Januar 1991 – 2 RU 29/90BSGE 68, 119 = SozR 3-2220 § 539 Nr 7).

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 12. Oktober 2005 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts für das Saarland vom 2. Januar 2004 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Gründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das LSG hat zu Recht festgestellt, dass der Unfall des Klägers am 6. Mai 2001 ein Arbeitsunfall ist.

Nach § 8 Abs 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit. Für einen Arbeitsunfall ist danach in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis – dem Unfallereignis – geführt hat (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität); das Entstehen von länger andauernden Unfallfolgen aufgrund des Gesundheitserstschadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist keine Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls, sondern für die Gewährung einer Verletztenrente (BSG vom 12. April 2005 – B 2 U 11/04 RBSGE 94, 262 = SozR 4-2700 § 8 Nr 14, jeweils RdNr 5; BSG vom 12. April 2005 – B 2 U 27/04 RBSGE 94, 269 = SozR 4-2700 § 8 Nr 15, jeweils RdNr 5; BSG vom 9. Mai 2006 – B 2 U 1/05 R -, vorgesehen für BSGE und SozR, RdNr 10).

Nach den nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffenen und daher für den Senat bindenden (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes ) tatsächlichen Feststellungen des LSG war der Kläger in der Nacht vom 5. auf den 6. Mai 2001 gegen 0.20 Uhr wegen eines Alarms des Beatmungsgeräts seiner schwerpflegebedürftigen Tochter A auf dem Weg zu dieser, als er stürzte und sich einen Muskelfaserriss zuzog. Diesen Unfall des Klägers hat das LSG zu Recht als Arbeitsunfall angesehen. Die Unfallkausalität zwischen dem Weg und dem Sturz als Unfallereignis sowie die haftungsbegründende Kausalität zwischen dem Sturz und dem Muskelfaserriss als Gesundheitserstschaden hat es nachvollziehbar bejaht und von der Beklagten sind insofern keine Rügen erhoben worden. Auf die Frage, inwieweit die später aufgetretene Lungenembolie des Klägers durch den Muskelfaserriss bzw dessen Behandlung verursacht wurde (haftungsausfüllende Kausalität), ist das LSG richtigerweise nicht eingegangen, weil dies für die Entscheidung über das Vorliegen eines Arbeitsunfalls unerheblich ist.

Die erforderlichen weiteren Voraussetzungen für die Anerkennung des Unfalls als Arbeitsunfall sind ebenfalls gegeben, weil das Handeln des Klägers aufgrund des Alarms des Beatmungsgeräts seiner Tochter A eine versicherte Tätigkeit nach § 2 Abs 1 Nr 13a SGB VII war (nachfolgend 1.), der Weg zur Rettungshandlung ein Teil der versicherten Tätigkeit ist (nachfolgend 2.) und damit auch der sachliche Zusammenhang bestand.

1. Nach § 2 Abs 1 Nr 13a SGB VII sind Personen versichert, die bei Unglücksfällen oder gemeiner Not Hilfe leisten oder einen anderen aus erheblicher gegenwärtiger Gefahr für seine Gesundheit retten. Vorliegend kommt vor allem die 3. Alternative in Betracht, eine gegenwärtige erhebliche Gefahr für A, die durch das Alarmsignal ihres Atemgeräts angezeigt wurde.

Versicherungsschutz des Klägers nach § 2 Abs 1 Nr 13a SGB VII wegen einer Rettungshandlung hat das LSG zu Recht angenommen, weil durch die Auslösung des Alarms signalisiert wurde, dass die Kanüle, durch die der Tochter Luft zuzuführen war, verstopft sei. Dies erforderte ein sofortiges Absaugen des Schleimes, da anderenfalls die Tochter innerhalb weniger Minuten blau angelaufen wäre und ihre Erstickung drohte. Dass die Gefahr des Erstickens eines Menschen innerhalb weniger Minuten eine erhebliche gegenwärtige Gefahr für seine Gesundheit ist, bedarf keiner weiteren Erörterung.

Der Bejahung des Versicherungsschutzes des Klägers nach § 2 Abs 1 Nr 13a SGB VII steht nicht entgegen, dass A seine Tochter ist und er zusammen mit seiner Ehefrau die Behandlungspflege der Tochter zumindest teilweise übernommen hatte.

Der Versicherungsschutz für „Unglücks- oder Nothelfer“, wie er heute in § 2 Abs 1 Nr 13a SGB VII geregelt ist, wurde erstmals durch das Dritte Unfallversicherungs-Änderungsgesetz vom 20. Dezember 1928 (RGBl I 405) im damaligen § 553a der Reichsversicherungsordnung (RVO) eingeführt und stand von Anfang an in Beziehung zu der strafrechtlichen Pflicht zur Hilfe in Not- und Unglücksfällen, heute geregelt in § 323c des Strafgesetzbuches. Besondere Schwierigkeiten traten im Laufe der Jahre auf, wenn einerseits eine besondere rechtliche Verpflichtung des Helfers bestanden hatte, andererseits Versicherungsschutz als notwendig angesehen wurde (vgl zur Geschichte der Vorschrift: Schlegel in Handbuch der Unfallversicherung, hrsg von Schulin, 1996, § 17 RdNr 44 ff mwN). Durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz vom 30. April 1963 (BGBl I 241 – UVNG) wurde die Regelung in § 539 Abs 1 Nr 9a RVO neu gefasst und später nur sprachlich leicht geändert ins SGB VII übernommen (vgl BT-Drucks 13/2204 S 75 zur Begründung des SGB VII). In der Begründung zum UVNG ist ausgeführt: „Der Hilfeleistende ist auch dann versichert, wenn er eine besondere rechtliche Verpflichtung zur Hilfe erfüllt. Die bisherige Unterscheidung zwischen allgemeiner und besonderer Verpflichtung lässt sich praktisch nicht durchführen; sie erscheint auch nicht gerechtfertigt“ (BT-Drucks IV/120 S 51).

Von einem solchen Versicherungsschutz für Not- und Unglückshelfer ohne Rücksicht auf eine mögliche besondere Beziehung derselben zu der Person, der sie helfen, geht auch der Senat in seiner Entscheidung vom 11. Dezember 1973 (- 2 RU 30/73BSGE 37, 38 = SozR Nr 46 zu § 539 RVO) aus, in der der Verunglückte versucht hatte, seine Tochter aus einem wegrollenden Lastkraftwagen (LKW) zu retten. Die von der Beklagten vertretene gegenteilige Auffassung findet keine Stütze im Wortlaut des § 2 Abs 1 Nr 13a SGB VII, der im Gegensatz zu dem früheren § 553a RVO nicht danach differenziert, ob eine besondere rechtliche Hilfepflicht zwischen der verunglückten und der helfenden Person besteht, sondern allgemein ohne Einschränkungen „Personen, die … einen anderen aus erheblicher gegenwärtiger Gefahr für seine Gesundheit retten“ unter Versicherungsschutz stellt. Dass eine Differenzierung iS der Beklagten versicherungsrechtlich nicht vertretbar ist, zeigt der obige LKW-Fall noch deutlicher als der vorliegende Alarm des Beatmungsgeräts: Denn nach Auffassung der Beklagten wäre eine Person zwar versichert, wenn sie eine andere fremde Person zu retten versucht, nicht aber einen Angehörigen oder eine andere Person, für deren Wohlergehen sie – ggf vertraglich – eine besondere Verpflichtung übernommen hat. Diesen in der Historie der Vorschrift wiederholt aufgetretenen Wertungswiderspruch (s Schlegel aaO) will die heutige Fassung der Regelung nach der Begründung zum UVNG gerade zu Recht vermeiden.

Aus der Systematik der den Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung begründenden Vorschriften in §§ 2, 3, 6, SGB VII ist ebenfalls nichts Derartiges herleitbar. Die lange Liste der Versicherungstatbestände steht in § 2 Abs 1 SGB VII nebeneinander. § 2 Abs 2 Satz 1 („Wie-Beschäftigte“) und Satz 2 („unfreie oder nicht freiwillig tätige Personen“) sowie § 3 („Versicherung kraft Satzung“) und § 6 („freiwillige Versicherung“) SGB VII enthalten weitere daneben stehende Versicherungstatbestände. § 2 Abs 3 SGB VII dehnt den Versicherungsschutz auf bestimmte Beschäftigungen und Tätigkeiten im Ausland aus. Zuständigkeits- und Konkurrenzregeln für den Fall, dass eine Versicherung nach mehreren Vorschriften vorliegt, finden sich erst in § 135 SGB VII. Dieser geht schon nach seinem Wortlaut zunächst vom Versicherungsschutz nach mehreren Vorschriften aus und löst dann diese Normenkonkurrenz, indem er den Vorrang bestimmter Versicherungstatbestände vor anderen anordnet, so zB den Vorrang der Versicherung als Beschäftigter nach § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII gegenüber der als Unglückshelfer nach § 2 Abs 1 Nr 13a SGB VII in § 135 Abs 1 Nr 5 SGB VII.

Aus der von der Beklagten angeführten Entscheidung des Senats vom 24. Januar 1991 (- 2 RU 29/90BSGE 68, 119 = SozR 3-2220 § 539 Nr 7), in der ein Yachtkapitän und Reiseleiter einen Unglücksfall verhinderte und dabei verletzt wurde, folgt nichts anderes. In dieser Entscheidung wird ebenso wie in der Entscheidung des Senats vom 22. Februar 1973 (- 2 RU 110/71BSGE 35, 212 = SozR Nr 3 zu § 541 RVO – frei praktizierender Arzt als Polizeiarzt, der während dieser Betätigung einen Rettungsversuch unternimmt) die Ablehnung des Versicherungsschutzes nach dem damaligen § 539 Abs 1 Nr 9a RVO darauf gestützt, dass der Unglückshelfer sich im Rahmen seiner jeweiligen Tätigkeit gegen Arbeitsunfälle hätte versichern können und ihm nun – nachdem er es jeweils nicht getan hatte – die öffentliche Unfallfürsorge nicht zugute kommen soll. Ob an dieser Rechtsprechung festgehalten werden kann (vgl nur die insofern kritische Anmerkung von Benz zu der Entscheidung vom 24. Januar 1991 in SGb 1991, 553, 554 f), kann hier dahingestellt bleiben, weil der Kläger sich im Unterschied zu dem Yachtkapitän und dem Arzt gegen Arbeitsunfälle in Verbindung mit der Pflege seiner Tochter – die Mitglied seines Haushaltes war – nicht selbst in der gesetzlichen Unfallversicherung versichern konnte (vgl § 3 Abs 2 Nr 1, § 4 Abs 4 SGB VII).

Die von der Beklagten außerdem angeführte Entscheidung des Senats vom 25. Oktober 1989 – 2 RU 4/89SozR 2200 § 539 Nr 134) ist nicht einschlägig, weil sie nicht die Situation als Unglückshelfer betrifft, sondern den Versicherungsschutz als sog Wie-Beschäftigter nach dem damaligen § 539 Abs 2 RVO, der Vorläufervorschrift des heutigen § 2 Abs 2 Satz 1 SGB VII.

2. Zur versicherten Tätigkeit nach § 2 Abs 1 Nr 13a SGB VII gehört auch der Weg zur Rettungshandlung. Daher steht dem Versicherungsschutz des Klägers auf diesem Weg nicht entgegen, dass er diesen Weg in dem von ihm bewohnten Haus zurücklegte und sich der Unfall auch in diesem Haus ereignete. Im Unterschied zu nach § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII als Beschäftigte oder nach § 6 Abs 1 Nr 1 SGB VII als Unternehmer freiwillig Versicherten (vgl die Parallel-Entscheidungen vom heutigen Tag – B 2 U 28/05 R – und – B 2 U 1/06 R -) gehört bei den nach § 2 Abs 1 Nr 13a SGB VII als Retter aus einer erheblichen gegenwärtigen Gefahr versicherten Personen der Weg zur Rettungshandlung schon zu der versicherten Tätigkeit selbst und ist nicht nur eine ihr vorgelagerte Tätigkeit. Ab der Wahrnehmung der Notlage und dem Entschluss zu helfen beginnt die Rettungshandlung, und der Weg zu der Person in der erheblichen gegenwärtigen Gefahr für ihre Gesundheit ist hierdurch geprägt. Dieser Weg bildet mit der Rettungshandlung einen einheitlichen Lebensvorgang und unterscheidet sich von daher grundsätzlich von den Wegen anderer Versicherter zu oder im Rahmen ihrer versicherten Tätigkeit. Dies gilt auch für die Betriebswege zB als Beschäftigter, weil es bei diesen im Regelfall an der besonderen Eilbedürftigkeit aufgrund der erheblichen gegenwärtigen Gefahr mangelt, während eine solche Eilbedürftigkeit den Weg des Versicherten nach § 2 Abs 1 Nr 13a SGB VII geradezu prägt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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