Vereinzelte Glättestellen sprechen nicht für allgemeine Glättebildung, die Streupflicht begründet

BGH, Urteil vom 12.06.2012 – VI ZR 138/11

Sind im Bereich eines Grundstücks nur vereinzelte Glättestellen ohne erkennbare Anhaltspunkte für eine ernsthaft drohende Gefahr vorhanden, ist nicht von einer allgemeinen Glättebildung auszugehen, die eine Streupflicht begründen könnte.(Rn.10)

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des 9. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 18. März 2011 wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

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Die Klägerin verlangt von der Beklagten Zahlung von Schmerzensgeld und materiellen Schadensersatz aufgrund eines Glatteisunfalls.

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Sie suchte am Sonntag, dem 23. Dezember 2007, gegen 10.00 Uhr im Auftrag ihrer Arbeitgeberin, eines Pflegedienstunternehmens, das Grundstück der Beklagten, einer Kundin, auf, um ihr eine Weihnachtsgrußkarte zukommen zu lassen. Von der Straße aus führt ein etwa zwei Meter breiter Weg auf dem Grundstück zum Hauseingang, den die Klägerin benutzte, um die Karte in den Briefkasten einzuwerfen. Als sie in Richtung ihres Fahrzeugs zurückging, kam sie auf dem Weg zu Fall.

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Die Klägerin hat behauptet, sie sei auf dem zum Grundstück der Beklagten gehörenden, unstreitig nicht gestreuten Weg auf einer Eisfläche, die ein Ausmaß von etwa 20 x 30 cm gehabt und sich mittig auf dem Weg nahe der Grundstücksgrenze befunden habe, ausgerutscht und deshalb gestürzt. Weder auf dem Hinweg zum Hauseingang der Beklagten noch auf dem Rückweg habe sie diese Eisfläche bemerken können.

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Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren Klageanspruch weiter.

Entscheidungsgründe

I.

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Das Berufungsgericht hat Ansprüche der Klägerin verneint, weil es nicht habe feststellen können, dass die Beklagte die ihr obliegende Räum- bzw. Streupflicht verletzt habe.

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Diese Pflicht setze eine allgemeine Glättebildung und nicht nur das Vorhandensein vereinzelter Glättestellen voraus. An dem Vorliegen einer solchen allgemeinen Glätte bestünden bereits nach dem eigenen Vorbringen der Klägerin Zweifel. Diese habe bei ihrer persönlichen Anhörung angegeben, sie habe vor dem Sturz kein Eis wahrgenommen, auch nicht auf der Straße. Auch auf dem Weg der Beklagten habe sie keine weiteren vereisten Stellen bemerkt.

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Jedenfalls lasse sich nicht feststellen, dass es bereits vor 9.15 Uhr zu einer allgemeinen Glätte gekommen sei. Nach dem Gutachten des Deutschen Wetterdienstes sei es in der Zeit zwischen etwa 8.30 Uhr und 9.15 Uhr zu leichtem, kurzzeitig auch mäßigem Regen gekommen, der auf dem unterkühlten Boden gefroren sei. Da nicht sicher feststellbar sei, zu welcher Uhrzeit konkret im Bereich des Grundstücks der Beklagten Niederschlag eingesetzt habe, könne von Regenfall mit der Folge einer allgemeinen Glättebildung erst um 9.15 Uhr ausgegangen werden. Zur Erfüllung der Räum- und Streupflicht sei dem Pflichtigen im Regelfall ein Zeitraum von nicht unter einer Stunde nach Einsetzen der allgemeinen Glätte zuzubilligen, wenn nicht aufgrund besonderer Umstände Anlass zu einer früheren Durchführung von Räum- bzw. Streumaßnahmen bestehe. Bei der am Unfalltag herrschenden Wetterlage hätten keine hinreichend erkennbaren Anhaltspunkte für eine ernsthaft drohende Gefahr bestanden, die ausnahmsweise vorbeugende Maßnahmen geboten hätten. Es sei auch nicht festzustellen, dass die Beklagte am Unfalltag, einem Sonntag, damit habe rechnen müssen, dass Personen schon um 10.00 Uhr ihr Grundstück beträten.

II.

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Die vorstehenden Ausführungen halten im Ergebnis einer rechtlichen Prüfung stand. Die Auffassung des Berufungsgerichts, dass eine Verletzung der der Beklagten obliegenden Räum- bzw. Streupflicht nicht festgestellt werden könne, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

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1. Nach allgemeinen Grundsätzen der Beweislastverteilung muss der Verletzte alle Umstände beweisen, aus denen eine Streupflicht erwächst und sich eine schuldhafte Verletzung dieser Pflicht ergibt. Er muss deshalb den Sachverhalt dartun und gegebenenfalls beweisen, aus dem sich ergibt, dass zur Zeit des Unfalls aufgrund der Wetter-, Straßen- oder Wegelage bereits oder noch eine Streupflicht bestand und diese schuldhaft verletzt worden ist (vgl. Senatsurteile vom 29. September 1970 – VI ZR 51/69, VersR 1970, 1130, 1131; vom 27. November 1984 – VI ZR 49/83, VersR 1985, 243, 245; Senatsbeschluss vom 7. Juni 2005 – VI ZR 219/04, NZV 2005, 578).

10

Die winterliche Räum- und Streupflicht beruht auf der Verantwortlichkeit durch Verkehrseröffnung und setzt eine konkrete Gefahrenlage, d.h. eine Gefährdung durch Glättebildung bzw. Schneebelag voraus. Grundvoraussetzung für die Räum- und Streupflicht auf Straßen oder Wegen ist das Vorliegen einer allgemeinen Glätte und nicht nur das Vorhandensein einzelner Glättestellen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. Januar 1982 – III ZR 80/81, VersR 1982, 299, 300; vom 26. Februar 2009 – III ZR 225/08, NJW 2009, 3302 Rn. 4 mwN; OLG Jena NZV 2009, 599, 600 mwN; Carl, VersR 2012, 414, 415; Geigel/Wellner, Der Haftpflichtprozess, 26. Aufl., Kap. 14 Rn. 147; Staudinger/Hager, BGB [2009], § 823 Rn. E 128). Ist eine Streupflicht gegeben, richten sich Inhalt und Umfang nach den Umständen des Einzelfalls (Senatsurteile vom 29. September 1970 – VI ZR 51/69, aaO; vom 2. Oktober 1984 – VI ZR 125/83, NJW 1985, 270; BGH, Urteil vom 5. Juli 1990 – III ZR 217/89, BGHZ 112, 74, 75; Beschluss vom 20. Oktober 1994 – III ZR 60/94, VersR 1995, 721, 722). Bei öffentlichen Straßen und Gehwegen sind dabei Art und Wichtigkeit des Verkehrswegs ebenso zu berücksichtigen wie seine Gefährlichkeit und die Stärke des zu erwartenden Verkehrs. Die Räum- und Streupflicht besteht also nicht uneingeschränkt. Sie steht vielmehr unter dem Vorbehalt des Zumutbaren, wobei es auch auf die Leistungsfähigkeit des Sicherungspflichtigen ankommt (BGH, Urteil vom 5. Juli 1990 – III ZR 217/89, aaO, 75 f. mwN; vom 15. Januar 1998 – III ZR 124/97, VersR 1998, 1373, 1374 f.; Beschluss vom 20. Oktober 1994 – III ZR 60/94, aaO).

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Nach diesen Grundsätzen bestehen Räum- und Streupflichten regelmäßig für die Zeit des normalen Tagesverkehrs, d.h. an Sonn- und Feiertagen ab 9.00 Uhr (vgl. OLG Köln, VersR 1997, 506, 507; OLG Jena, aaO; LG Berlin, Grundeigentum 2010, 272). Bei Auftreten von Glätte im Laufe des Tages ist allerdings dem Streupflichtigen ein angemessener Zeitraum zuzubilligen, um die erforderlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Glätte zu treffen (vgl. Senatsurteil vom 27. November 1984 – VI ZR 49/83, aaO; BGH, Beschlüsse vom 20. Dezember 1984 – III ZR 54/84, VersR 1985, 189; vom 27. April 1987 – III ZR 123/86, VersR 1987, 989).

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2. Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Revision schon deswegen nicht begründet, weil nach dem vom Berufungsgericht wiedergegebenen Vortrag der Klägerin und ihren Ausführungen bei ihrer persönlichen Anhörung eine allgemeine Glätte im Bereich des Grundstücks der Beklagten nicht dargelegt ist. Auch wenn das Berufungsgericht das Vorliegen einer allgemeinen Glätte nur in Zweifel gezogen und nachfolgend maßgeblich darauf abgestellt hat, dass sich jedenfalls nicht feststellen lasse, dass es bereits vor 9.15 Uhr zu einer allgemeinen Glätte gekommen sei, ist entgegen der Auffassung der Revision für das Revisionsverfahren nicht davon auszugehen, dass eine allgemeine Glättebildung vorgelegen hat. Denn nach dem eigenen Vorbringen der Klägerin lagen im Bereich des Grundstücks der Beklagten keine erkennbaren Anhaltspunkte für eine ernsthaft drohende Gefahr vor, die eine Streupflicht der Beklagten hätte begründen können. Nach dem Vortrag der Klägerin ist sie auf einer Eisfläche gestürzt, die ein Ausmaß von etwa 20 x 30 cm gehabt hat. Sie hatte im Übrigen weder auf der Straße noch auf dem Weg weitere vereiste Stellen bemerkt. Dann ist aber nicht von einer allgemeinen Glättebildung auszugehen, sondern nur vom Vorhandensein vereinzelter Glättestellen. Dies reicht nach den oben unter 1. dargestellten Grundsätzen für die Annahme einer Räum- und Streupflicht auf dem Weg zum Haus der Beklagten nicht aus.

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3. Bei Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls ist auch nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht die Verletzung der Streupflicht deswegen verneint hat, weil zum Zeitpunkt des Sturzes gegen 10.00 Uhr die der Beklagten zuzubilligende Zeit für die Vornahme eventueller Streumaßnahmen noch nicht abgelaufen gewesen sei. Zwar ist der Auffassung des Berufungsgerichts nicht zu folgen, dass dem Verkehrssicherungspflichtigen im Regelfall ein Zeitraum von nicht unter einer Stunde nach Einsetzen der allgemeinen Glätte für den Beginn der Streumaßnahmen zuzubilligen sei, wenn nicht aufgrund besonderer Umstände Anlass zu einer früheren Durchführung von Räum- bzw. Streumaßnahmen bestehe. Vielmehr ist auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen und unter Berücksichtigung dieser Umstände dem Verkehrssicherungspflichtigen eine angemessene Zeit für den Beginn der Streumaßnahmen zuzubilligen. Für den Beginn der Streupflicht ist dabei vor allem von Bedeutung, in welchem Maße die erkennbare Wetterlage und die Eigenheiten des Gehwegs Anlass zur Vorsorge gegeben haben (vgl. Senatsurteil vom 29. September 1970 – VI ZR 51/69, aaO).

14

Im Streitfall ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls im Ergebnis nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht eine Verletzung der Streupflicht verneint hat. Ausgehend von dem von ihm festgestellten – und von der Revision nicht angegriffenen – frühesten Zeitpunkt einer allgemeinen Glättebildung ab 9.15 Uhr hat es für den Zeitpunkt des Sturzes gegen 10.00 Uhr eine Verletzung der Streupflicht ohne Rechtsfehler verneint. Das Berufungsgericht hat darauf abgestellt, dass bei der am Unfalltag herrschenden Wetterlage keine hinreichend erkennbaren Anhaltspunkte für eine ernsthaft drohende Gefahr bestanden hätten, die ausnahmsweise vorbeugende Maßnahmen schon vor der Bildung von Glätte geboten hätten. Es sei ebenfalls nicht festzustellen, dass die Beklagte am Unfalltag, einem Sonntag, damit rechnen musste, dass Personen schon um 10.00 Uhr ihr Grundstück betraten. Insbesondere seien an diesem Tag keine Pflegeleistungen für die Beklagte zu erbringen gewesen. Unter diesen Umständen bestand keine Notwendigkeit, eventuelle Streumaßnahmen mit besonderer Eile durchzuführen. Eine vorbeugende Verpflichtung zum Bereithalten eines Streudienstes bestand nicht, weil an dem Sonntagvormittag auf dem Weg zum Haus weder mit einem Fußgängerverkehr zu rechnen war noch die Wetterlage dafür Anlass gab (vgl. zur vorbeugenden Streupflicht Senatsbeschluss vom 11. August 2009 – VI ZR 163/08, WuM 2009, 677 Rn. 5; BGH, Urteil vom 15. Februar 1979 – III ZR 172/77, VersR 1979, 541, 542).

15

4. Nach allem ist die Auffassung des Berufungsgerichts nicht zu beanstanden, dass die Verletzung einer Räum- und Streupflicht seitens der Beklagten nicht vorliegt. Die Revision der Klägerin ist mithin mit der Kostenfolge des § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.

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