OLG Hamm zur Garantenstellung einer Jugendamtsmitarbeiterin

OLG Hamm, Beschluss vom 22.10.2020 – III-5 RVs 83/20

OLG Hamm zur Garantenstellung einer Jugendamtsmitarbeiterin

Der 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm hat mit Beschluss vom
22.10.2020 entschieden, dass ein Jugendamtsmitarbeiter nicht erst dann
zum Handeln verpflichtet ist, wenn er von einer konkret eingetretenen
akuten Gefährdung des Kindeswohls tatsächlich Kenntnis nimmt.
Vielmehr hat er auch für eine pflichtwidrig herbeigeführte Unkenntnis von
einer solchen Gefährdung einzustehen. Anderenfalls wäre nämlich
gerade derjenige Jugendamtsmitarbeiter, der alle an ihn
herangetragenen Warnzeichen einer Kindeswohlgefährdung in einer von
ihm betreuten Familie ignoriert und keinem Hinweis nachgeht, am
umfassendsten vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt.

Die angeklagte Jugendamtsmitarbeiterin aus dem Hochsauerlandkreis
betreute seit August 2013 eine alleinerziehende Mutter und deren neun
Kinder. Aufgrund der Mitteilung eines anderen Jugendamtes war der
Angeklagten bekannt, dass insbesondere ein Anfang 2012 geborener
Junge und ein im Frühling 2013 geborenes Mädchen in ihrem Kindeswohl
gefährdet sein könnten. Dennoch ist sie untätig geblieben, weshalb sie
nicht erkannte, dass beide Kinder nicht ausreichend ernährt und mit
Flüssigkeit versorgt worden sind. Das Mädchen konnte durch eine
intensivmedizinische Behandlung gerettet werden, nachdem die Mutter
sie in einer Notfallpraxis Anfang 2014 vorgestellt hatte. Dagegen verstarb
der Junge nach einer Vorstellung einen Tag später durch die
Kindesmutter im Krankenhaus, was auf seinen desolaten
Versorgungszustand zurückzuführen gewesen ist.

Das Amtsgericht Medebach hat die Angeklagte am 04.05.2017 (Az. 6 Ds
213/16) wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung zu
einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der
Freiheitsstrafe ist zur Bewährung ausgesetzt worden.

Mit ihren Berufungen gegen dieses Urteil haben die Angeklagte ihren
Freispruch, da sie nach den fachlichen Standards der Jugendhilfe
gehandelt haben will, und die Staatsanwaltschaft die Verurteilung zu einer
höheren Freiheitsstrafe verlangt.

Mit Urteil vom 07.01.2020 (Az. 3 Ns 101/17) hat das Landgericht Arnsberg
die Berufung der Staatsanwaltschaft verworfen. Auf die Berufung der
Angeklagten hat es sie wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen zu
einer Geldstrafe von 3.500 € verurteilt. Während die Angeklagte ihre
Garantenpflicht – d. h. ihre Verpflichtung, dafür einzustehen, dass der Tod
des Jungen nicht eintritt – gegenüber diesem fahrlässig verletzt und ihr
mögliche Maßnahmen zur Verhinderung von dessen Hungertod
unterlassen habe, sei die Unterernährung des Mädchens für die
Angeklagte nicht zu erkennen gewesen.

Die Revision der Angeklagten gegen dieses Urteil hatte keinen Erfolg. Die
Angeklagte habe – so der Senat – eine Gefährdungseinschätzung
bezüglich des verstorbenen Jungen über einen Zeitraum von mehreren
Monaten nicht vorgenommen, obwohl dies unter anderem aufgrund der
Mitteilung von Auffälligkeiten durch ein anderes Jugendamt und weiterer
ihr bekannter Umstände geboten, möglich und ihr zumutbar gewesen
wäre. Danach hätte sich die Angeklagte zeitnah nach Übernahme des
Falls einen persönlichen Eindruck verschaffen oder bei einer Weigerung
der Mutter das Familiengericht anrufen müssen. Der körperliche Zustand
des Jungen sei ab August 2013 bis zu seinem Tod bereits so reduziert
gewesen, dass seine Unterversorgung und die daraus folgenden
Verhaltensauffälligkeiten bei nicht nur ganz oberflächlicher Betrachtung
des Kindes ins Auge gesprungen wären. Aufgrund ihrer Untätigkeit blieb
der Angeklagten der sich über mindestens drei Monate andauernde
Zustand des Verhungerns des Kindes pflichtwidrig verborgen, so dass sie
das bei Kenntnis von der Situation Erforderliche nicht habe veranlassen
können.

Quelle: Pressemitteilung des Oberlandesgerichtes Hamm vom 06.11.2020

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