Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Urteil vom 14. März 2006 – 3 A 74/05
§ 3 Abs. 3 Nr. 4 , 1. Alternative GefHG (GefHG 2005) ist bei Beißerei zwischen Hunden nicht anwendbar. (Rn.19)
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Der Bescheid vom 24.04.2004 und der Widerspruchsbescheid vom 10.03.2005 werden aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % der vollstreckbaren Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in dieser Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich gegen eine Ordnungsverfügung auf der Grundlage der Gefahrhundeverordnung.
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Der Kläger ist Halter eines Border-Collie-Mischlings (…). Am 29.04.2004 kam es zu einem Zwischenfall, bei dem der von der Mutter des Klägers geführte Hund sich von der Leine losriss und einen anderen Hund in den Nacken biss. Zu den Einzelheiten wird auf die Verhandlungsniederschrift vom 15.10.2004 (Bl. 1 Beiakte A) verwiesen. Nach der Rechnung der Tierärztin … vom 04.10.2004 musste der geschädigte Hund anschließend wegen einer Bissverletzung behandelt werden (Bl. 2 Beiakte A).
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Der Kläger bzw. dessen Mutter ließ sich im Rahmen der Anhörung dahingehend ein, dass die beiden Hundehalter sich plötzlich an einer Ecke unvermittelt gegenübergestanden hätten. Die Mutter des Klägers hätte sich erschrocken und dieses Gefühl wohl auf den Hund übertragen. Der Hund habe sich von der Leine losgerissen. Es habe keinerlei Provokationen oder ähnliches gegeben (vgl. i. E. Bl. 5 Beiakte A).
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Unter dem 24.04.2004 erließ die Beklagte den streitgegenständlichen Bescheid auf der Grundlage des § 3 Abs. 1 Nr. 4 1. Alternative der Gefahrhundeverordnung (GefHuV SH, GVOBl. 2000, 533), mit welcher festgestellt wurde, dass der Hund des Klägers ein gefährlicher Hund ist, für den außerhalb des befriedeten Besitztums Leinen- und Maulkorbzwang besteht (§ 4 GefHuV) und der so zu halten ist, dass er das befriedete Besitztum nicht gegen den Willen des Halters verlassen kann. Ferner wurde aufgegeben, Zugänge zum Besitztum durch Warnschilder kenntlich zu machen. Schließlich wurde ein Zwangsgeld in Höhe von 250 Euro angedroht. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Hund des Klägers einen anderen Hund angegriffen habe, ohne selbst durch diesen angegriffen worden zu sein.
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Gegen diesen Bescheid legte der Kläger mit Schreiben vom 24.11.2004 Widerspruch ein und machte zur Begründung im Wesentlichen geltend, es sei lediglich zu einer Quetschung und nicht zu einer offenen Bisswunde gekommen und für den Hund habe eine putative Notwehrsituation vorgelegen.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 10.03.2005, zugestellt am 14.03.2005, wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen. Auf den Inhalt des Bescheides wird Bezug genommen.
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Der Kläger hat am 13.04.2005 Klage erhoben, mit der er sein Vorbringen aus dem Vorverfahren wiederholt und vertieft.
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Er beantragt,
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den Bescheid vom 24.04.2005 in der Form des Widerspruchsbescheides vom 10.03.2005 aufzuheben
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen
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Sie verteidigt die angefochtenen Bescheide.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge und die Schriftsätze der Beteiligten verwiesen.
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Der Rechtsstreit ist mit Beschluss der Kammer vom 07.02.2006 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Anfechtungsklage ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
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Der als Rechtsgrundlage herangezogene § 3 Abs. 1 Nr. 4, 1. Alternative trägt aufgrund des festgestellten und zwischen den Beteiligten unstreitigen Sachverhalts die Qualifizierung des Hundes des Klägers als gefährlicher Hund im Sinne der GefHuV SH nicht. Danach gelten als gefährliche Hunde im Sinne der Verordnung Hunde, die ein anderes Tier durch Biss geschädigt haben, ohne selbst angegriffen worden zu sein. Dass das Verhalten des Hundes des Klägers unter § 3 Abs. 1 Nr. 4, 2. Alternative subsumiert werden könnte, hat die Beklagte selbst nicht geltend gemacht und ist auch sonst nicht ersichtlich. Dies würde nämlich voraussetzen, dass der „gegnerische“ Hund trotz einer erkennbaren artüblichen Unterwerfungsgeste gebissen wurde. Eine solche lag aber weder nach dem Vortrag des geschädigten Hundehalters in seiner Anzeige noch nach der Einlassung des Klägers bzw. seiner Mutter vor.
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Die Kammer hat zu der (gleichlautenden) Regelung des § 3 Abs. 1 Nr. 4, 1. Alternative des am 01.05.2005 in Kraft getretenen Gefahrhundegesetzes (GefHG, GVOBl. 2005, 51) in ihrem Beschluss vom 06.03.2006 (3 B 11/06) folgende Ausführungen gemacht:
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„Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut führt indes nicht jeder Biss zwischen Hunden zur Annahme der Gefährlichkeit eines Hundes. Ausdrücklich nicht zur Gefährlichkeitseinstufung führt zunächst ein Beißen aufgrund eines Verteidigungsverhaltens des Hundes (§ 3 Abs. 3 Nr. 4 Hs. 1 GefHG). Daneben wird seitens des Gesetzgebers in den Fällen eine Gefährlichkeitsvermutung aufgestellt, in denen Hunde trotz artüblicher Unterwerfungsgestik ihres Rivalen beißen (§ 3 Abs. 3 Nr. 4 Hs. 2 GefHG). Hiermit sind offensichtlich Fälle gemeint, in denen das artgerechte Maß der Austragung einer Rangrivalität überschritten wird. Diese beiden Tatbestände bedürfen der Abgrenzung zueinander. Liegt ein Fall einer Rangklärung zwischen zwei Hunden vor, kann hierin kein Angriff im Sinne des ersten Halbsatzes mehr gesehen werden. Bei einer solchen Vorgehensweise käme es ansonsten zu Zufallsergebnissen, da zumeist nicht mehr festgestellt werden könnte, welcher Hund die Klärung der Rangfolge initiiert hat, bzw. welcher Hund zuerst gebissen hat. Die beiden Halbsätze des § 3 Abs. 3 Nr. 4 GefHG stehen daher zueinander in einem Verhältnis der Spezialität. Eine Klärung der Rangfolge unter Hunden kann damit unter Umständen auch zu Bissverletzungen führen, ohne dass von den beteiligten Hunden unmittelbar ein vom Schutzzweck des Gesetzes erfasstes Gefährdungspotential ausgehen muss. Die Grenze der Gefährlichkeit im Sinne des Gefahrhundegesetzes wird in solchen Fällen erst dann überschritten, wenn das Beißen trotz Unterwerfungsgestik erfolgt. Erfolgt keine Unterwerfungsgestik, kann es zu Bissen kommen, die die Gefährlichkeitsvermutung nicht auslösen.“
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Diese Rechtsprechung bedarf der Konkretisierung bzw. Fortführung. Die Kammer geht davon aus, dass die Regelung des § 3 Abs. 1 Nr. 4 1. Alternative GefHuV (bzw. nunmehr die wortgleiche Regelung des GefHG) in Fällen, in denen es zu Beißereien zwischen Hunden kommt, generell nicht anwendbar ist. Hierfür sprechen sowohl der Wortlaut und die Systematik des Gesetzes als auch dessen Sinn und Zweck.
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§ 3 GefHuV regelt verschiedene Tatbestände, bei deren Vorliegen Hunde als gefährlich anzusehen sind. Dabei betrifft die Nr. 1 Hunde mit Mensch oder Tier gefährdenden Eigenschaften, die Nr. 2 Hunde, die einen Menschen gebissen haben, die Nr. 3 Hunde, die wiederholt in gefahrdrohender Weise Menschen angesprungen haben, Nr. 4, 1. Alternative Hunde, die ein anderes Tier durch Biss geschädigt haben, ohne selbst angegriffen worden zu sein, Nr. 4, 2. Alternative Hunde, die einen anderen Hund trotz dessen erkennbarer artüblicher Unterwerfungsgeste gebissen haben und die Nr. 5 Hunde, die unkontrolliert Wild, Vieh oder andere Tiere hetzen oder reißen. Die Tatbestände lassen sich nicht trennscharf voneinander abgrenzen: Nr. 4 1. Alternative überschneidet sich mit Nr. 1 sowie Nr. 5 zumindest teilweise.
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Bereits der Wortlaut spricht dafür, § 3 Abs. 1 Nr. 4 1. Alternative in Fällen der vorliegenden Art nicht anzuwenden. Es spricht nämlich einiges dafür, dass der Gesetzgeber für die Schädigung eines anderen Hundes durch einen Biss in der 2. Alternative eine abschließende Regelung treffen wollte und die 1. Alternative mit „Tieren“ nur andere Tiere als Hunde meint. Zwar hat er in Nr. 5 den Begriff „Tier“ als Oberbegriff gebraucht und daneben Wild und Vieh genannt; daraus kann aber nicht zwingend geschlossen werden, dass der Begriff „Tier“ in Nr. 4 1. Alternative ebenfalls als Oberbegriff benutzt worden ist. Im Hinblick auf Nr. 5 liegt insoweit die Deutung nahe, dass der Gesetzgeber mit Wild und Vieh nur solche Tiergruppen beispielhaft nennen wollte, die erfahrungsgemäß einer Nachstellung durch Hunde in Form des Hetzens oder Reißens ausgesetzt sein können.
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Für die hier vertreten Auslegung spricht weiter das systematische Argument, dass andernfalls für die 2. Alternative keine Anwendungsfälle mehr verblieben. Die 1. Alternative wäre nämlich bei der Schädigung eines anderen Hundes durch Biss immer anwendbar, und zwar gleichgültig, ob der andere Hund eine artübliche Unterwerfungsgeste gezeigt hat oder nicht. Dieses Ergebnis könnte man allenfalls dann vermeiden, wenn man den Anwendungsbereich der 2. Alternative auf solche Fälle beschränken könnte, in denen eine Auseinandersetzung zur „Rangklärung“ zwischen zwei Hunden vorliegt (vgl. den Beschluss der Kammer v. 06.03.2006, 3 B 11/06). Für die 1. Alternative würden dann die Fälle „einseitiger Angriffe“ bleiben. Hiergegen spricht allerdings , dass sich die beiden Fälle in der Praxis kaum voneinander abgrenzen lassen.
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Gegen die hier vertretene Auffassung lässt sich nicht einwenden, dass sie zu vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten Regelungslücken führt. Zum einen wird es auch bei einseitigen Angriffen in der Regel zu einer Unterwerfungsgeste kommen, so dass die 2. Alternative anwendbar ist. Zum anderen werden die Fälle, in denen die gebissenen Hunde keine Unterwerfungsgeste zeigen oder zeigen können, vielfach unter § 3 Abs. 1 Nr. 1 GefHuV zu subsumieren sein, da die Hunde in diesen Fällen eine über das natürliche Maß hinausgehende Kampfbereitschaft, Angriffslust bzw. Schärfe zeigen. Im vorliegenden Fall kommt § 3 Abs. 1 Nr. 1 GefHuV als Rechtsgrundlage allerdings nicht in Betracht, da es sich bei der Attacke des mittlerweile über 11 Jahre alten Hundes des Klägers auf einen anderen Hund um einen einmaligen Vorfall handelt, der zudem noch durch die unwidersprochen vorgetragenen Besonderheiten der Situation (unvermitteltes Aufeinandertreffen der Hundehalter und ihrer Hunde an einer Ecke) geprägt war.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und ist gem. § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO vorläufig vollstreckbar.