Oberlandesgericht Hamm, Urteil vom 06.03.2014 – 6 U 186/13
Modegeschäft muss sich auf Kleinkinder einstellen
Ein Modegeschäft verletzt seine Verkehrssicherungspflicht, wenn es seine Auslagen auf einem Warenständer präsentiert, der von einem vierjährigen Kleinkind mit geringem Kraftaufwand gekippt werden kann und der dann die Gefahr erheblicher Verletzungen begründet. Das hat der 6. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 06.03.2014 entschieden und damit das erstinstanzliche Urteil des Landgerichts Münster bestätigt.
Im Juni 2012 suchten die Eltern mit der seinerzeit vierjährigen Klägerin das beklagte Modegeschäft in Warendorf auf, um dort einzukaufen. Die Klägerin spielte zunächst in der Spielecke des Modehauses. In einem von ihren Eltern nicht beobachteten Moment begab sie sich zu einem Warenständer in der auf derselben Etage befindliche Herrenabteilung, in der sich ihre Eltern aufhielten. An dem ca. 1,60 m hohen,
mittels Rollen leicht zu bewegenden Ständer waren zu verkaufende Gürtel aufgehängt. Die Klägerin zog an einem Gürtel und brachte so den Ständer zum Kippen. Der Ständer fiel auf die Klägerin und fügte ihr aufgrund eines hervorstehenden Zinkens eine schwere Augenverletzung zu, die operativ behandelt werden musste und möglicherweise eine dauerhafte Schädigung des Sehnervs des linken Auges mit einer
verminderten Sehkraft zur Folge hat. Mit ihrer Klage hat die Klägerin vom beklagten Modehaus Schadensersatz verlangt, u.a. ein Schmerzensgeld in Höhe von 2.000 Euro. Das beklagte Modehaus hat gemeint, in Bezug auf den Warenständer keine Verkehrssicherungspflicht verletzt zu haben, und auf die nach seiner Ansicht unzureichende Beaufsichtigung der Klägerin durch ihre Eltern verwiesen.
Der 6. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm hat der Klägerin Recht gegeben. Das beklagte Modegeschäft habe seine Verkehrssicherungspflicht verletzt. Es habe Gürtel auf einem Warenständer angeboten, der bei einer geringen Zugbelastung von nur 800 Gramm, die auch ein Kleinkind ausüben könne, zum Umstürzen gebracht werden konnte. Das habe der gerichtliche Sachverständige festgestellt. Aufgrund
der Beschaffenheit des Ständers mit den als Haltevorrichtung für die
Gürtel dienenden Zinken habe die Gefahr erheblicher Verletzungen
bestanden, wenn der Ständer umfalle.
Diese Gefahrenquelle habe das beklagte Modehaus beseitigen müssen. Darauf dürften Kunden vertrauen, die das Modehaus gemeinsam mit ihren Kindern aufsuchten. Modegeschäfte – wie von der Beklagten betrieben – lenkten die Aufmerksamkeit von Eltern bewusst auf die präsentierten Waren und nicht auf Gefahren, die vom Mobiliar für Kinder ausgehen könnten. Hinzu komme, dass Kinder im Alter der Klägerin kurze Momente der Unaufmerksamkeit ihrer Eltern dazu nutzten, ihrem Spieltrieb entsprechend ihre Umgebung zu erkunden und aus kindlicher Neugier ohne die gebotene Vorsicht auch an Einrichtungen oder Waren zu ziehen. Deswegen seien die Betreiber von Bekleidungsgeschäften gehalten, die für die Präsentation von Waren vorgesehenen Einrichtungen so aufzustellen, dass sie von kleinen Kindern, die ihre Eltern beim Einkauf begleiteten, nicht ohne großen Kraftaufwand zum Umfallen gebracht werden könnten.
Der Verkehrssicherungspflicht der Beklagten stehe nicht entgegen, dass Kinder im Alter der Klägerin regelmäßig ständiger Aufsicht der Eltern bedürfen, damit sie sich nicht Gefahren aussetzten, die sie noch nicht erkennen und beherrschen könnten. Die gebotene elterliche Aufsicht könne nur solche Sicherungsmaßnahmen entbehrlich machen, die von den Eltern unschwer zu beherrschen seien. Auf die von dem Gürtelständer ausgehende Gefahr treffe das nicht zu, weil Eltern nicht damit rechnen müssten, dass eine derartige Ladeneinrichtung bereits bei einem leichten Ziehen ihres Kindes umfalle.
Auch entlaste es die Beklagte nicht, dass sie eine Spielecke für Kinder wie die Klägerin eingerichtet habe. Diese diente nicht dazu, Kinder vom Warenangebot fernzuhalten, sondern sollte den Eltern die Möglichkeit verschaffen, sich verstärkt dem Warenangebot zuzuwenden, sofern es die Umstände des Ladenbesuchs zuließen.
Eine Mithaftung der Eltern der Klägerin komme im vorliegenden Fall nicht in Betracht. Den Eltern sei keine Verletzung ihrer Aufsichtspflicht vorzuwerfen, weil sich die Klägerin auf dem Weg der lediglich ca. 5 m entfernten Spielecke zu den in Sichtweite befindlichen Eltern befunden habe, als sich der Unfall ereignete. Im Übrigen stehe nicht fest, dass die Eltern den Unfall hätten verhindern können, weil bereits ein einmaliges kurzes Ziehen an einem Gürtel des Ständers bei ungünstiger
Ausrichtung der Rollen den Ständer kippen lassen konnte. Ein derartiges kindliches Verhalten lasse sich auch bei ununterbrochener Nähe und Beaufsichtigung durch die Eltern nicht sicher verhindern.