Keine Haftung eines knapp achtjährigen Kindes für Körperschaden durch Wespenabwehr mit einem Messer

OLG Köln, Urteil vom 08.12.1999 – 11 U 233/95

Keine Haftung eines knapp achtjährigen Kindes für Körperschaden durch Wespenabwehr mit einem Messer

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das am 22.06.1995 verkündete Urteil der 8. Zivilkammer des Landgerichts Köln – 8 O 106/94 – wird zurückgewiesen, soweit die vom Landgericht beschiedenen Anträge im Streit sind.

Die Entscheidung über den im Berufungsverfahren gestellten Hilfsantrag und die Kostenentscheidung werden dem Schlussurteil vorbehalten.

Die Entscheidung über den in der Berufungsinstanz gestellten Hilfsantrag wird gemäß § 148 ZPO bis zur rechtskräftigen Entscheidung in dem Verfahren bei dem Sozialgericht Köln S 18 U 22/96 ausgesetzt.

Tatbestand
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Der seinerzeit 6 Jahre alte Kläger wurde am 18.08.1992 durch den 7 Jahre, 8 Monate alten Beklagten am Auge verletzt, als der Beklagte mit der Hand, in der er ein Messer hielt, nach einer Biene oder Wespe stieß. Auf Seiten des Beklagten besteht eine private Haftpflichtversicherung, die ihre Eintrittspflicht unter Hinweis auf die fehlende Haftung des Beklagten abgelehnt hat. Der Kläger hat den Beklagten auf Zahlung von Schmerzensgeld und Feststellung der Schadensersatzpflicht in Anspruch genommen. Das Landgericht hat die Klage durch das angefochtene Urteil abgewiesen, der Senat hat auf die Berufung des Klägers durch Grund- und Teilurteil vom 14.02.1996 (veröffentlicht in NJWE-VHR 1996, 134) den Schmerzensgeldanspruch des Klägers dem Grunde als gerechtfertigt erkannt und der Feststellungsklage stattgegeben. Der Bundesgerichtshof hat auf die Revision des Beklagten dieses Senatsurteil durch Urteil vom 29.04.1997 (VI ZR 110/96 = NJW-RR 1997, 1110 f. = VersR 1997, 834 f.) aufgehoben und die Sache an den Senat zurückverwiesen.

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Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes bis zum Abschluss des Revisionsverfahrens wird auf die genannten Urteile Bezug genommen.

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Der Kläger macht unter Bezugnahme auf die Ausführungen des Revisionsurteils geltend, ein Kind im seinerzeitigen Alter des Beklagten habe die Gefahren seines Handelns voraussehen und sich dementsprechend verhalten können.

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Er stützt den Klageanspruch nunmehr hilfsweise auf § 829 BGB und macht dazu geltend, der Beklagte sei haftpflichtversichert; zudem sei nicht auszuschließen, dass der Beklagte eines Tages in den Besitz erheblicher eigener Mittel kommen werde.

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Der Kläger beantragt,

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unter Abänderung des angefochtenen Urteils des Landgerichts

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1. den Beklagten zur Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes nebst 4% Zinsen seit dem 05.05.1994 zu verurteilen;

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2. festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, ihm, dem Kläger, allen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der ihm aus der Verletzung vom 18.08.1992 noch entstehen wird, soweit der Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen ist;

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3. hilfsweise festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger künftig, wenn und soweit die Billigkeit es erfordert, ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen.

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Der Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen und den Hilfsantrag abzuweisen.

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Er tritt den Ausführungen des Klägers entgegen:

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Wegen der Einzelheiten des Sachvortrages wird auf die Schriftsätze der Parteien Bezug genommen.

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Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens der Sachverständigen Prof. Dr. B. und Dipl.-Psych. Dr. Sch.. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die schriftlichen Gutachten vom 19. und 28.04.1999 (Bl. 380 ff. d.A.) und auf die Sitzungsniederschrift vom 03.11.1999 (Bl. 451 ff. d.A.) betreffend die mündliche Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. B. Bezug genommen.

Entscheidungsgründe
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Die zulässige Berufung hat, soweit sie sich gegen die Abweisung der bei dem Landgericht gestellten Anträge wendet, in der Sache keinen Erfolg. Im übrigen ist das Verfahren auszusetzen.

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I. Das Landgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat gegen den Beklagten derzeit keinen Anspruch auf Schadensersatz.

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1. Ein solcher Anspruch ergibt sich nicht aus § 823 Abs. 1 BGB.

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a) Aufgrund der Feststellungen, die der Senat bereits in seinem ersten Urteil getroffen hat und die auch nach dem jetzigen Sach- und Streitstand gerechtfertigt sind, wurde der Kläger allerdings durch eine Handlung des Beklagten an seiner Gesundheit verletzt. Insoweit hat die weitere Beweiserhebung keine zusätzlichen Erkenntnisse erbracht.

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b) Das Gleiche gilt für die individuelle Deliktsfähigkeit des Beklagten im Sinne des § 828 Abs. 2 BGB, die auch aufgrund der ergänzenden Beweiserhebung zu bejahen ist.

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c) Der Senat kann indes nicht feststellen, dass der Beklagte fahrlässig im Sinne des § 276 Abs. 1 Satz 2 BGB gehandelt hat; dem Kläger ist der von ihm zu führende Beweis für ein fahrlässiges Verhalten des Beklagten nicht gelungen. Ausgehend von dem Revisionsurteil hatte der Senat insoweit zu klären, ob ein normal entwickeltes Kind im Alter des Schädigers hätte voraussehen können und müssen, die Abwehr einer Wespe mit dem Messer in der Hand könne eine neben ihm stehende Person verletzen, und ob von ihm bei Erkenntnis der Gefährlichkeit seines Handelns in der konkreten Situation die Fähigkeit erwartet werden konnte, sich dieser Erkenntnis gemäß zu verhalten, oder ob ein Mangel an Verstandesreife Kinder dieser Altersgruppe daran hindert.

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(1) Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist der Senat überzeugt, dass ein Kind im damaligen Alter des Beklagten die Gefährlichkeit der Abwehrbewegung mit einem Messer zwar zu erkennen vermag, dass es aber unter Umständen, deren Vorliegen im Streitfall nicht ausgeschlossen werden kann, nicht in der Lage ist, sich dieser Einsicht gemäß zu verhalten. Der Sachverständige Prof. Dr. B. hat die in dem Revisionsurteil angesprochenen sich aus der Lebenserfahrung ergebenden Zweifel (vgl. dazu auch schon BGH VersR 1970, 374, 375; Nichtannahmebeschluss vom 30.04.1991 – VI ZR 208/90 – zitiert bei Scheffen, ZRP 1991, 458, 462), die der Senat in der jetzigen Besetzung teilt, bestätigt.

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Der Sachverständige hat überzeugend ausgeführt, es entspreche dem normalen biologischen Verhalten, dass siebendreivierteljährige Kinder unter Stress die Fähigkeit zu rationalem und logischem Verhalten einbüßen (vgl. auch Gutachten Sch. S. 25 f., 27 f. = Bl. 407 f., 409 f. d.A.). Die Fähigkeit zu kontrollierter Handlungsweise sei bei Kindern dieses Alters oft nicht so eingeübt, dass Verluste der Kontrolle unter Stress kaum eintreten könnten. Solche Kinder gerieten dann auf das Verhaltensniveau einer Altersgruppe, die die Bedeutung des Handelns noch nicht richtig einzuschätzen gelernt habe. Sie könnten in dieser Lernphase konkrete logische Handlungen verstehen und ausführen, jedoch fielen sie unter Stress in vorlogisches Denken zurück. Beim Auftauchen der Wespe oder Biene habe der Beklagte in eine Stresssituation geraten können, die es ihm schwer gemacht habe, die Dinge unter die Kontrolle des Verstandes zu bringen. Unter den gegebenen Umständen sei es eine ganz natürliche biologische Sache, dass der Beklagte aus Verängstigung so gehandelt habe, wie es geschehen sei.

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Der Beklagte hat geltend gemacht, die Handbewegung sei aus Schreck, Angst und Panik beim Auftauchen des Insekts erfolgt. Dies liegt nahe, ist jedenfalls nicht zu widerlegen. Den Zeugenaussagen kann lediglich entnommen werden, dass der Beklagte die Handbewegung gezielt in Richtung auf das Insekt gemacht hat (dazu noch unten (2)); zu den psychischen Abläufen, die den Beklagten zu seiner Handbewegung veranlasst haben, lässt sich den Zeugenaussagen (naturgemäß) nichts entnehmen. Mehr als eine Abwehrbewegung kann auch der Aussage der Zeugin J.R., die den Vorfall am präzisesten geschildert hat, nicht entnommen werden; die Zeugin hat ausdrücklich bekundet, der Beklagte sei dem Insekt nicht etwa hinterhergelaufen, er sei vielmehr stehengeblieben und habe nach dem Insekt gestochen. Aus der – von dem Kläger jedenfalls teilweise bestrittenen – Darstellung, die der Beklagte bei seiner Exploration zu dem Unfallgeschehen gegeben hat (Gutachten Sch. S. 38 ff. = Bl. 420 ff. d.A.), ergibt sich nichts anderes. Danach will der Beklagte, als er das Insekt bemerkte, dem Kläger warnend zugerufen haben: „Pass auf, eine Biene“; gleichzeitig will er, um das Insekt zu verscheuchen, die Handbewegung gemacht, aber vergessen haben, das Messer hinzulegen. Der Darstellung des Beklagten kann danach nicht mehr entnommen werden, als dass er gleichzeitig mit der erkannten Gefahrensituation, der er durch Verscheuchen des Insekts begegnen wollte, ohne weiteres Nachdenken die Handbewegung ausführte, also gerade so reagierte, wie es der Sachverständige Prof. Dr. B. als „natürliche“ Stressreaktion beschrieben hat. Der sieben Jahre nach dem Geschehen gegenüber dem Sachverständigen geäußerten Auffassung des Beklagten, er sei „eigentlich ganz ruhig gewesen“, ist angesichts des geschilderten Geschehensablaufs keine Bedeutung beizumessen.

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(2) Zu zusätzlicher Beweiserhebung über den Ablauf des Unfallgeschehens besteht entgegen der Ansicht des Sachverständigen Sch. und des Klägers kein Anlass. Der Senat geht von dem jetzt vom Kläger unter Beweis gestellten Sachverhalt aus, dass nämlich der Beklagte „gezielt“ nach dem Insekt gestochen hat. Diese Annahme liegt bereits dem vom Revisionsgericht aufgehobenen Senatsurteil zugrunde (Umdruck S. 10). Der Beklagte hat bei seiner Exploration durch den Sachverständigen Sch. auch angegeben, eine Handbewegung in Richtung auf die Biene oder Wespe gemacht zu haben, um sie zu verscheuchen (Gutachten S. 39 f. = Bl. 421 f. d.A.). Dies besagt indes noch nichts darüber, ob ein Verschulden des Beklagten zu bejahen ist; auch eine solch gezielte Bewegung kann auf der oben beschriebenen altersspezifisch unzureichenden Steuerungsfähigkeit beruhen.

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Die jetzt vom Kläger aufgestellte Behauptung, der Beklagte habe überhaupt nicht neben ihm gestanden, ist durch die Aussage der dazu benannten, bereits vernommenen Zeugin J.R. (Bl. 110 d.A.) bereits widerlegt. Die Zeugin hat klar und eindeutig bekundet, der Kläger habe neben dem Beklagten gestanden, als es zu der Verletzungshandlung kam. Dass die zur Zeit des Unfalls etwa sieben Jahre alte Zeugin eine dem entgegenstehende überzeugende Aussage machen kann, nachdem seit dem Unfallgeschehen mehr als sieben Jahre und seit der ersten Aussage mehr als vier Jahre vergangen sind, ist zudem ausgeschlossen. Aus den Angaben des Beklagten anlässlich seiner Exploration ergibt sich auch nichts anderes. Auch danach haben die Kinder in unmittelbarer räumlicher Nähe, also „nebeneinander“ gestanden (Gutachten Sch. S. 39 f. = Bl. 421 d.A.). Anders ist der Unfall auch nicht erklärbar.

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Eine weitergehende Aufklärung des Geschehens, insbesondere zu den psychischen Abläufen, die den Beklagten zu der Abwehrbewegung veranlasst haben, ist nicht unter Angabe konkreter Beweismittel beantragt und bei der gegebenen Sachlage auch nicht möglich.

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2. Ein Anspruch aus § 829 BGB steht dem Kläger gegen den Beklagten derzeit nicht zu.

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Dabei geht der Senat davon aus, dass die Billigkeitshaftung nach der genannten Vorschrift auch dann in Betracht kommt, wenn die Haftung nach § 823 BGB nicht aufgrund der §§ 827, 828 BGB, sondern – wie hier – wegen fehlender Gruppenfahrlässigkeit verneint wird (vgl. BGHZ 39, 281, 285 ff.). Ferner geht der Senat davon aus, dass bei Anwendung des § 829 BGB auch ein Schmerzensgeld gewährt werden kann (vgl. BGHZ 76, 279, 282). Es sind aber nicht ausreichend Umstände vorgetragen, die bei der gebotenen umfassenden Abwägung derzeit einen Billigkeitsausgleich als geboten erscheinen lassen.

29
a) Dass der Beklagte über nennenswerte eigene Mittel verfügt, die es ihm gestatten würden, an den Kläger Zahlungen zu leisten, trägt der Kläger nicht vor. Auch dafür, dass die Eltern des Beklagten über nennenswerte Mittel verfügen, fehlt jeder Vortrag und ist auch nichts ersichtlich (die sorgeberechtigte Mutter des Beklagten ist Verkäuferin, vgl. Bl. 112, 418 f. d.A.). Die von dem Kläger geäußerte bloße Hoffnung, der Beklagte werde irgendwann in den Besitz erheblicher eigener Mittel kommen, rechtfertigt die Haftung des Beklagten derzeit nicht (vgl. aber unten II).

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b) Das Bestehen einer privaten Haftpflichtversicherung, die gegebenenfalls für den Beklagten eintreten müsste, kann nicht zugunsten des Klägers berücksichtigt werden. Besteht eine Haftung des Schädigers, für die die freiwillige Haftpflichtversicherung eintrittspflichtig wäre, nicht, so kann das Bestehen der Haftpflichtversicherung die Haftungsgrundlage nicht erst schaffen (BGHZ 76, 279, 285 f.; 127, 186, 190 f. – ausdrücklich abweichend nur für den Fall des Bestehens einer Pflichtversicherung -; OLG Köln VersR 1981, 266, 267; Staudinger / Oechsler, 13.Aufl., § 829 Rn. 51 f.). Der abweichenden Ansicht (vgl. die Nachweise bei Staudinger / Oechsler a.a.O. Rn. 45 ff.) folgt der Senat nicht. Sie wird dem Zweck privater Haftpflichtversicherungen nicht gerecht und führt zu einer vom Gesetz nicht vorgesehenen Ausdehnung der Billigkeitshaftung.

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3. Hinsichtlich des Leistungsantrags und des bereits in erster Instanz gestellten Hilfsantrags ist die Klage mithin zu Recht abgewiesen worden, die Berufung des Klägers ist also zurückzuweisen.

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II. Hinsichtlich des in der Berufungsinstanz gestellten, auf die künftige Haftung nach § 829 BGB bezogenen Hilfsantrags ist die Sache nicht entscheidungsreif. Der Antrag kann in der gestellten allgemein gehaltenen Form zulässig und begründet sein (vgl. BGH NJW 1958, 1630, 1632; 1962, 2201, 2202; OLG Köln VersR 1981, 266; enger wohl Staudinger / Oechsler a.a.O. Rn. 72). Zwar ist es angesichts der bisherigen schulischen Entwicklung des Beklagten (vgl. Gutachten Sch., Seite 34 f. = Bl. 416 f. d.A.) nicht sehr wahrscheinlich, dass er in Zukunft über erhebliche finanzielle Mittel verfügen wird. Auszuschließen ist dies aber nicht, zumal der Beklagte erst 15 Jahre alt ist und zahlreiche Entwicklungsmöglichkeiten denkbar sind. Die objektive Verletzungshandlung des Beklagten steht fest. Angesichts der erheblichen Verletzung, die der Kläger erlitten hat, kann die Billigkeitshaftung, soweit in Zukunft das erforderliche Vermögensgefälle eintreten wird, auch gerechtfertigt sein. Auch die Billigkeitshaftung setzt indes voraus, dass die Haftung des Beklagten nicht gemäß den §§ 636, 637 RVO ausgeschlossen ist. Ob ein Arbeitsunfall vorliegt, ist in dem anhängigen Verfahren vor dem Sozialgericht zu klären, an dessen Entscheidung der Senat gemäß

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§ 638 RVO gebunden sein wird. Im Hinblick darauf setzt der Senat die Entscheidung des Rechtsstreits insoweit bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Sozialgerichts gemäß § 148 ZPO aus (vgl. auch die Ausführungen in dem Revisionsurteil unter II 4); insoweit wird durch Schlussurteil zu entscheiden sein.

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Die Kostenentscheidung ist ebenfalls dem Schlussurteil vorzubehalten. Eine Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ist nicht erforderlich, da das Urteil keinen vollstreckungsfähigen Inhalt hat.

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Beschwer des Klägers: 120.000 DM

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