LG Tübingen, Beschluss vom 29. August 2019 – 5 T 192/19
Auch die Vollstreckung von Rundfunkbeitragsbescheiden setzt deren Zustellung voraus
Tenor
Auf die Beschwerde des Schuldners wird der Beschluss des Amtsgerichts Bad Urach vom 26.8.2019 aufgehoben und die Zwangsvollstreckung aus dem Vollstreckungsersuchen des Gläubigers vom 3.5.2019 eingestellt. Der Gläubiger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
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1. Die zulässige, insbesondere form- und fristgerechte Beschwerde ist begründet.
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2. Auch die Vollstreckung von – nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 18.7.2018 und des Europäischen Gerichtshofs vom 13.12.2018 nicht mit Grundgesetz oder Europarecht kollidierenden – Rundfunkbeiträgen setzt Titel, Klausel und Zustellung (des Titels) voraus. Für jede nach der Zivilprozessordnung vorzunehmende Zwangsvollstreckung gilt: Die Zwangsvollstreckung darf nur beginnen, wenn der Titel bereits zugestellt ist (§ 750 I 1 ZPO). Nachgewiesen wird dies durch eine Zustellungsurkunde, ein Empfangsbekenntnis oder bei der Amtszustellung durch eine Bescheinigung der Geschäftsstelle des Gerichts bzw durch einen amtlichen Zustellungsvermerk auf dem Titel (z. B. für das ZVG Böttcher/Böttcher, 6. Aufl. 2016, ZVG § 16 Rn. 54b).
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3. § 750 ZPO macht den Beginn der Zwangsvollstreckung von besonderen förmlichen Voraussetzungen (namentliche Bezeichnung der Vollstreckungsparteien; Zustellung des Schuldtitels und bestimmter Urkunden) abhängig (MüKoZPO/Heßler, 5. Aufl. 2016, ZPO § 750 Rn. 1, 2). Die Zustellung des Vollstreckungstitels (Abs. 1 S. 1 Alt. 2), in den Fällen der titelergänzenden oder -übertragenden Vollstreckungsklausel auch die Zustellung dieser Klausel und ggf. der zum Nachweis gebrauchten Urkunden (§ 750 Abs. 2), gewährleistet, dass sich der Schuldner an Hand der ihm zugestellten Urkunden zuverlässig über die Umstände der bevorstehenden Zwangsvollstreckung informieren kann. Die Zustellung dient der Verwirklichung des rechtlichen Gehörs in der Zwangsvollstreckung. Daneben stellt die Zustellung des Schuldtitels eine „letzte Warnung“ an den Schuldner dar. (MüKoZPO/Heßler, 5. Aufl. 2016, ZPO § 750 Rn. 9, 10).
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4. Die drei grundlegenden Vollstreckungsvoraussetzungen (§ 750 ZPO) und deren Vorliegen haben Vollstreckungsgericht und Beschwerdegericht von Amts wegen zu prüfen: Titel, Klausel und Zustellung. Der Gläubiger hat alle drei Voraussetzungen vorzutragen und nachzuweisen. Fehlt eine der drei Voraussetzungen, ist die Zwangsvollstreckung unzulässig und einzustellen.
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5. Für die Verwaltungsvollstreckung in Baden-Württemberg wird das ZPO-Regelwerk zunächst komplett übernommen. § 15 a II LVwVG nimmt ausdrücklich auf das komplette 8. Buch der ZPO Bezug. Der Landesgesetzgeber wollte mit dem Landesverwaltungsvollstreckungsgesetz ausweislich der Gesetzesbegründungen, zuletzt anlässlich einer Gesetzesänderung 2012 bestätigt, den „bewährten Gleichlauf“ zwischen Zivilvollstreckung und Verwaltungsvollstreckung erhalten (LT BW Drucksache 15/2404, u.a. dort S. 2). Dem Verwaltungsakt als Grundlage der Vollstreckung kommt somit im Verwaltungsvollstreckungsrecht eine ähnliche Rolle zu wie dem Vollstreckungstitel bei der zivilprozessualen Zwangsvollstreckung (LT BW Drucksache 6/2990 S. 16)
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6. Gemäß § 15 a LVwVG tritt das (nicht gesondert/zusätzlich zuzustellende) behördliche Vollstreckungsersuchen an die Stelle der Klausel bzw. vollstreckbaren Ausfertigung, gemäß § 16 LVwVG tritt der schriftliche Antrag auf Vermögensauskunft in diesem Verfahren an die Stelle des Vollstreckungstitels. Danach muss also der Titel weiterhin existieren und zugestellt sein, lediglich die Vorlage des Titels ist entbehrlich, der Antrag reicht. Eine Befreiung von der Zustellung des Titels (Verwaltungsakt, § 13 LVwVG, in Form des Beitragsbescheids oder Rückstandsbescheids) selbst ist gesetzlich nicht vorgesehen; weder ein Anscheinsbeweis noch die sonstige Kenntnis des Schuldners lässt die Notwendigkeit einer Zustellung oder förmlichen Bekanntgabe entfallen. Verwaltungsakte können nach § 2 LVwVG zudem (erst) vollstreckt werden, wenn sie unanfechtbar geworden sind oder die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs entfällt, was wiederum förmliche Bekanntgabe voraussetzt. Letztere ist gem. §2 LVwVfG nicht durch die von der Gläubigerin so gehandhabte einfache Aufgabe zur Post möglich.
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7. Auf die Zustellung verzichtet auch der BGH in seinem obiter dictum nicht; insoweit macht er – entgegen BFH und VGH Mannheim – mit Beweisregeln (Anscheinsbeweis, vgl. dazu LG Tübingen, B v. 20.12.2018, 5 T 246/17 – juris – m.w.Nw.) Das Landessozialgericht hat erst unlängst die Betrachtungsweise des BGH und des Landgerichts gegenübergestellt und ausgeführt, dass bei Entfall der Prüfung der Zustellung des Titels, also der Prüfung dessen formal wirksamer Existenz (ohne Inhaltsprüfung) mit dem Grundgesetz nicht vereinbare rechtsstaatliche Defizite eintreten würden (vgl. LSG BW, B. v. 17.7.2019, L 11 KR 1393/19 ER-B – juris).
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8. Verzichtet die Behörde bewusst und regelmäßig auf Zustellung und/oder förmliche Bekanntgabe und ist dieser ständige, bewusste Verzicht gerichtsbekannt, ist auch für eine Heilung kein Raum. Das Vollstreckungsgericht kann auch im Rahmen seiner nur beschränkten Prüfungsmöglichkeiten in Vollstreckungsverfahren bei dieser Sach- und Kenntnislage nicht sehenden Auges über das Fehlen der Zustellung hinwegsehen. Handelt es sich beim Rückstandsbescheid um den ersten Verwaltungsakt, können i.ü. gemäß § 13 LVwVG keine Säumniszuschläge mitvollstreckt werden, ebenso wenig mehrfache Säumniszuschläge infolge Aufteilung eines rückständigen Zeitraums auf mehrere Bescheide oder auch eine Mahngebühr. Dem Bescheid voraus gehen nämlich gerichtsbekannt unverändert nur inhaltarme Schreiben mit einer Zahlungsaufforderung, in denen weder eine rechtsfähige Person als Absender angegeben ist noch ein Gläubiger. Dem Empfänger obliegt es, den Gläubiger zu erraten. Die angefochtene Entscheidung war daher mangels Zustellung aufzuheben, das Vollstreckungsverfahren einzustellen.
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9. Der Einzelrichter ist zuständig. Das entscheidende Merkmal der Zustellung, an dessen Fehlen als Vollstreckungsvoraussetzung die Entscheidung anknüpft, beinhaltet als Basismerkmal einer jeden Vollstreckung keine besonderen Schwierigkeiten oder Veranlassung zu Grundsatzentscheidungen. Auch der streitgegenständliche Forderungsbetrag begründet keine Kammerzuständigkeit; vergleichbare Fälle werden in ständiger Rechtsprechung nicht nur des Landgerichts Tübingen (vgl. für andere Einzelrichterreferate B. v. 13.9.2018, 5 T 239/18, oder 5 T 85/17, B. v. 9.8.2018, B. v. 17.1.2019 – 5 T 10/19) vom Einzelrichter entschieden. Schließlich bedarf es für die entscheidungserhebliche Frage nach der Zustellung auch keiner Divergenzentscheidung, da obergerichtliche Entscheidungen derzeit nicht entgegenstehen. Der Bundesgerichtshof (BGH) äußerte sich in seiner Entscheidung vom 27.4.2017 (BGH I ZB 91/16 – B. v. 27.4.2017), zunächst aus prozessualen Gründen nur am Rande und „obiter dictum“: Er verneinte in Übereinstimmung mit dem Landesverwaltungsvollstreckungsgesetz eine gesonderte Zustellungspflicht für das Vollstreckungsersuchen. Dies hat der 1. Senat später so auch in der Sache selbst bestätigt (BGH I ZB 78/16 – B. v. 5.10.2017, vorgehend LG Stuttgart, 4.8.2016, 10 T 337/16). Das Landgericht Tübingen teilt diese Ansicht. Auf die grundlegende Zustellung des Titels als Basisvoraussetzung jeder Zwangsvollstreckung ging der BGH – wie ausgeführt – nur obiter dictum und entgegen dem BFH (ohne bei tragender Begründung notwendiger Anrufung des gemeinsamen Senats) ein. Der Einzelrichter sieht die Verneinung des Anscheinsbeweises nach entsprechenden Urteilen des VGH und des BFH als derzeit entschieden an und schließt sich – insoweit lediglich einem obiter dictum des BGH nicht folgend – diesen Entscheidungen an. Danach ist der Einzelrichter zuständig, in Übereinstimmung mit zahlreichen anderen landgerichtlichen und verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen (z. B. Verwaltungsgericht des Saarlandes, Urteil vom 12. September 2018 – 6 K 1296/17 –, juris; Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 23. Juli 2018 – 4 B 39/18 –, juris; VG Würzburg, Urteil vom 21. Juni 2018 – W 3 K 17.34 –, juris; Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12. Januar 2018 – OVG 11 N 119.17 –, juris, das auf die vom BGH – BGH, Beschluss vom 14. Juni 2017 – I ZB 87/16 –, juris, – nicht ausgeführte Bindung des Rechtsmittelgerichts diesbezüglich hinweist; VG München, Beschluss vom 19. Februar 2016 – M 6 K 16.763 –, juris).
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10. Aus den vorgenannten Gründen konnte auch die weitere Beschwerde nicht zugelassen werden.