Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 29.02.2012 – L 2 U 196/11
Keine Anerkennung eines Arbeitsunfalls, wenn bei dem Geschädigte eine Prädisposition für die eingetretene Verletzung nachgewiesen ist (Rn. 20).
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 05.04.2011 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Streitig ist die Anerkennung des Ereignisses vom 20.03.2008 als Arbeitsunfall.
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Der 1975 geborene Kläger war als biologisch-technischer Assistent bei der T.U. A-Stadt angestellt. Am 20.03.2008 stolperte er im Labor über einen Papierrollenhalter. Laut Unfallanzeige versuchte er den Sturz abzufangen, wobei das linke Bein nach außen verdreht wurde. Der Kläger zog sich eine Patellaluxation sowie den Verdacht auf eine osteochondrale Absprengung zu. Am gleichen Tag wurde eine Kernspintomographie durchgeführt, bei der ein massiver Gelenkerguss und eine kleine Baker-Zyste festgestellt wurden. Es bestehe ein Zustand nach Patellaluxation bei deutlicher Dysplasie der Kniescheibe und des Gleitlagers.
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Die Beklagte zog Unterlagen eines Schulunfalls vom 19.09.1994 bei, in dem ebenfalls das linke Kniegelenk betroffen war. Am 15.07.2008 wurde eine weitere Kernspintomographie zur Kontrolle durchgeführt.
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Im Auftrag der Beklagten erstattete der Chirurg Dr. H., V., am 12.09.2008 ein Gutachten zur Zusammenhangsfrage. Er kam zum Ergebnis, dass der angegebene Unfallmechanismus vom 20.03.2008 dem Tatbestand einer Gelegenheitsursache entspreche. Es sei anzunehmen, dass eine entsprechende Ausrenkung der Patella auch ohne jede äußere Einwirkung bzw. ohne das angeschuldigte Ereignis durch eine normale Verrichtung des täglichen Lebens ebenfalls eingetreten wäre. Unter Berücksichtigung des Unfallmechanismus sei zu erwarten, dass eine Patellaluxation bereits beim Hängenbleiben mit dem Fuß erfolgte. Hier sei ursächlich die vorbestehende Dysplasie der Patella und des Gleitlagers sowie das vorbestehende Gonus valgum anzunehmen. Beim Führen des Beines nach vorne sei eine spontane Reposition erfolgt.
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Mit Bescheid vom 24.10.2008 lehnte die Beklagte daraufhin die Anerkennung eines Arbeitsunfalls ab. Der angeschuldigte Vorgang vom 20.03.2008 stelle nicht die Ursache für die Beschwerden des linken Kniegelenks dar, sondern allenfalls eine rechtlich unwesentliche Teilursache (sog. Gelegenheitsursache) für das Erkennbarwerden einer Krankheitsanlage, die so leicht ansprechbar war, dass jedes alltäglich vorkommende, ähnlich gelagerte Ereignis in absehbarer Zeit die Beschwerden ausgelöst hätte.
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Der hiergegen eingelegte Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 15.04.2009).
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Hiergegen legte der Kläger am 05.05.2009 Klage beim Sozialgericht Landshut (SG) ein. Das Gericht holte Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers sowie zahlreiche radiologische Befunde ein. Es ernannte den Unfallchirurgen Dr. C. zum ärztlichen Sachverständigen. Gegenüber dem Sachverständigen schilderte der Kläger den Unfallhergang wie folgt: Er habe sich mit dem linken Fuß im Gestänge des Handtuchhalters verheddert, sei gestolpert und drohte zu stürzen. Deshalb habe er versucht, mit dem linken Bein seinen Körper auszutarieren und habe einen Ausfallschritt mit dem linken Bein gemacht. Dabei habe er das linke Bein etwas verdreht, wobei er nicht sagen könne, in welche Richtung. Er sei nicht zu Boden gestürzt. Nach dem Ausfallschritt mit dem linken Bein habe er sofort einen stechenden Schmerz im linken Kniegelenk verspürt. Dr. M. führte aus, dass bezüglich der Zusammenhangsfrage zwischen dem Ereignis vom 20.03.2008 und der Patellasubluxation mit spontaner Reposition links mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen sei, dass es sich um eine sog. habituelle Patellaluxation gehandelt habe. Von der Beschreibung des Unfallmechanismus her müsse man mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass ein Ausfallschritt im Rahmen eines versehentlichen Stolperns keinen Unfallmechanismus darstelle, der mit genügender Wahrscheinlichkeit zu einer Kniescheibenluxation ohne vorbestehende prädisponierende anatomische Faktoren führen könnte. Zumindest drei Faktoren seien beim Kläger relativ ausgeprägt, nämlich die Abflachung der Gleitrinne der Kniescheibenoberschenkelknochen, die Fehlbildung der Kniescheibe und auch ein deutlicher Kniescheibenhochstand.
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Auf Antrag des Klägers erstellte der Orthopäde Dr. L. am 12.02.2011 ein weiteres Gutachten. Ihm gegenüber schilderte der Kläger den Unfallhergang wie folgt: Er habe das linke Bein unter den Papierrollenhalter geschoben und sei in einer verdrehten Fußstellung am Fuß des Papierrollenhalters hängen geblieben, wobei das Knie verdreht wurde. Im Augenblick der Vorwärtsbeugung sei sowohl das Knie leicht gebeugt als auch verdreht gewesen. Er habe, um sich befreien zu können, dann das linke Bein aus dieser misslichen Lage herausgezogen und auch belastet. Er konnte nicht mit Sicherheit angeben, ob der Fuß mitsamt des Unterschenkels bei dem entscheidenden Vorgang in Innen- oder in Außenrotation gestanden habe. Dr. L. kam zum Ergebnis, dass das Unfallereignis die Bedingungen erfülle, die gegeben sein müssten, bei einem gesunden Kniegelenk eine Patellaluxation herbeizuführen. Die MdE schätzte er auf unter 10 v. H.
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Mit Urteil vom 05.04.2011 wies das Sozialgericht die Klage ab. Es hat sich im Wesentlichen auf das Gutachten des Dr. C. vom 04.11.2010 gestützt.
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Hiergegen hat der Kläger am 04.05.2011 Berufung eingelegt. Er hat sich vor allem auf das Gutachten des Dr. L. berufen. Dieser habe den Unfallhergang zutreffend aufgenommen.
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Im Auftrag des Senats hat der Sachverständige Dr. C. am 04.10.2011 eine ergänzende Stellungnahme abgegeben. Er habe den Kläger im Rahmen der Begutachtung am 04.11.2010 ausführlich bezüglich des Unfallhergangs befragt. Dieser habe angegeben, dass er sich mit dem linken Fuß im Gestänge eines Handtuchhalters verheddert habe, gestolpert sei und zu stürzen drohte. Um den Sturz zu vermeiden, habe einen Ausfallschritt mit dem linken Bein gemacht. Nach seiner Erinnerung habe er sich dann das linke Bein etwas verdreht, wobei er nicht sagen konnte, in welche Richtung. Anschließend habe er einen stechenden Schmerz im linken Kniegelenk gespürt. Eine manifeste Patellaluxation sei nirgendwo dokumentiert. Ganz offensichtlich sei es also zu einer spontanen Reposition der Patella gekommen, wie es eigentlich für eine habituelle Patellaluxation typisch sei. Traumatische Patellaluxationen seien nach der Literatur sehr selten. Ein geeigneter Unfallmechanismus, der eine maximale Muskelanspannung im linken Bein voraussetze, sei vom Kläger nicht geschildert worden.
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Der Kläger beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 05.04.2011 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24.10.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.04.2009 aufzuheben und festzustellen, dass das Ereignis vom 20.03.2008 ein Arbeitsunfall ist.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet. Die Beklagte hat zu Recht das Vorliegen eines Arbeitsunfalls abgelehnt. Da der Senat die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurückweist, wird gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf eine weitere Darstellung der Entscheidungsgründe verzichtet.
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Die Anfechtungs- und Feststellungsklage ist gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zulässig (BSG vom 27.04.2010, Az.: B 2 U 23/09 R).
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Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass der Sachverständige Dr. C. im Hinblick auf das Gutachten des Dr. L. mit einer ergänzenden Stellungnahme beauftragt wurde. Er blieb bei dem von ihm in seinem Gutachten begründeten Ergebnis. Dr. L. hat seine entgegengesetzte Meinung im Wesentlichen auf den Unfallmechanismus gestützt. Dr. C. aber weist zu Recht darauf hin, dass sich ein Verletzter zwei Jahre nach dem Unfall (inzwischen fast vier Jahre) regelmäßig nicht mehr genau erinnern kann, ob der Unterschenkel im Rahmen des Unfallereignisses nach innen gedreht war oder nach außen gedreht bei gleichzeitiger Innen- oder Außenrotation des Oberschenkels. Allerdings spricht laut Dr. C. nur eine geringe Wahrscheinlichkeit dafür, dass bei dem vorliegenden Unfallereignis tatsächlich eine maximale Muskelanspannung des linken Beines gegen Widerstand stattgefunden hat, die in der Lage gewesen wäre, eine traumatische Patellaluxation auszulösen. Denn zum einen gibt es mehrere zeitnahe Unfallschilderungen, die weitgehend gleichlautend sind und die Unfallbedingtheit der Patellaluxation ausschließen. Erst die gegenüber dem Sachverständigen Dr. L. dargestellte Variante wäre geeignet, die Patellaluxation als Gesundheitsschaden des Ereignisses vom 20.03.2008 anzusehen. Allerdings ist diese neue Variante insbesondere im Hinblick auf die früheren Unfall-Schilderungen wenig überzeugend.
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Selbst wenn man aber mit dem Sachverständigen Dr. L. einen geeigneten Unfallmechanismus unterstellte, führte dies nicht zu einer positiven Entscheidung für den Kläger. Denn beim Kläger ist die habituelle Anlage zu einer Patellaluxation nachgewiesen. Der Sachverständige Dr. C. hat hierfür in seinem Gutachten vom 04.11.2010 die Kriterien überzeugend herausgearbeitet. Ob beim Kläger vor dem streitgegenständlichen Unfall spontane Subluxationen mit spontaner Reposition stattgefunden haben, ohne dass er dies bemerkt hat, ist möglich, aber nicht entscheidungserheblich. Deshalb greift auch nicht das Argument des Sachverständigen Dr. L., wenn er behauptet, dass die vor dem Unfall betriebene sportliche Betätigung des Klägers mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer manifesten Patellaluxation vor dem Unfall hätte führen müssen.
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Auch die sofort auftretende Schmerzhaftigkeit und die Bewegungseinschränkung sowie der blutige Erguss sind kein entscheidendes Argument für eine unfallbedingte Patellaluxation, da dies auch bei habituellen Patellaluxationen vorkommen kann.
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Allerdings relativiert Dr. L. sein eigenes Gutachten, da eine absolute Notwendigkeit der operativen Behandlung zulasten des Unfallversicherungsträgers nach seinem Dafürhalten nicht bestanden hat. Schlussendlich kommt er zum gleichen Ergebnis wie Dr. C. in seinem Gutachten, indem er bestätigt, dass sich die jetzt vom Kläger geklagten Beschwerden von Seiten des linken Kniegelenks sicher nicht auf die einmalig stattgefundene Patellaluxation und den darauf folgenden Bluterguss, sondern auf den postoperativen Zustand und durch die anlagemäßigen Veränderungen des Kniegelenks hervorgerufenen Faktoren beziehen. Diese unfallunabhängigen Faktoren hat er aber in seinem Gutachten im Gegensatz zu den Sachverständigen Dr. H. und Dr. C. nicht ausreichend berücksichtigt.
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Im Ergebnis ist daher Dr. C. zu folgen. Beim Kläger sind Faktoren vorhanden, die eine habituelle Patellaluxation prädisponieren. Hierfür sprechen auch die bildgebenden Befunde, insbesondere der kernspintomographische Befund des linken Kniegelenks vom Juli 1994, als der Kläger seinen Schulunfall hatte.
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Die Berufung war deshalb zurückzuweisen.
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Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG.
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Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.