LG Mühlhausen, Urteil vom 07.08.2013 – 3 O 687/12
Die einen Busfahrer betreffenden Pflichten umfassen regelmäßig nicht die Beobachtung der Fahrgäste. Diese sind vielmehr zunächst grundsätzlich selbst dafür verantwortlich, dass sie innerhalb des Fahrzeuges nicht zu Fall kommen. Insoweit darf der Busfahrer darauf vertrauen, dass ein Fahrgast seiner Verpflichtung nach kommt, sich stets einen festen Halt zu verschaffen. Nur ausnahmsweise muss sich der Fahrer vergewissern, ob der Fahrgast einen Platz oder Halt im Fahrzeug gefunden hat, nämlich etwa dann, wenn eine erkennbare schwere Behinderung des Fahrgastes ihm die Überlegung aufdrängt, dass dieser ohne besondere Rücksichtnahme gefährdet sei (Rn. 23)
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Klägerin bleibt nachgelassen die Vollstreckung durch die Beklagten gegen Sicherheitsleistung von 1.400,00 EUR abzuwenden, falls nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in entsprechender Höhe leisten.
Tatbestand
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Die Klägerin nimmt die Beklagten aus einem Unfallereignis auf Schadensersatz in Anspruch. Darüber hinaus begehrt sie Ersatz der ihr entstandenen außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten sowie die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zu hälftigen Ersatz ihrer künftigen unfallbedingt entstehenden Schäden.
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Der Unfall ereignete sich am 26.10.2010 im Linienbus der Beklagten zu 2 mit dem amtlichen Kennzeichen … auf der Fahrt von Heiligenstadt nach Lutter. Der Bus wurde Gefahren von dem Beklagten zu 3 und war zum Unfallzeitpunkt bei der Beklagten zu 1 versichert.
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Gegen 12:15 Uhr bestieg die damals 74-jährige Klägerin mit zwei Einkaufstaschen am alten Busbahnhof in Heiligenstadt den Linienbus der Beklagten zu 2 durch die vordere Tür und löste beim Fahrer des Busses einen Fahrschein. Im Anschluss begab sich in den hinteren Teil des Busses, wobei sie zu diesem Zeitpunkt der einzige Fahrgast im Fahrzeug war. Als der Bus anfuhr, kam die Klägerin zu Fall und stürzte in den hinteren Ausstieg. Die hierbei von der Klägerin erlitten Verletzungen sowie der Hergang des Unfallereignisses im Einzelnen sind zwischen den Parteien umstritten.
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Die Klägerin beziffert den ihr aufgrund des Unfalls entstandenen Schaden einschließlich des Schmerzensgeldes auf 10.258,65 EUR, den sie unter Ansatz eines Eigenverschuldens zur Hälfte von den Beklagten als Gesamtschuldner ersetzt verlangt. Hinsichtlich des Schmerzensgeldes hält sie aufgrund der erlitten Verletzungen einen Betrag in Höhe von 8.000,00 EUR für angemessen.
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Wegen der Darstellung der Schäden im Einzelnen wird Bezug genommen auf den Vortrag der Klägerin in der Klageschrift.
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Die Klägerin behauptet,
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sie sei durch Osteoporose in beiden Füßen stark gehbehindert und erkennbar nicht standsicher. Der Beklagte zu 3 habe sie beim Einsteigen auch als eine gebrechliche, schwer behinderte Person wahrgenommen. Als sie im hinteren Teil des Busses angekommen sei, habe sie ihre mitgeführten Taschen auf die letzte Sitzreihe gelegt und gerade ihren Fahrschein in der Manteltaschen verstauen wollen, als der Bus plötzlich mit einem starken Ruck angefahren sei. Hierbei habe der Beklagte zu 3 nicht darauf geachtet, dass sie sich noch nicht hingesetzt hatte, sodass sie zu Fall gekommen sei.
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Es sei dem Busfahrer aufgrund des Umstandes, dass sie der einzige Fahrgast war ohne weiteres möglich gewesen, durch einen Blick in den Innenspiegel zu erkennen, dass sie sich noch nicht hingesetzt hatte, um so einen Sturz zu vermeiden.
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Die Klägerin behauptet weiter, infolge des Sturzes habe sie eine stabile LWK-1-Deckenplattenimpressionsfraktur mit Höhenminderung erlitten und sich für zehn Tage in stationäre Behandlung begeben müssen. Für die Beteiligung an den Kosten einer physio-therapeutischen Behandlung habe sie 22,65 EUR und sowie Fahrtkosten zur ambulanten Behandlung von 222,00 EUR aufwenden müssen. Für die Zeit vom 04.11.2010 bis 17.03.2011 habe sie für zwei Stunden am Tag Pflege- und Betreuungsleistungen benötigt, die ihr Ehemann erbracht habe. Hieraus sei ihr ein Schaden in Höhe von 2.016,00 EUR entstanden.
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Die Klägerin beantragt,
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1. die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an die Klägerin 5.129,33 EUR sowie die nicht anrechenbaren vorgerichtlichen Anwaltsgebühren in Höhe von 546,49 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 5.675,82 EUR seit Rechtshängigkeit zuzahlen.
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2. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin 50 Prozent der weiteren Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 26.10.2010 zu ersetzen, so weit diese nicht auf den Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.
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Die Beklagten beantragen,
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die Klage abzuweisen.
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Der Beklagte zu 3 sei nicht ruckartig, sondern nach Einlegen des ersten Ganges langsam angefahren. Nach Vergewisserung im Rückspiegel habe der Beklagte zu 3 den Eindruck gehabt, dass die Klägerin bereits Sitze. Es sei für den Fahrer nicht erkennbar gewesen, dass die Klägerin gehbehindert sei. Sie habe zwei Einkaufstaschen getragen, sodass sie rüstig erschienen sei.
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Die Beklagten sind darüber hinaus der Meinung, die Klägerin habe sich ein erhebliches Mitverschulden von weit über 50 Prozent anrechnen zulassen.
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Sie habe insbesondere nicht in den hinteren Bereich des ansonsten leeren Busses gehen müssen, da sie davon habe ausgehen können, bei einem Haltewunsch unproblematisch aussteigen zu können.
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Wegen des weiteren Vortrages der Parteien wird Bezug genommen auf die von ihnen eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 26.06.2013 (Bl.54,55 d.A.).
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist nicht begründet.
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Der Klägerin steht unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ein Anspruch auf Schadensersatz aus dem von ihr behaupteten Unfallereignisses vom 26.10.2010 gegen die Beklagten zu.
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Die Klägerin hat gegen die Beklagten keinen Anspruch auf Schadensersatz aus §§ 631,280 Abs.1, 278 S. 1, 253 Abs. 2, 823 Abs. 1. 831 Abs. 1 S. 1 BGB. Denn ein pflichtwidriges Verhalten des Beklagten zu 3 als Fahrer der Beklagten zu 2 liegt nicht vor. Der Beklagte zu 3 hat insbesondere nicht schuldhaft die ihm im Rahmen der Beförderung obliegenden Pflichten verletzt.
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Mit der Nutzung des Linienbusses der Beklagten zu 2 ist inzwischen den Parteien ein Beförderungsvertrag zustande gekommen, der gem. § 631 BGB i. V. m. § 241 BGB die Nebenpflicht begründet hat, den Fahrgast wohlbehalten zu seinem Fahrtziel zu befördern. Eine Verletzung dieser Nebenpflicht durch den Beklagten zu 3 ist nicht gegeben.
23
Die einen Busfahrer betreffenden Pflichten umfassen regelmäßig nicht die Beobachtung der Fahrgäste. Diese sind vielmehr zunächst grundsätzlich selbst dafür verantwortlich, dass sie innerhalb des Fahrzeuges nicht zu Fall kommen. Insoweit darf der Busfahrer darauf vertrauen, dass ein Fahrgast seiner Verpflichtung nach kommt, sich stets einen festen Halt zu verschaffen. Nur ausnahmsweise muss sich der Fahrer vergewissern, ob der Fahrgast einen Platz oder Halt im Fahrzeug gefunden hat, nämlich etwa dann, wenn eine erkennbare schwere Behinderung des Fahrgastes ihm die Überlegung aufdrängt, dass dieser ohne besondere Rücksichtnahme gefährdet sei (OLG Frankfurt, NZV 2011,199; BGH VersR 1993, 241; Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen NZV 2011,540 jeweils mit weiteren Nachweisen). Eine derartige schwere Behinderung hat die Rechtsprechung angenommen in Fällen von Behinderungen infolge von Amputationen und/oder Benutzung von Krücken sowie bei blinden Fahrgästen (BGH a. a. O.). Insbesondere reicht es nicht aus, dass es sich bei der Klägerin um eine älteren Fahrgast handelt, ohne dass eine schwere Behinderung offen zu Tage tritt.
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Nach dem auch von dem erkennenden Gericht im Rahmen der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck, war die Klägerin nicht erkennbar gehbehindert. Dass sie infolge einer Osteoporose keinen sicheren Stand hatte, war für den Beklagten zu 3 nicht zu erkennen. Zudem trug sie beim Einsteigen in den Bus zwei Einkaufstaschen, was ebenfalls einem zu gewinnenden Eindruck einer schweren Gehbehinderung entgegen stand. Die Klägerin war zumindest nicht in der Weise gehbehindert, dass sich dem Beklagten zu 3 die Überlegung hätte aufdrängen müssen, sie sei oder seine besondere Rücksichtnahme gefährdet (BGH a. a. O.).
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Es kommt deshalb -entgegen der Auffassung der Klägerin – nicht darauf an, dass es dem Beklagten zu 3 aufgrund dessen, dass die Klägerin der einzige Fahrgast war, ohne weiteres möglich gewesen wäre, auf die Klägerin Rücksicht zu nehmen. Ein pflichtwidriges Verhalten des Beklagten zu 3 lässt sich hieraus nicht ableiten.
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Darüber hinaus ergibt sich auch keine Pflichtverletzung des Beklagten zu 3 als Busfahrer daraus, dass er nach der Behauptung der Klägerin plötzlich und ruckartig angefahren sein soll. Vielmehr musste die Klägerin nach dem Lösen des Fahrscheins davon ausgehen, dass sich der Linienbus unmittelbar hiernach in Bewegung setzen wird. Ein gewisser Anfahrruck geht mit dem Anfahren eines Busses regelmäßig einher. Hierbei handelt es sich allerdings um einen normalen Verkehrsvorgang, auf den sich die Fahrgäste bereits im Interesse der eigenen Sicherung einzustellen haben und auch einstellen können (OLG Frankfurt a. a. O.). Zudem begründet der Sturz der Klägerin keinen Anscheinsbeweis für eine sorgfaltswidrige Fahrweise des Beklagten zu 3.
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Auch hat die Klägerin keinen Anspruch auf Schadenersatz und Schmerzensgeld nach §§ 7,11 StVG. Denn insoweit tritt die Betriebsgefahr des Linienbusses der Beklagten zu 2 aufgrund des eigenen überwiegenden Verschuldens der Klägerin vollständig zurück.
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Im Rahmen der gem. §§ 9 StVG, 254 Abs. 1 BGB vorzunehmenden Abwägung der jeweiligen Verschuldensanteile ist zu berücksichtigen, das Fahrgäste regelmäßig dazu verpflichtet sind, sich im Fahrzeug stets einen festen Halt zu verschaffen. Ein Fahrgast, der sich keinen festen Halt verschafft, obwohl er dies in zumutbarer Weise kann, handelt schuldhaft. Die Klägerin hat gegen ihre Verpflichtung sich festen Halt zu verschaffen verstoßen. Kommt ein Fahrgast bei normaler Anfahrt zu Fall, spricht der Beweis des ersten Anscheins bereits dafür, dass der Sturz auf mangelnde Vorsicht des Fahrgastes zurückzuführen ist. Dieses eigene Verschulden der Klägerin überwiegt die von der Beklagten zu 2 zu vertretende Betriebsgefahr des Linienbusses so sehr, dass eine Mithaftung der Beklagten nicht mehr in Betracht kommt.
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Die Klägerin hätte sich beim Anfahren des Busses hinreichend sicheren müssen. Dies war ihr auch möglich und zumutbar. Es standen ihr genügend Sitzplätze im vorderen Bereich des ansonsten völlig leeren Busses zur Verfügung. Dort hätte sie sich ohne weiteres hinsetzen können. Insbesondere war es nicht erforderlich, zunächst durch den gesamten Busses nach hinten zu gehen, um nach dem Anhalten den hinteren Ausstieg des Fahrzeuges zu nutzen. Sie musste nach den konkreten Umständen nicht befürchten, dass sie bei dem Wunsch nach Erreichen des Ziels auszusteigen, nicht rechtzeitig zum Ausstieg gelangen werde. Insoweit hätte sie sich ohne Mühe bei dem Fahrer des Busses bemerkbar machen können, der ihren Wunsch auszusteigen zu berücksichtigen hatte.
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Nach alledem kommt auch eine Haftung der Beklagten nach § 7 StVG nicht in Betracht.
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Die prozessuale Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91; 708 Nr. 11, 711 ZPO