OLG Frankfurt am Main, 14.03.2016 – 1 U 248/13
1. Nutzt ein Einsatzfahrzeug der Polizei, das zu einem Verkehrsunfall auf einer Bundesautobahn gerufen worden ist, den Seitenstreifen, ist die Nutzung des Seitenstreifens von dem Sonderrecht des § 35 Abs. 1 StVO gedeckt, ohne dass es darauf ankommt, ob sich zwischenzeitlich bereits Rettungsgassen gebildet haben.
2. Kollidiert ein Pkw, der beim Wechsel von der mittleren auf die rechte Fahrspur einer Autobahn über die Begrenzungslinie hinaus auf den Seitenstreifen gerät, mit einem dort nur mit mäßiger Geschwindigkeit (hier: 45-50 km/h) und Blaulicht fahrenden Einsatzfahrzeug der Polizei, haftet der den Fahrstreifen wechselnde Pkw für den Unfall allein.
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das am 10. September 2013 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Gießen wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
(von der Darstellung des Tatbestandes wird abgesehen, §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1, 543 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, 26 Nr. 8 EGZPO).
I. Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg. Das Landgericht hat zu Recht das klageabweisende Versäumnisurteil aufrechterhalten. Die Entscheidung beruht weder auf einem Rechtsfehler noch rechtfertigen die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung (§ 513 ZPO).
Die Klägerin kann nicht von dem beklagten Land gemäß § 7 Abs. 1, § 17 Abs. 1, 2 StVG Schadensersatz wegen der Kollision des von ihrem Sohn geführten Pkw … mit dem Einsatzfahrzeug des Beklagten am …. Mai 2012 auf der Bundesautobahn A …in der Gemarkung … verlangen.
1. Die Klägerin hat schon den ihr obliegenden Unabwendbarkeitsnachweis gemäß § 17 Abs. 3 StVG nicht geführt. Denn ihr Sohn hat bei dem Wechsel von der mittleren auf die rechte Fahrbahn nicht jede nach den Umständen des Falles erforderliche Sorgfalt beachtet, als er mit dem rechten vorderen Kotflügel des ihm gelenkten Pkw über die rechte Fahrbahnbegrenzung hinaus auf den Standstreifen geraten und dabei mit dem Einsatzfahrzeug des Beklagten kollidiert ist.
2. Dabei kann dahinstehen, ob die Kollision für den Fahrer des Einsatzfahrzeuges unabwendbar war. Selbst wenn sich der Unfall für den Beklagten nicht als unabwendbares Ereignis darstellen würde, könnte die Klägerin keinen Ersatz verlangen. Denn die nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG vorzunehmende Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge führt zu dem Ergebnis, dass der Sohn der Klägerin die Kollision allein verursacht hat und auch eine Betriebsgefahr des Einsatzfahrzeuges vollständig hinter dem Verschulden des Sohnes der Klägerin und der Betriebsgefahr des von ihm geführten Fahrzeugs zurücktritt.
a) Bei der Abwägung sind nur unstreitige, erwiesene oder zugestandene Tatsachen zugrunde zu legen.
aa) Der Sohn der Klägerin hat den Unfall dadurch allein verursacht, dass er beim Wechsel von dem mittleren auf den rechten Fahrstreifen mit dem von ihm geführten Fahrzeug über die Begrenzungslinie hinaus auf den Seitenstreifen geraten ist. Damit hat er gegen das Gebot der Fahrbahnbenutzung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 StVO verstoßen, weil der durch das Zeichen 295 der Anlage 2 lfd. Nr. 68 zu § 41 Abs. 1 StVO („durchgehende Linie“) getrennte Seitenstreifen gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2 StVO nicht Bestandteil der Fahrbahn ist und außerdem die durchgehende Linie nicht gemäß Anlage 2 lfd. Nr. 68 Spalte 3 Nr. 1. a) überfahren werden darf. Denn diese darf nur in den in der Anlage 2 lfd. Nr. 68 Spalte 3 zu § 41 Abs. 1 StVO normierten Ausnahmen überfahren werden, die hier jedoch nicht vorliegen.
bb) Die Berufung kann demgegenüber nicht geltend machen, der Sohn der Klägerin habe nicht mit einem von hinten auf dem Standstreifen herannahenden Einsatzfahrzeug rechnen müssen. Denn die Beamten haben, als sie unter Einsatz von blauem Blinklicht den Seitentreifen befuhren, nicht gegen die Straßenverkehrsordnung verstoßen. Entgegen der von der Berufung vertretenen Ansicht mussten die Beamten für ihre Einsatzfahrt nicht etwaig gebildete Rettungsgassen benutzen. Die Fahrt auf dem Seitenstreifen als solche wirkt nicht haftungsbegründend, da sie keinen rechtswidrigen Verstoß gegen Vorschriften der StVO darstellt. Die Beamten waren bei ihrer Einsatzfahrt gemäß § 35 Abs. 1 StVO von den Vorschriften dieser Verordnung befreit. Nach § 35 Abs. 1 StVO ist u.a. die Polizei von den Vorschriften der Verordnung befreit, soweit das zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben dringend geboten ist. Entgegen der von der Klägerin vertretenen Auffassung bezieht sich die Voraussetzung „soweit das zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben dringend geboten ist“ nicht auf die Frage, ob die Nutzung des Seitenstreifens geboten war, sondern darauf, ob die Erfüllung der öffentlichen Aufgabe dringend geboten war (vgl. Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 24. Aufl., 2016, § 35 StVO, Rn. 8; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl., 2015, § 35 StVO, Rn. 5). Dies war hier der Fall. Bei der Fahrt des Einsatzfahrzeuges handelte es sich um eine hoheitliche Einsatzfahrt. Diese war zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben im Sinne des § 35 Abs. 1 StVO dringend geboten, weil das Einsatzfahrzeug zu einem Unfall auf der Autobahn gerufen worden war. Ein Einsatzbefehl an eine Polizeistreife rechtfertigt grundsätzlich die Inanspruchnahme der Sonderrechte aus § 35 Abs. 1 StVO (Senat, Urteil vom 02. November 2015 – 1 U 82/15; Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker a.a.O.).
Dabei tritt die Befreiung von den Vorschriften der StVO auch dann ein, wenn das Sonderrechtsfahrzeug weder Einsatzhorn noch Blaulicht führt oder diese zwar vorhanden sind, aber nicht betätigt werden. Nach § 38 Abs. 2 StVO darf bei Einsatzfahrten – wie hier – auch blaues Blinklicht allein verwendet werden (m.w.N. KG, Urteil vom 20. März 2003 – 12 U 199/01 – Rn. 25, juris).
cc) Ein weiterer Sorgfaltsverstoß des Sohnes der Klägerin folgt daraus, dass er aus Unachtsamkeit das auf dem Seitenstreifen mit Blaulicht und mäßiger Geschwindigkeit fahrende Einsatzfahrzeug nicht bemerkt hat. Soweit die Klägerin geltend gemacht hat, ihr Sohn habe das Einsatzfahrzeug nicht sehen können, da er sich auf dem rechten Fahrstreifen zwischen zwei Lastkraftwagen befunden hat, kann mangelnde Sicht den Sohn der Klägerin, der in die Lücke zwischen den beiden Lastkraftwagen eingeschert ist, nicht entlasten. Gerade dann musste er bei seinem Fahrmanöver besondere Vorsicht walten lassen.
Unabhängig hiervon ergibt sich aus dem erstinstanzlich eingeholten Sachverständigengutachten, dass der Sohn der Klägerin das nur mit mäßiger Geschwindigkeit fahrende Einsatzfahrzeug des Beklagten, das sich zu diesem Zeitpunkt mindestens schon auf der Höhe des von ihm gelenkten Fahrzeuges befand, als er auf den rechten Fahrstreifen wechselte, hätte sehen müssen. Aus den Schadensbildern der beiden Fahrzeuge, die sich ausweislich des Sachverständigengutachtens an dem vom Sohn der Klägerin geführten Fahrzeugs im rechten vorderen Seitenbereich und am Beklagtenfahrzeug im linken hinteren Seitenbereich hinter der Fahrzeugmitte befinden, und der auf Seite 8 des Sachverständigengutachtens rekonstruierten Unfallsituation folgt nämlich, dass das Fahrzeug des Beklagten im Kollisionszeitpunkt bereits mit der Fahrzeugmitte das klägerische Fahrzeug passiert hatte und der Sohn der Klägerin das Fahrzeug des Beklagten daher zwingend hätte sehen müssen.
dd) Demgegenüber kann nicht festgestellt werden, dass der Fahrer des Einsatzfahrzeuges bei Wahrnehmung des Sonderrechts auf dem Seitenstreifen gegen die ihm hierbei obliegenden besonderen Sorgfaltspflichten verstoßen hätte.
Auch wenn Polizeibeamte berechtigt die Sonderrechte nach § 35 Abs. 1 StVO in Anspruch nehmen, kann eine Sorgfaltsverletzung darin liegen, dass sie bei der Wahrnehmung der Sonderrechte sorgfaltswidrig gehandelt haben. § 35 Abs. 8 StVO bestimmt, dass die Sonderrechte nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt werden dürfen. Den Erfordernissen der Verkehrssicherheit kommt stets Vorrang gegenüber dem Interesse des Einsatzfahrzeuges am raschen Vorwärtskommen zu (Burmann/Heß/Hühnermann/ Jahnke/Janker a.a.O. Rn. 17). Je mehr der Sonderrechtsfahrer von Verkehrsregeln abweicht, umso höhere Anforderungen sind an seine Sorgfalt zu stellen (Hentschel/König/Dauer a.a.O. Rn. 8).
Dass sich die Beamten nicht dementsprechend verhalten hätten, kann nicht festgestellt werden. Insbesondere ist nicht erwiesen, dass das Einsatzfahrzeug mit überhöhter Geschwindigkeit von mindestens 80 km/h gefahren wäre, wie die Klägerin behauptet hat. Dass das Fahrzeug des Beklagten mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren wäre, steht nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme nicht fest. Im Gegenteil ist nach dem Gutachten des Sachverständigen erwiesen, dass die Geschwindigkeit des Fahrzeugs des Beklagten nur 45 km/h bis maximal 50 km/h betragen und damit der Fahrer des Einsatzfahrzeuges den Seitenstreifen nur mit der gebotenen ermäßigten Geschwindigkeit befahren hat. Gegen die Feststellungen des Gutachters hat die Klägerin erstinstanzlich auch keine Einwendungen erhoben.
ee) Eine erhöhte Betriebsgefahr des Einsatzfahrzeuges kann ebenfalls nicht festgestellt werden. Das Einsatzfahrzeug hat den Seitenstreifen mit mäßiger Geschwindigkeit befahren, wobei dies zusätzlich zur Warnung der Verkehrsteilnehmer unter Einsatz von blauem Blinklicht geschah. Schon das Setzen eines Blaulichts ist für den übrigen Verkehr ein hinreichend deutliches Warnzeichen dafür, dass nicht von einem normalen Verkehrsablauf ausgegangen werden kann (vgl. OLG Koblenz, Urteil vom 05. Januar 2004 – 12 U 1352/02 – juris).
b) Bei der danach vorzunehmenden Abwägung der beiderseitigen Verschuldens- und Verursachungsbeiträge tritt die nicht erhöhte Betriebsgefahr des Einsatzfahrzeuges vollständig hinter dem Verschulden des Sohnes der Klägerin und der durch dessen Fahrfehler erhöhten Betriebsgefahr des von ihm gelenkten Fahrzeuges zurück.
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708 Nr. 10, § 713 ZPO.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO nicht vorliegen.