Zum Untersuchungsgrundsatz im Verwaltungsgerichtsverfahren

BVerwG, Urteil vom 28.07.2011 – 2 C 28.10

1. Die fristlose Entlassung eines Soldaten nach § 55 Abs. 5 SG kommt auch unmittelbar vor dem regulären Ende der Dienstzeit in Betracht.

2. § 96 Abs. 1 VwGO enthält nicht nur den Grundsatz der formellen Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme; der Vorschrift lassen sich auch Maßstäbe für die Auswahl zwischen mehreren zur Verfügung stehenden Beweismitteln entnehmen.

3. Der Grundsatz der materiellen Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verbietet eine Entscheidung des Gerichts allein auf Grund des Inhalts von Vernehmungsprotokollen, wenn einem Beteiligten des gerichtlichen Verfahrens nicht die Möglichkeit eröffnet war, an den Vernehmungen teilzunehmen, und wenn dieser Beteiligte begründet die Vernehmung der – erreichbaren – Zeugen verlangt.

4. Der Untersuchungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) gebietet eine Beweiserhebung, wenn ein Verfahrensbeteiligter – insbesondere durch einen begründeten Beweisantrag – auf sie hinwirkt oder sie sich hiervon unabhängig aufdrängt. Dies ist der Fall, wenn das Gericht auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung Anlass zu weiterer Aufklärung sehen muss.

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 23. Juli 2009 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe
I
1Der 1983 geborene Kläger wehrt sich gegen seine fristlose Entlassung aus dem Soldatenverhältnis. Er leistete ab April 2002 Grundwehrdienst und verpflichtete sich in der Folge als Zeitsoldat auf vier Jahre bis zum 31. März 2006.

2Im März 2006 wurden Vorwürfe bekannt, wonach mehrere Soldaten, unter ihnen der Kläger, im Zeitraum von Oktober bis Dezember 2005 außerhalb des Dienstes, aber in der Kaserne Betäubungsmittel konsumiert hätten. Zur Klärung der Vorwürfe wurden sechs Kameraden des Klägers durch einen vorgesetzten Offizier vernommen. Fünf von ihnen belasteten den Kläger, während der sechste Soldat aussagte, der Kläger habe während des Konsums „meist“ die Stube verlassen. In einer weiteren Vernehmung präzisierte dieser Zeuge auf Nachfrage, er könne nicht ausschließen, dass der Kläger bei anderen Gelegenheiten Betäubungsmittel konsumiert habe. Im Rahmen der ebenfalls eingeleiteten Strafverfahren bestätigten die Soldaten im Wesentlichen ihre früheren Angaben. Ein gegen den Kläger eingeleitetes Strafverfahren wurde gemäß § 153 Abs. 1 StPO eingestellt. Disziplinarische Maßnahmen wurden bei denjenigen Soldaten, die wegen des Betäubungsmittelkonsums entlassen wurden, nicht ergriffen. Der Kläger selbst verweigerte bei Vernehmungen die Aussage und wies die Vorwürfe in einer schriftlichen Stellungnahme als unzutreffend zurück. Das bei ihm durchgeführte Drogenscreening fiel negativ aus.

3Durch Bescheid des Befehlshabers des Wehrbereichskommandos II vom 29. März 2006 wurde der Kläger nach Anhörung der Vertrauensperson der Soldaten, gestützt auf § 55 Abs. 5 SG, fristlos aus dem Soldatenverhältnis entlassen. Die Beschwerde des Klägers blieb erfolglos. Das Verwaltungsgericht wies seine Klage ab, nachdem die Beteiligten einvernehmlich auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet hatten.

4Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung durch Urteil vom 23. Juli 2009 ohne vorherige Zeugenvernehmung zurückgewiesen. Die Entlassungsvoraussetzungen lägen vor. Nach dem Inhalt der Akten, insbesondere der Protokolle über die Vernehmungen der Kameraden des Klägers als Beweisurkunden, stehe fest, dass die gegen den Kläger erhobenen Vorwürfe zuträfen. Auch der einmalige Betäubungsmittelkonsum erfülle den Tatbestand des § 55 Abs. 5 SG. Vorsatz sei gegeben. Der Kläger habe durch sein Verhalten die militärische Ordnung und das Ansehen der Bundeswehr ernstlich gefährdet. Die angegriffene Entscheidung der Beklagten sei ermessensfehlerfrei, weil ein atypischer Fall nicht vorliege; eine Entlassung unmittelbar vor Ablauf der regulären Dienstzeit sei nicht zu beanstanden. Rechtliche Hindernisse stünden der Verwertung der polizeilichen und behördlichen Vernehmungsprotokolle nicht entgegen. § 96 VwGO gebiete lediglich die formelle Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, nicht aber einen Vorrang unmittelbarer vor mittelbaren Beweismitteln. Ein solcher Vorrang könne im Einzelfall allenfalls aus § 86 VwGO folgen. Die tendenziell geringere Zuverlässigkeit mittelbarer Beweismittel könne bei der Beweiswürdigung berücksichtigt werden. Im vorliegenden Fall habe es einer Zeugenvernehmung nicht bedurft. Beweisanträge seien nicht gestellt worden; eine Beweiserhebung habe sich nicht aufgedrängt, da die Glaubhaftigkeit der protokollierten Aussagen und die Glaubwürdigkeit der Belastungszeugen unzweifelhaft seien. Die negativen Ergebnisse der beim Kläger durchgeführten Drogenscreenings seien nicht geeignet, die belastenden Zeugenaussagen zu erschüttern, da sie für das vierte Quartal des Jahres 2005 irrelevant seien.

5Der Kläger begründet seine Revision mit einer Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflichten durch das Berufungsgericht und beantragt, die Urteile des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 23. Juli 2009 und des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 21. Mai 2007 sowie den Entlassungsbescheid des Befehlshabers des Wehrbereichskommandos II vom 29. März 2006 und den Beschwerdebescheid des Befehlshabers des Streitkräfteunterstützungskommandos vom 5. Mai 2006 aufzuheben.

6Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

7Sie verteidigt das Berufungsurteil.

II
8Die Revision des Klägers ist mit der Maßgabe begründet, dass das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Das Berufungsurteil leidet an Verfahrensmängeln, nämlich an Verstößen gegen § 96 Abs. 1 und § 86 Abs. 1 VwGO. Die Tatsachenfeststellungen des Oberverwaltungsgerichts reichen, soweit sie verfahrensfehlerfrei zustande gekommen sind, nicht aus, dem Senat eine abschließende Entscheidung zu ermöglichen.

91. Zu Recht ist das Oberverwaltungsgericht davon ausgegangen, dass eine fristlose Entlassung aus dem Soldatenverhältnis auf der Grundlage von § 55 Abs. 5 des Soldatengesetzes (SG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 30. Mai 2005 (BGBl I S. 1482) auch nach einmaligem Betäubungsmittelkonsum und unmittelbar vor dem regulären Ende der Dienstzeit in Betracht kommen kann.

10Nach § 55 Abs. 5 SG kann ein Soldat auf Zeit während der ersten vier Dienstjahre ohne vorherige Durchführung eines Disziplinarverfahrens fristlos entlassen werden, wenn er Dienstpflichten schuldhaft verletzt hat und sein Verbleiben im Dienstverhältnis die militärische Ordnung oder das Ansehen der Bundeswehr ernstlich gefährden würde. Die fristlose Entlassung nach dieser Vorschrift ist keine disziplinarische Maßnahme, sondern soll die personelle und materielle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr gewährleisten (Beschluss vom 16. August 2010 – BVerwG 2 B 33.10NVwZ-RR 2010, 896 = juris Rn. 6 ff.). Sie stellt ein Mittel dar, um eine Beeinträchtigung der uneingeschränkten Einsatzbereitschaft zu vermeiden. Bereits aus dem Wortlaut des § 55 Abs. 5 SG ergibt sich, dass diese Gefahr gerade als Auswirkung einer Dienstpflichtverletzung des Soldaten drohen muss. Dies ist von den Verwaltungsgerichten auf Grund einer nachträglichen Prognose zu beurteilen (Urteile vom 9. Juni 1971 – BVerwG 8 C 180.67BVerwGE 38, 178 <180 f.> = Buchholz 238.4 § 55 SG Nr. 5 S. 2 f., vom 31. Januar 1980 – BVerwG 2 C 16.78BVerwGE 59, 361 <362 f.> = Buchholz 238.4 § 55 SG Nr. 8 S. 5 f. und vom 24. September 1992 – BVerwG 2 C 17.91BVerwGE 91, 62 <63 f.> = Buchholz 236.1 § 55 SG Nr. 13 S. 2 f.).

11Mit dem Erfordernis, dass die Gefährdung der militärischen Ordnung ernstlich sein muss, entscheidet das Gesetz selbst die Frage der Angemessenheit der fristlosen Entlassung im Verhältnis zu dem erstrebten Zweck und konkretisiert so den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Zwar können Dienstpflichtverletzungen auch dann eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung herbeiführen, wenn es sich um ein leichteres Fehlverhalten handelt oder mildernde Umstände hinzutreten. Jedoch ist im Rahmen der Gefährdungsprüfung zu berücksichtigen, ob die Gefahr für die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr durch eine Disziplinarmaßnahme abgewendet werden kann (Urteile vom 9. Juni 1971 a.a.O., vom 31. Januar 1980 a.a.O., vom 20. Juni 1983 – BVerwG 6 C 2.81 – Buchholz 238.4 § 55 SG Nr. 11 S. 13 f. und vom 24. September 1992 a.a.O.).

12Eine fristlose Entlassung aus dem Soldatenverhältnis kommt auch unmittelbar vor dem Ende der Dienstzeit noch in Betracht, ohne an dem Verbot unverhältnismäßiger Grundrechtseingriffe zu scheitern; dies kann allenfalls in atypischen Fallkonstellationen anders sein. Denn bei Dienstpflichtverletzungen, von denen eine negative Vorbildwirkung ausgeht, entfällt diese nicht durch das Ausscheiden des Soldaten aus dem Dienst, sondern kann nur durch eine disziplinarische oder anderweitige Reaktion des Dienstherrn beseitigt werden.

13Auf dieser Grundlage haben sich in der Rechtsprechung Fallgruppen herausgebildet, bei denen eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung im Sinne des § 55 Abs. 5 SG regelmäßig anzunehmen ist: Dies gilt vor allem für Dienstpflichtverletzungen im militärischen Kernbereich, die unmittelbar die Einsatzbereitschaft beeinträchtigen. Bei Dienstpflichtverletzungen außerhalb dieses Bereichs kann regelmäßig auf eine ernstliche Gefährdung geschlossen werden, wenn es sich entweder um Straftaten von erheblichem Gewicht handelt, wenn die begründete Befürchtung besteht, der Soldat werde weitere Dienstpflichtverletzungen begehen (Wiederholungsgefahr) oder es sich bei dem Fehlverhalten um eine Disziplinlosigkeit handelt, die in der Truppe als allgemeine Erscheinung auftritt oder um sich zu greifen droht (Nachahmungsgefahr). Jedenfalls die beiden letztgenannten Fallgruppen erfordern eine einzelfallbezogene Würdigung der konkreten Dienstpflichtverletzung, um die Auswirkungen für die Einsatzbereitschaft oder das Ansehen der Bundeswehr beurteilen zu können (vgl. Urteile vom 9. Juni 1971, vom 31. Januar 1980, vom 20. Juni 1983 und vom 24. September 1992, jeweils a.a.O.).

14Der Konsum von Betäubungsmitteln in der Kaserne stellt nach ständiger Rechtsprechung eine Dienstpflichtverletzung dar (Urteile vom 13. Dezember 1990 – BVerwG 2 WD 25.90BVerwGE 93, 3, vom 24. September 1992 a.a.O. und vom 10. August 1994 – BVerwG 2 WD 24.94BVerwGE 103, 148). Ein solches Verhalten verletzt die Pflicht zu achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten (§ 17 Abs. 2 Satz 1 SG) und die Pflicht zum treuen Dienen (§ 7 SG) im militärischen Kernbereich, weil es unmittelbar die Einsatzbereitschaft der Truppe gefährdet. Regelmäßig liegt darin auch ein Verstoß gegen die Gehorsamspflicht (§ 11 SG), wenn der Soldat – wie der Kläger – über das Verbot des unbefugten Besitzes und des Konsums von Betäubungsmitteln in militärischen Anlagen belehrt worden ist. Das Verbleiben eines Soldaten im Dienst, der in militärischen Unterkünften Betäubungsmittel konsumiert hat, stellt deshalb in der Regel eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung dar; es hätte negative Vorbildwirkung, die es der Bundeswehr erschweren würde, ihren Verteidigungsauftrag zu erfüllen.

152. Das Oberverwaltungsgericht hat sich jedoch seine Überzeugung, dass der Kläger an dem Betäubungsmittelkonsum seiner Kameraden im letzten Quartal des Jahres 2005 beteiligt war, in verfahrensfehlerhafter Weise gebildet. Es hat seiner Urteilsfindung im Wesentlichen lediglich die Protokolle der außergerichtlichen Vernehmungen von Kameraden des Klägers zu Grunde gelegt, obwohl eine weitere Beweisaufnahme durch Vernehmung zumindest dieser Kameraden als Zeugen erforderlich gewesen wäre. Damit hat es gegen den Grundsatz der materiellen Unmittelbarkeit der Beweiserhebung (§ 96 Abs. 1 VwGO) sowie gegen seine Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) verstoßen.

162.1 Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 VwGO erhebt das Gericht Beweis in der mündlichen Verhandlung. Die Vorschrift regelt die Art und Weise der gerichtlichen Sachverhaltsaufklärung. Sie erfordert nach ihrem Wortlaut zunächst, dass diejenigen Richter, die über einen Rechtsstreit entscheiden, regelmäßig auch die Beweisaufnahme in der mündlichen Verhandlung durchführen, um ihre Entscheidung auf den unmittelbaren Eindruck der Beweisaufnahme stützen zu können (formelle Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme). Nach ihrem Sinn lassen sich ihr indes auch Maßstäbe für die Auswahl zwischen mehreren zur Verfügung stehenden Beweismitteln entnehmen (materielle Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme).

17§ 96 Abs. 1 VwGO soll sicherstellen, dass das Gericht seiner Entscheidung das in der jeweiligen prozessualen Situation geeignete und erforderliche Beweismittel zu Grunde legt, um dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs, dem Gebot des fairen Verfahrens und insbesondere dem Recht der Verfahrensbeteiligten auf Beweisteilhabe gerecht zu werden. Dagegen lässt sich dem Grundsatz der materiellen Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme nach der Rechtsprechung nicht ein abstrakter Vorrang bestimmter – etwa unmittelbarer oder „sachnäherer“ – Beweismittel vor anderen – mittelbaren oder weniger „sachnahen“ – entnehmen. Vielmehr hängt es von der jeweiligen prozessualen Situation ab, ob ein mittelbares Beweismittel wie die Verlesung eines Vernehmungsprotokolls ausreicht oder ob das unmittelbare Beweismittel (erneute oder erstmalige gerichtliche Vernehmung des Zeugen) zu nutzen ist.

18Die Sachaufklärung soll in einer Art und Weise durchgeführt werden, die zu einer vollständigen und zutreffenden tatsächlichen Entscheidungsgrundlage führt und es zugleich jedem Verfahrensbeteiligten ermöglicht, auf die Ermittlung des Sachverhalts Einfluss zu nehmen. Das Recht eines Verfahrensbeteiligten, im Rahmen eines geordneten Verfahrens an der Sachaufklärung durch das Gericht teilzuhaben, ist unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) geboten, insbesondere wenn aus den vom Gericht ermittelten Tatsachen nachteilige Folgen für diesen Verfahrensbeteiligten gezogen werden können. Ihm muss deshalb die Möglichkeit eingeräumt sein, an der Erhebung von Beweisen mitzuwirken, um sich ein eigenes Bild von den Beweismitteln machen zu können, sein Fragerecht auszuüben und durch eigene Anträge der Beweiserhebung ggf. eine andere Richtung zu geben. Aus dem Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) folgt darüber hinaus, dass der Verfahrensbeteiligte hinreichend Gelegenheit haben muss, sich mit den Ergebnissen der Beweisaufnahme auf der Grundlage eines eigenen unmittelbaren Eindrucks auseinanderzusetzen und ggf. dazu Stellung zu nehmen (vgl. Urteile vom 15. Dezember 2005 – BVerwG 2 A 4.04 – Buchholz 235.1 § 24 BDG Nr. 1, vom 24. September 2009 – BVerwG 2 C 80.08BVerwGE 135, 24 = Buchholz 235.1 § 55 BDG Nr. 4 <jeweils Rn. 24> und vom 27. Januar 2011 – BVerwG 2 A 5.09 – juris; Beschlüsse vom 26. Februar 2008 – BVerwG 2 B 122.07 – <insoweit nicht veröffentlicht in Buchholz 235.1 § 55 BDG Nr. 2> und vom 18. November 2008 – BVerwG 2 B 63.08 – <insoweit nicht veröffentlicht in Buchholz 235.1 § 17 BDG Nr. 1>).

19Es ist jedoch grundsätzlich nicht erforderlich, eine in erster Instanz durchgeführte Zeugenvernehmung in zweiter Instanz zu wiederholen; wenn allerdings das Oberverwaltungsgericht die Glaubwürdigkeit eines Zeugen anders beurteilen will als die Vorinstanz, bedarf es in aller Regel einer erneuten Einvernahme des Zeugen (Beschlüsse vom 10. September 1979 – BVerwG 3 CB 117.79 – Buchholz 418.00 Ärzte Nr. 38, vom 28. April 2000 – BVerwG 9 B 137.00 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 235, vom 20. November 2001 – BVerwG 1 B 297.01 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 251 und vom 17. November 2008 – BVerwG 3 B 4.08 – Buchholz 310 § 96 VwGO Nr. 58). Ebenso wenig ist es stets ausgeschlossen, Protokolle behördlicher Vernehmungen als Urkundsbeweis zu verwenden; dabei müssen allerdings die Grenzen dieses Beweismittels berücksichtigt werden. Denn die Beweiserhebung im Verwaltungsverfahren ist nicht in gleicher Weise mit rechtlichen Garantien ausgestattet wie eine Beweisaufnahme im gerichtlichen Verfahren. Auch steht auf Grund einer Verwendung von Vernehmungsprotokollen als Urkundsbeweis nur fest, dass der Zeuge die protokollierte Aussage gemacht hat, nicht aber, ob sie inhaltlich richtig ist; dies ist vielmehr eine Frage der Beweiswürdigung (Beschluss vom 15. Februar 1984 – BVerwG 9 CB 149.83 – Buchholz 310 § 96 VwGO Nr. 30). Denn Grundlage der Wahrheitsfindung ist in einem solchen Fall nur die Urkunde und nicht der Eindruck der behördlichen Verhörsperson von der Glaubwürdigkeit des Vernommenen; das Gericht darf sich von der Beweiswürdigung der Behörde nicht leiten lassen (Beschluss vom 10. Mai 2002 – BVerwG 1 B 392.01 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 259). Aussagen zur Glaubhaftigkeit der Aussage oder – erst recht – zur Glaubwürdigkeit der außergerichtlich vernommenen Zeugen bedürfen daher einer zusätzlichen Grundlage und sind häufig – so auch im vorliegenden Fall – kaum begründbar (Urteil vom 9. Dezember 2010 – BVerwG 10 C 13.09DVBl 2011, 366).

20Demgegenüber verbietet § 96 Abs. 1 Satz 1 VwGO jedoch eine Entscheidung des Gerichts allein auf Grund des Inhalts von Vernehmungsprotokollen, wenn einem Beteiligten nicht die Möglichkeit eröffnet war, an den Vernehmungen teilzunehmen und Fragen zu stellen, und wenn dieser Beteiligte begründet die Vernehmung der – erreichbaren – Zeugen verlangt. Es verstößt daher gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, wenn ohne allseitiges Einverständnis tatsächliche Feststellungen ohne erneute Prüfung durch das Gericht auf eine bloße schriftliche Wiedergabe der Erklärungen von Personen gestützt werden, die als Zeugen hätten vernommen werden können (Urteile vom 25. Mai 1960 – BVerwG 8 C 110.59 – Buchholz 310 § 96 VwGO Nr. 1 und vom 29. Mai 2008 – BVerwG 10 C 11.07BVerwGE 131, 186 = Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 21; Beschlüsse vom 29. Oktober 1998 – BVerwG 1 B 103.98 – Buchholz 310 § 96 VwGO Nr. 42 und vom 25. August 2008 – BVerwG 2 B 18.08 – juris; ebenso für das Disziplinarverfahren Beschluss vom 4. September 2008 – BVerwG 2 B 61.07 – Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 4). Denn durch die Verwendung von Beweismitteln, die in anderen Verfahren entstanden sind, im anhängigen Gerichtsverfahren dürfen die Beteiligten keine Rechte verlieren, die ihnen zustehen würden, wenn die Beweismittel gerade in ihrem Prozess eingeholt worden wären (Beschluss vom 18. Juli 1997 – BVerwG 5 B 156.96 – Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 281). In einem solchen Fall kann ein Vorrang des unmittelbaren Beweismittels vor dem mittelbaren bestehen.

21Das Oberverwaltungsgericht hat zwar zu Recht darauf hingewiesen, dass die regelmäßig geringere Zuverlässigkeit mittelbarer im Vergleich zu unmittelbaren Beweismitteln im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigt werden kann (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 26. Mai 1981 – 2 BvR 215/81BVerfGE 57, 250 <277>, Nichtannahmebeschluss vom 20. Dezember 2000 – 2 BvR 591/00NJW 2001, 2245). Dies vermag jedoch einen Verzicht auf die Einvernahme von Zeugen anstelle einer urkundlichen Verwertung der Vernehmungsprotokolle in der hier gegebenen Fallkonstellation nicht zu rechtfertigen. Denn eine Beweiswürdigung kann insbesondere die vorherige Missachtung des Rechts auf Beweisteilhabe nicht ausgleichen und hilft auch nicht über das Fehlen einer hinreichenden Grundlage für Aussagen über die Glaubwürdigkeit der Zeugen hinweg, da diese auf der persönlichen Einschätzung der Richter beruhen müssen.

22Nach diesen Grundsätzen bedurfte es im vorliegenden Fall einer weiteren Beweisaufnahme zumindest durch Einvernahme der Belastungszeugen, ggf. auch der Verhörspersonen oder weiterer Zeugen, die über die Teilnahme des Klägers an dem ihm vorgehaltenen Geschehen Auskunft hätten geben können. Der Kläger hat im gerichtlichen Verfahren einer Verwendung der Vernehmungsprotokolle ausdrücklich widersprochen. Dabei hat er geltend gemacht, ihm müsse die Möglichkeit eingeräumt werden, der Vernehmung seiner Kameraden beiwohnen zu dürfen, um ggf. von seinem Fragerecht Gebrauch machen zu können; dies war im behördlichen Verfahren schon deshalb unterblieben, weil es sich um Vernehmungen der Kameraden als Beschuldigte im Disziplinar- bzw. polizeilichen Ermittlungsverfahren gehandelt hatte. Der Kläger hatte deshalb keine Möglichkeit, das Zustandekommen der im Gerichtsverfahren als maßgeblich eingestuften Vernehmungsprotokolle zu beeinflussen oder in Frage zu stellen. Seine Erklärung hierzu ist in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht protokolliert worden. Sie stellt zwar keinen Beweisantrag dar, obwohl die Formulierung eines Beweisantrages in der gegebenen prozessualen Situation ohne weiteres möglich gewesen wäre. Doch war ein förmlicher Beweisantrag nicht erforderlich, weil der Widerspruch gegen die Verwendung der Protokolle der behördlichen Vernehmungen unmissverständlich war und die vom Kläger gewünschten Beweismittel hinreichend deutlich aufgezeigt hat. Der Umstand, dass der Kläger in erster Instanz auf mündliche Verhandlung verzichtet hatte, ändert hieran nichts, weil aus diesem Verhalten mangels entsprechender Rechtsgrundlage keine für den Kläger nachteilige Folgen gezogen werden durften; er hat auf seine prozessualen Rechte in der Berufungsinstanz weder verzichtet noch hat er sie verwirkt.

232.2 Das Oberverwaltungsgericht hat durch die Beschränkung auf die Protokolle der behördlichen Vernehmungen anstelle einer (erstmaligen) gerichtlichen Vernehmung der Zeugen auch gegen § 86 Abs. 1 VwGO verstoßen.

24Nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Während § 96 Abs. 1 VwGO das gerichtliche Ermessen bei der Auswahl zwischen mehreren zur Verfügung stehenden Beweismitteln sowie bei der Art und Weise der Beweisaufnahme einschränkt, regelt § 86 Abs. 1 VwGO die Erforderlichkeit und die gebotene Intensität der Beweisaufnahme. Der Untersuchungsgrundsatz verpflichtet das Gericht, alle vernünftigerweise zu Gebote stehenden Aufklärungsmöglichkeiten bis zur Grenze der Zumutbarkeit zu nutzen; dies schließt eine Bindung an die im vorangegangenen Verwaltungsverfahren ermittelten tatsächlichen Feststellungen grundsätzlich aus (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. April 1991 – 1 BvR 419/81 und 213/83 – BVerfGE 84, 34).

25Das Gericht muss daher alle Aufklärungsbemühungen unternehmen, auf die die Beteiligten – insbesondere durch begründete Beweisanträge – hinwirken oder die sich hiervon unabhängig aufdrängen (Beschluss vom 13. Oktober 2008 – BVerwG 2 B 119.07 – Buchholz 235.1 § 69 BDG Nr. 5; Urteil vom 22. Februar 1996 – BVerwG 2 C 12.94 – Buchholz 237.6 § 86 NdsLBG Nr. 4 <insoweit nicht veröffentlicht in BVerwGE 100, 280>; vgl. auch Urteil vom 10. Juni 1955 – BVerwG 4 C 55.54 – Buchholz 427.3 § 339 LAG Nr. 4 und zur Kritik der neueren Rechtsprechung Rixen, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl., § 86 Rn. 15). Eine weitere Sachverhaltsaufklärung drängt sich auch ohne ausdrücklichen Beweisantrag dann auf, wenn das Gericht auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung Anlass zu weiterer Aufklärung sehen muss (Urteil vom 29. Mai 2008 – BVerwG 10 C 11.07BVerwGE 131, 186 = Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 21; Beschluss vom 14. September 2007 – BVerwG 4 B 37.07 – juris), wenn also die bisherigen Tatsachenfeststellungen eine Entscheidung noch nicht sicher tragen. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn ein Verfahrensbeteiligter gegen das bisherige Ergebnis der Beweisaufnahme begründete Einwände erhebt. Denn in einem solchen Fall ist das Gericht gehindert, seine Entscheidung unter Übergehung der Einwände auf das angegriffene Beweisergebnis zu stützen. Hiervon unabhängig gebietet auch die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG), dass das zur Amtsaufklärung verpflichtete Gericht sich nicht mit den von einem Beteiligten angebotenen Behauptungen oder Beweisen begnügt, sondern seine Entscheidung auf vollständiger und richtiger Tatsachengrundlage trifft.

26Nach diesen Grundsätzen musste sich die Notwendigkeit einer Zeugenvernehmung anstelle der bloßen Verwendung der Vernehmungsprotokolle dem Oberverwaltungsgericht aufdrängen. Zwar lagen Vernehmungsprotokolle vor, die den Kläger belasten, ohne dass Gründe erkennbar wären, die die vernommenen Kameraden zu einem abgestimmten Handeln gegen den Kläger hätten motivieren können. Auf der anderen Seite hat der Kläger die Aussagen der Zeugen in einer schriftlichen Stellungnahme als falsch gerügt und kann mehrere negative Drogenscreenings aufweisen. Auch ein im unmittelbaren Zusammenhang mit den gegen ihn erhobenen Vorwürfen durchgeführtes Drogenscreening war – anders als bei mehreren der Belastungszeugen – negativ. Dies musste ungeachtet der eingeschränkten Aussagekraft dieser Untersuchungen, im Zusammenhang mit seiner schriftlichen Stellungnahme zu den Vorwürfen, zumindest Zweifel an der Richtigkeit des zu seinen Lasten angenommenen Sachverhalts wecken. Die Vernehmung des sechsten Zeugen wirft weitere Zweifel auf, die ebenfalls nur durch eine auf dem unmittelbaren Eindruck von dem Zeugen beruhende eigene Einschätzung des Tatsachengerichts von seiner Glaubwürdigkeit und der Glaubhaftigkeit seiner unterschiedlich akzentuierten Aussagen in zwei Vernehmungsterminen zu überwinden waren.

273. Der Senat ist an einer abschließenden Entscheidung gehindert, weil die Tatsachenfeststellungen des Oberverwaltungsgerichts, soweit sie verfahrensfehlerfrei zustande gekommen sind, hierfür nicht ausreichen. Es bedarf der Klärung, ob der Kläger im Zeitraum zwischen Oktober und Dezember 2005 in der Kaserne Betäubungsmittel konsumiert hat. Sollte es für diese Frage auf die als Beweismittel in das Verfahren eingebrachte Filmsequenz ankommen – das Oberverwaltungsgericht hat diese von seinem Rechtsstandpunkt aus für unerheblich gehalten -, wären auch Zeit und Umstände ihrer Entstehung sowie ihr Inhalt durch geeignete Aufklärungsmaßnahmen zu ermitteln.

28Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht, da diese der Schlussentscheidung vorbehalten ist.

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