Zur Verkehrssicherungspflicht in einer Gaststätte

OLG Hamm, Urteil vom 28. Oktober 1999 – 6 U 29/99

Zur Verkehrssicherungspflicht in einer Gasttätte

Tenor

Der 6. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm hat auf die mündliche Verhandlung vom 20. September 1999 für R e c h t erkannt:

Auf die Berufung des Klägers wird – unter Zurückweisung des Rechtsmittels im übrigen – das am 9.12.1998 verkündete Urteil des Landgerichts Münster abgeändert.

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den, Kläger 619,60 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 26.9.1998 zu zahlen.

2. Es wird festgestellt, daß die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger 2/3 aller weiteren materiellen Schäden aufgrund des Unfalles vom 13.11.1997 zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind, ferner alle weiteren immateriellen Schäden unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens von 1/3.

3. Die Klage ist, soweit sie auf die Zahlung eines Schmerzensgeldbetrages gerichtet ist, bei Mitberücksichtigung eines Eigenverschuldens des Klägers im Umfang von 1/3 dem Grunde nach gerechtfertigt.

4. Zur weiteren Verhandlung und Entscheidung über den Betrag des Schmerzensgeldes wird die Sache an das Landgericht zurückverwiesen, das auch über die Kosten des Berufungsverfahrens zu entscheiden hat.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Beschwer der Parteien: unter 20.000,00 DM.

Entscheidungsgründe:

I.

Am 13.11.1997 gegen 18.00 Uhr stürzte der damals 71 Jahre alte Kläger in einer Gaststätte der Beklagten in und verletzte sich schwer. Er begehrt nunmehr Schadensersatzzahlung und die Feststellung künftiger Schadensersatzverpflichtung der Beklagten.

Die Gaststätte ist ganzjährig durch Reisebusunternehmen ausgebucht für ca. 500 Personen wöchentlich. Der unternimmt seit vielen Jahren mit vornehmlich – älteren Mitbürgern – Tagesausflüge zu dieser Gaststädte.

Eine solche Reisegruppe, der der Kläger angehörte, nutzte am Unfalltag einen vom Schankraum getrennten Veranstaltungssaal. Um die nur vom Schankraum aus erreichbaren Toiletten aufzusuchen mußte der Kläger, wie alle Saalgäste eine dreistufige Treppe hinaufgehen, die in einem separaten Raum gelegen ist und von der aus man durch eine Tür den Schankraum betritt zwischen den seitlichen Wänden misst die Treppe 3,27 m. Über den Treppenstufen befinden sich treppauf gesehen links an der Wand ein Zigarettenautomat und rechts an der Wand ein als Handlauf dienender Haltegriff. Weitere Handläufe oder Geländer gibt es nicht.

Nach dem Besuch der Toilette stürzte der Kläger auf dem Rückweg zum Veranstaltungssaal die Treppe hinab. Erzog sich u.a. eine offene Unterarmtrümmerfraktur rechts sowie eine Schenkelhalsfraktur rechts zu.

Der Kläger hat die Beklagte wegen der Verletzung, von Verkehrssicherungspflichten für schadensersatzpflichtig gehalten, weil die Treppe wegen des schwarzen Bodenbelags schlecht zu erkennen gewesen sei, die Stufenkanten farblich nicht abgesetzt worden, seien, der Treppenbereich unzureichend ausgeleuchtet gewesen sei, ein auf die Treppe hinweisendes Schild gefehlt habe und im übrigen außer dem Haltegriff kein Treppengeländer vorhanden gewesen sei.

Die Beklagte hat behauptet, die Treppe sei durch mehrere Lampen gut ausgeleuchtet gewesen. Sie hat die Auffassung vertreten, die Treppe habe den bauordnungsrechtlichen Vorschriften entsprochen und sei verkehrssicher gewesen, was insbesondere auch daraus hervorgehe, daß es bei seit 35 Jahren unverändertem Zustand der Treppe nie zu Unfällen gekommen sei. Jedenfalls aber, so hat die Beklagte gemeint, überwiege das Eigenverschulden des Klägers so stark, daß ihre eventuelle Haftung entfalle.

Das Landgericht hat die Klage nach während eines Ortstermins erfolgter Zeugenvernehmung abgewiesen, weil eine Verkehrssicherungspflichtverletzung der Beklagten nicht festgestellt werden könne. Die Darstellung der Beklagten, daß die Treppe zum Unfallzeitpunkt gut ausgeleuchtet gewesen sei, sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht widerlegt. Auch unter sonstigen Gesichtspunkten berge die Treppenanlage keine Gefahren, denen die Beklagte in besonderer Weise habe entgegenwirken müssen.

Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger sein erstinstanzlichen Begehren unter Wiederholung und Vertiefung seines Vorbringens weiter.

Die Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung.

II.

Die Berufung hat zum Teil Erfolg.

Wegen des Unfalles vom 13.11.1997 ist die Beklagte dem Kläger gemäß §§ 823, 847 BGB zum Schadensersatz verpflichtet. Jedoch muß sich der Kläger anspruchskürzendes Mitverschulden im Umfange von 1/3 anrechnen lassen.

1.

Der Unfall beruht darauf, daß die Beklagte fahrlässig ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt hat.

Als Gastwirtin oblag es der Beklagten, für die Verkehrssicherheit der den Gästen zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten zu sorgen. Dazu gehörte es u.a., sich auf gehbehinderte und ungeschickte Leute einzustellen. Ein Gastwirt haftet, wenn er diejenige Sicherheit, die unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten und der Art und Weise des in Frage kommenden Publikumsverkehrs erwartet werden kann und muß, nicht gewährleistet (Staudinger/Hager, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch § 823 Rn. E 253 m.w.N.).

An die Sicherheit der Treppe in einer Gastwirtschaft sind hohe Anforderungen zu stellen (OLG Hamm VersR 94, 1081; 91, 1154). Diesen Anforderungen genügte die Treppe, auf der der Kläger gestürzt ist, nicht, weil es abgesehen von dem an die Wand geschraubten Haltegriff an Handläufen und Geländern fehlte. Es handelte sich um eine dreistufige Treppe mit einer Breite von 3,27 m. Bei Treppen mit großer nutzbarer Breite wie hier können gemäß § 32 Abs. 6 der Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen Handläufe auf beiden Seiten und Zwischenhandläufe gefordert werden, auf die jedoch gemäß Abs. 8 der genannten Vorschrift bei Treppen mit bis zu 5 Stufen verzichtet werden kann, wenn wegen der Verkehrssicherheit auch unter Berücksichtigung der Belange behinderter und alter Menschen Bedenken nicht bestehen. Nach § 12 Abs. 2 Gaststättenbauverordnung müssen Treppen aber auf beiden Seiten gute Handläufe haben, ferner müssen Treppen mit mehr als 2,5 m Breite durch Geländer unterteilt sein.

Es kann dahinstehen, ob bei Treppen mit einer Breite von mehr als einem Meter schon in jedem Falle mehr als nur ein Handlauf zu fordern ist (vgl. dazu OLG Köln VersR 92, 512 m.w.N.). Es kommt auch nicht darauf an, ob die Treppe in der Gaststätte der Beklagten schon vor 35 Jahren und damit vor Erlaß der Gaststättenbauverordnung angelegt worden ist und ob sie sich deshalb evtl. nicht in einem bauordnungswidrigem Zustand befunden hat. Denn nicht einmal dann, wenn eine Baubehörde Mängel im Hinblick auf die bauliche Beschaffenheit von Räumen nicht beanstandet hat, vermag dies einen Wirt zu entlasten. Vielmehr ist dieser selbst für die Sicherheit der Gäste verantwortlich und hat den Zustand des Gebäudes allein und selbständig zu überprüfen sowie erkannten Mängeln abzuhelfen (vgl. OLG Hamm VersR 94, 1081; Staudinger/Hager a.a.O.). Unabhängig davon, daß die Gaststättenbauverordnung zur Zeit der Errichtung der Treppe evtl. noch nicht galt und eine Anpassung vorhandener Treppen nicht vorschreibt, gibt sie doch allgemeine Sicherheitsanforderungen an Treppen in Gaststätten wieder (vgl. OLG Hamm VersR 94, 1081). Danach hätte es auf der Treppe der Beklagten zumindest eines Handlaufs und einer Unterteilung durch ein Geländer bedurft, um die zu fordernde Verkehrssicherheit zu gewährleisten. Dabei ist zu berücksichtigen, daß es sich um eine Treppe handelte, auf der sich ständig viele Personen begegneten, weil nicht nur die Personen der im Veranstaltungssaal bewirteten Reisegruppen nur über diese Treppe zu den Toilettenräumen gelangen konnten, sondern auch das Bewirtungspersonal der Beklagten diesen Weg nutzte. Abgesehen davon bewirtete die Beklagte regelmäßig Reisegruppen mit vorwiegend älteren Personen. Gerade im Hinblick auf diesen speziellen Publikumsverkehr waren hohe Sicherheitsanforderungen an die Begehbarkeit der Treppe zu stellen. Diesen Anforderungen genügte die Treppe nicht.

Der Unfall des Klägers beruht auf dem Fehlen dieser Sicherheitseinrichtungen. Sie sind typischerweise dazu bestimmt und auch geeignet, Treppenstürze zu verhindern, und sei es auch nur dadurch, daß der Benutzer der Treppe Handlauf bzw. Geländer in der konkreten Gefahrensituation ergreift (BGH VersR 86, 916). Abgesehen davon geht von ihnen eine Warnfunktion aus; sie vermindern das Risiko, daß die Treppe übersehen wird. Die Ursächlichkeit eines fehlenden Handlaufs bzw. Geländers für einen Treppensturz folgt zwar noch nicht allein daraus, daß ein Verletzter überhaupt im Treppenbereich gestürzt ist. Vielmehr bedarf es insoweit näherer Angaben über Art und Verlauf des Sturzes, insbesondere dazu, ob sich der Verletzte in Griffnähe der für das Geländer bzw. für den Handlauf vorgesehenen Stelle befunden hat und in welcher Reaktionsbereitschaft er von dem ersten Straucheln betroffen worden ist (vgl. BGH VersR 74, 263). Hier ist der Senat aber davon überzeugt, daß der Unfall vermieden worden wäre, wenn die erforderlichen Sicherheitseinrichtungen vorhanden gewesen wären.

Der Kläger ist zu Fall gekommen, weil er bereits die erste Stufe übersehen hat, als er die Treppe erreichte. Die näherenEinzelheiten hierzu können den Aussagen der Zeugen und entnommen werden. Nach den Bekundungen des Zeugen hat sich der Kläger nicht etwa nach hinten umgeschaut, sondern er schaute in Gehrichtung. Aus der Aussage des Zeugen geht aber hervor, daß der Kläger die Treppe verfehlt hat, weil er diesen Zeugen anblickte, der mit einem „Schweinekostüm“ für die kurz bevorstehende Aufführung vor den

Senioren der Reisegruppe bekleidet nahe der Treppe auf seinen Auftritt wartete. Wären Handlauf und Geländer vorhanden gewesen, hätte der Kläger trotz der Ablenkung die Treppe wahrgenommen und instinktiv nach Handlauf bzw. Geländer gegriffen. Hätte es auf der 3,27 m breiten Treppe zumindest in der Mitte ein Geländer gegeben, dann hätte der Kläger dieses auch mit seinen Händen erreicht. Denn nach der Aussage der Zeugin ist der Kläger im mittleren Bereich der Treppe gefallen. Von hier aus hätte sich das zu fordernde Geländer in Griffweite befunden. Die weitere Frage, ob ein erreichbarer Handlauf bzw. ein erreichbares Geländer den Sturz des, Klägers vollständig verhindert hätte, kann dahinstehen. Denn zur Begründung einer Haftung der Beklagten genügt es schon, daß der Sturz des Klägers jedenfalls abgemildert worden wäre, wenn der Kläger einen Handlauf bzw. ein Geländer erfaßt hätte (vgl. BGH VersR 86, 916).

Die somit schadensersatzpflichtige Beklagte hat den Schaden des Klägers jedoch nicht allein zu tragen. Vielmehr muß sich der Kläger gemäß 254 BGB sein Mitverschulden im Umfang von 1/3 anspruchskürzend entgegenhalten lassen.

Das Eigenverschulden des Klägers liegt darin, daß er dem Weg und der Treppe vor sich nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt hat. Er kannte die Treppe, weil der Weg seiner Reisegruppe in den Veranstaltungssaal, wie die Aussage des Zeugen er geben hat, über diese Treppe geführt hatte und der Kläger die Treppe auf dem Weg zur Toilette zumindest ein weiteres Mal benutzt hatte. Die Treppe war auch trotz ihrer dunklen Farbe selbst dann für einen achtsamen Benutzer hinreichend erkennbar, wenn zum Unfallzeitpunkt nicht alle Lichtquellen in dem Treppenhaus eingeschaltet gewesen sein sollten. Im übrigen hätte sich der Kläger dann, wenn er den Weg vor sich wegen unzureichender Ausleuchtung nicht deutlich hätte sehen können, vorsichtig vortasten oder umkehren müssen. Das Verschulden des Klägers wiegt nur halb so schwer wie dasjenige der Beklagten. Der Kläger hat sich durch den mit einem „Schweinekostüm“ verkleidet auf seinen Auftritt wartenden Zeugen ablenken lassen, ist also nur einen kurzen Augenblick lang unaufmerksam gewesen. Daß er zusätzlich alkoholisiert gewesen ist, kann hingegen nicht festgestellt werden, denn angesichts der Aussagen der Zeugen und ist Alkoholkomsum im Umfange von mehr als den unstreitigen zwei bis drei Schluck Bier kurz vor dem Unfall nicht bewiesen. Demgegenüber hat es die Beklagte an der gerade bei dem speziellen Besucherverkehr in ihrer Gaststätte erforderlichen Sicherheit fehlen lassen, obwohl die Anbringung von Handlauf und Geländer keine unangemessen hohen Kosten verursacht haben würde. Noch weiteres unfallursächliches Fehlverhalten ist der Beklagten indessen nicht anzulasten. Wie das Landgericht bereits überzeugend dargelegt hat, ist nicht bewiesen, daß der Treppenbereich trotz des dunklen Bodenbelags unzureichend ausgeleuchtet gewesen oder die Stufen unzureichend durch Farbstreifen kenntlich gemacht worden sind. Im übrigen kann der Beklagten neben dem Vorwurf, von der Installation von Handlauf und Geländer abgesehen zu haben, nicht zusätzlich zur Last gelegt werden, auf die gefährliche Treppe nicht durch ein Hinweisschild aufmerksam gemacht zu haben. Insgesamt erschien es angemessen, den Schadensverursachungsanteil der Beklagten auf lediglich 2/3 zu veranschlagen.

2. Hemd, Jacke und Brille des Klägers sind beschädigt worden. Hierdurch ist dem Kläger ein der Höhe nach unstreitiger materieller Schaden von 929,40 DM entstanden. Davon 2/3, also 619, 60 DM muß die Beklagte tragen.

3. Der Kläger hat sich eine offene distale Unterarmtrümmerfraktur rechts, eine mediale Schenkelhalsfraktur rechts, eine Gehirnerschütterung sowie Platzwunden am Kopf zugezogen. Angesichts dieser Verletzungen muß der Kläger mit dem Eintritt, auch künftiger Schäden sowohl materieller als auch immaterieller Art rechnen, die nach Art und Ausmaß heute noch nicht hinreichend absehbar sind. Aus diesem Grunde mußte dem Feststellungsbegehren nach Maßgabe der Schadensverursachungsanteile stattgegeben werden.

4. Ebenso ist die bezifferte Schmerzensgeldforderung des Klägers in dem durch das Eigenverschulden eingeschränkten Umfange gerechtfertigt. Über den Schmerzensgeldbetrag läßt sich jedoch nach bisherigen Sach- und Streitstand noch nicht abschließend entscheiden. Die nach chirurgischen und orthopädischen Aspekten zu beurteilenden Verletzungen und Verletzungsfolgen sind zwischen den Parteien zwar nicht streitig. Die Beklagte bestreitet aber, daß der Herzinfarkt, den der Kläger während seiner stationären Behandlung erlitten hat, sowie die im Attest des Arztes vom 9.8.1999 beschriebenen Folgen des Herzinfarktes ursächlich auf den Unfall zurückzuführen sind. Insoweit bedarf es weiterer Beweisaufnahme. Im Umfange der bezifferten Schmerzensgeldforderung hat der Senat daher lediglich gemäß § 304 ZPO über den Grund des Anspruchs entschieden und die Sache gemäß § 538 Abs. 1 Nr. 3 ZPO zur weiteren Verhandlung an das Landgericht zurückverwiesen.

5. Der Zinsanspruch folgt aus §§ 291, 288 BGB.

Über die Kosten des Rechtsstreits einschließlich derjenigen des Berufungsverfahrens wird das Landgericht zu entscheiden haben.

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