BGH, Urteil vom 17. Oktober 1978 – VI ZR 213/77
1. Eine Klägerin, deren Rentenansprüche aus BGB § 844 Abs 2 bei Wiederverheiratung durch Begründung eines gleichwertigen Unterhaltsanspruchs entfallen, braucht keine Feststellungsklage zu erheben, um künftige, nach Auflösung der zweiten Ehe wieder begründete Ansprüche zu sichern. Für diese beginnt mit der Auflösung der zweiten Ehe die Verjährungsfrist des BGB § 852 neu zu laufen.
(Leitsatz des Gerichts)
Tatbestand
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Die Klägerin, eine Berufsgenossenschaft, macht aus übergegangenem Recht (§ 1542 RVO, §§ 823, 844 Abs 2 BGB) Ersatzansprüche aus Anlaß eines tödlichen Unfalls ihres Versicherten M. K. vom 6. März 1964 geltend, den der bei der Beklagten haftpflichtversicherte Fahrer und Halter des unfallbeteiligten Pkw verschuldet hat. Die Beklagte hat die von der Klägerin erhobenen Regreßansprüche auf der Grundlage einer vollen Haftung ihres Versicherungsnehmers bis zum 10. April 1969 reguliert. An diesem Tag ging die Witwe K. eine neue Ehe ein; die Klägerin zahlte ihr nach § 615 RVO eine Abfindung. Die letzte Anforderung der Klägerin, mit der sie bei der Beklagten ihre Ansprüche für die Zeit vom 1. Januar bis 10. April 1969 anmeldete, ist vom 17. Februar 1970. Diese Beträge hat die Beklagte alsbald überwiesen. Seitdem hat sie für die Witwe nichts mehr bezahlt.
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Die zweite Ehe der Witwe wurde am 6. März 1975 geschieden, so daß die Klägerin gemäß § 615 Abs 2 RVO wieder Witwenbezüge gewähren mußte. Infolgedessen trat sie im Februar 1975 erneut an die Beklagte heran, die jedoch die neuen Ansprüche wegen Verjährung ablehnte.
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Die Klägerin hat (unter Berücksichtigung der von der Landesversicherungsanstalt gezahlten Witwenrente) für den Zeitraum vom 7. März bis 21. Dezember 1975 einen Betrag von 4.083,46 DM eingeklagt und die Feststellung weiterer Ersatzverpflichtung der Beklagten begehrt.
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Die Beklagte hat die Einrede der Verjährung erhoben.
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Beide Instanzen haben verneint, daß die Ansprüche verjährt seien, und der Klage stattgegeben.
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Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiter.
Entscheidungsgründe
I.
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Das Berufungsgericht hält die Ansprüche nicht für verjährt. Es meint, die Verjährungsfrist des § 852 BGB habe für die hier geltend gemachten Ansprüche erst zu laufen begonnen, als die Klägerin im März 1975 Kenntnis von der Scheidung der zweiten Ehe erlangt gehabt habe. Somit sei die Verjährungsfrist bei Erhebung der Klage noch nicht abgelaufen gewesen.
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Hilfsweise erwägt das Berufungsgericht, die Einrede der Verjährung greife jedenfalls deshalb nicht durch, weil der von der Beklagten in einem Schreiben vom 21. November 1967 erklärte Verzicht auf Erhebung der Verjährungseinrede den Einwand unzulässiger Rechtsausübung rechtfertige.
II.
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Die Revision hat keinen Erfolg. Die Unterhaltsersatzansprüche der Witwe und damit die Regreßansprüche der Klägerin sind nicht verjährt.
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1. Unzutreffend ist allerdings der Hinweis der Revisionserwiderung, die Verjährungsfrist sei nach § 3 Nr 3 Satz 3 PflVG mit der Anmeldung der Ansprüche bei der Beklagten im Jahre 1964 gehemmt gewesen. Dieses Gesetz ist erst am 1. Oktober 1965 in Kraft getreten; ihm kommt keine rückwirkende Kraft zu (BGHZ 54, 157, 159, 160; Senatsurt v 3. November 1970 – VI ZR 76/69 = VersR 1971, 180). Aus der Tatsache, daß die Beklagte ihre Passivlegitimation nicht bestreitet, sich also so behandeln lassen will, als hätte die durch § 3 Nr 1 PflVG eingeführte Direktklage gegen den Haftpflichtversicherer bereits zur Unfallzeit gegolten – wovon beide Instanzen unangefochten ausgehen (vgl dazu Senatsurt v 23. April 1974 – VI ZR 188/72 = VersR 1974, 906, 907) -, kann nicht gefolgert werden, daß sie auch die verjährungshemmende Wirkung des § 3 Nr 3 Satz 3 PflVG gegen sich gelten lassen will. Hierfür fehlt jeder Anhaltspunkt. Daher kommt es nicht darauf an, ob hier überhaupt diese Wirkung eintreten konnte und weiterbestanden hätte.
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2. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Erwägungen der Hilfsbegründung des angefochtenen Urteils revisionsrechtlich angreifbar sind; schon die Hauptbegründung des Berufungsgerichts trägt die Entscheidung, wenn auch nur im Ergebnis.
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a) Ausgangspunkt der Betrachtungsweise muß der dem Rechtsübergang zugrundeliegende Rentenanspruch der Witwe wegen Verlust ihres Rechts auf Unterhalt (§ 844 Abs 2 BGB und § 10 Abs 2 StVG) sein und nicht die Regelung, die die Reichsversicherungsordnung für den Fall der Wiederverheiratung der Witwe und der Auflösung dieser zweiten Ehe (durch Tod, Scheidung oder Aufhebung) in § 615 vorsieht; der (auf Antrag) wiederauflebenden Zahlungsverpflichtung des Sozialversicherungsträgers kommt – wenn er wie hier Ansprüche aus abgeleitetem Recht geltend macht (§ 1542 RVO) – lediglich die Bedeutung einer zusätzlichen Anspruchsvoraussetzung, nämlich hinsichtlich seiner Aktivlegitimation, zu. Anders als nach § 615 Abs 1 RVO endigte der bürgerlich-rechtliche Ersatzanspruch der Witwe gegen den Schädiger nicht grundsätzlich mit ihrer Wiederverheiratung; dies hat schon das Reichsgericht unter Bezugnahme auf die Motive zum BGB (2/785) entschieden (JW 1905, 143, 144; HRR 1934 Nr 1023; DR 1940, 163 Nr 16; ebenso OGHZ 1, 317, 321) und der Bundesgerichtshof hat dies wiederholt bestätigt (BGHZ 26, 282, 293, 294; vgl auch Senatsurteile vom 11. Juli 1958 – VI ZR 181/57 = VersR 1958, 627 und vom 28. Januar 1969 – VI ZR 220/67 = VersR 1969, 424). Wohl muß sich die Witwe insoweit, als ihr die Realisierung eines durch ihre Wiederverheiratung begründeten neuen Unterhaltsanspruchs möglich und zuzumuten ist, diesen Umstand als schadensmindernden Faktor anrechnen lassen (vgl für die Wiederheirat eines Witwers Urt v 16. Februar 1970 – III ZR 183/68 = VersR 1970, 522 mwNachw). Sie behält also ihren Ersatzanspruch insoweit, als ihr durch die neue Ehe nur eine geringere Versorgung als die zukommt, die ihr erster Mann ihr ohne den Unfall hätte gewähren müssen. Wird dann auch die neue Ehe aufgelöst – sei es, wie hier, durch Scheidung, sei es durch Tod -, so ist der Anspruch aus § 844 Abs 2 BGB wieder in ursprünglichem Umfang gegeben. Die Wiederheirat der Witwe und eine demnächstige Auflösung dieser zweiten Ehe beeinflussen somit nur die Höhe des Ersatzanspruchs.
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b) Für die Verjährungsfrist des § 852 BGB oder des § 14 StVG usw ist nun allerdings bei Rentenansprüchen auf das „Stammrecht“, aus dem die Rechte auf die einzelnen wiederkehrenden Leistungen fließen (RGZ 136, 427, 430), abzustellen (Senatsurt v 3. Juli 1973 – VI ZR 38/72 = VersR 1973, 1066); hat der Berechtigte das Stammrecht verjähren lassen, so sind auch alle seine Ansprüche auf die jeweilig fällig gewordenen Rentenleistungen verjährt (Senatsurt v 11. Juli 1972 – VI ZR 85/71 = VersR 1972, 1078 mwNachw). Daraus folgt aber nicht, daß für alle aus diesem Stammrecht abgeleiteten künftigen Ansprüche die Verjährungsfrist stets einheitlich bereits mit der Kenntnis des (durch Verlust des Rechts auf Unterhalt) eingetretenen Schadens zu laufen begonnen hat. Im Streitfall begann die Frist auch nicht dann wieder zu laufen, als die Beklagte ihre Zahlungen wegen der Wiederverheiratung der Witwe einstellte.
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aa) Allerdings kommt es nicht – wie das Berufungsgericht meint – darauf an, ob für die Verletzte oder hier den Versicherungsträger (BGHZ 48, 181, 182) bereits im Zeitpunkt der Wiederheirat die Neuentstehung ihrer Rentenansprüche als Folge der Scheidung dieser Ehe als möglich voraussehbar war. Zwar hat der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung entschieden (BGHZ 67, 372, 373; Senatsurt v 20. Dezember 1977 – VI ZR 190/75 = VersR 1978, 350), daß für die Kenntnis iS von § 852 BGB bzw § 14 StVG volle Überschaubarkeit von Umfang und Höhe des Schadens nicht erforderlich ist, daß vielmehr der gesamte aus dem Delikt entspringende Schaden für den Beginn der Verjährungsfrist eine Einheit darstellt und darum auch solche Schadensfolgen als bekannt gelten, die im Zeitpunkt der Erlangung jener Kenntnis als möglich voraussehbar waren. Dieser Grundsatz betrifft Entwicklungen des Schadens, die bereits mit dem Schadensereignis in der Person des Geschädigten angelegt waren und vorwiegend als sog „Spätfolgen“ einer Körperverletzung lediglich nachträglich offenbar wurden. Von diesem Grundsatz hat die Rechtsprechung nur für sog „Spätschäden“ eine Ausnahme gemacht, nämlich für Schadensfolgen, die nicht voraussehbar waren, sondern sich erst später gänzlich unerwartet einstellen (vgl Senatsurt v 30. Januar 1973 – VI ZR 4/72 = VersR 1973, 371). Diesem Sonderfall will das Berufungsgericht die hier gewiß nicht erwartete, aber doch nicht unvorhersehbare Auflösung der neuen Ehe gleichstellen. Darin vermag ihm der Senat nicht zu folgen.
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bb) Wohl aber zeigt dieser von der Rechtsprechung anerkannte Sonderfall, daß die dem Geschädigten unter Umständen schädliche Kenntnis von späteren Schadensfolgen rechtlich nicht immer damit schon gegeben ist, wenn er diese Folgen hatte voraussehen können und ihm aus dieser Sicht hätte zugemutet werden können, zum Schutz gegen eine etwa drohende Verjährungseinrede sogleich vorbeugend Feststellungsklage zu erheben. Handelt es sich wie im Streitfall um Schwankungen der Höhe eines (dem Grunde nach unstreitigen) Unterhaltsschadens oder auch Erwerbsschadens, die unabhängig vom Schadensereignis und seinen Folgen durch andere äußere Umstände ausgelöst werden, so muß auch hier angenommen werden, daß für derartige Ansprüche eine neue Verjährungsfrist zu laufen beginnt. Der Geschädigte ist nicht verpflichtet, Feststellungsklage zu erheben.
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Dies hat der Senat bereits für den Fall, daß fortlaufend zu zahlende Schadensrenten an das allgemeine Lohngefüge und Preisgefüge angepaßt werden müssen, entschieden (BGHZ 33, 112, 116). Nach jener Entscheidung liegt eine „neue“ Schadensfolge vor, wenn die Voraussetzungen für eine Abänderungsklage nach § 323 ZPO eingetreten sind (zB wenn die Lebenshaltungskosten durch die fortschreitende Geldentwertung erheblich steigen); für den dadurch begründeten Erhöhungsanspruch beginnt eine neue Verjährungsfrist in dem Augenblick zu laufen, in welchem der Gläubiger die Kenntnis gewonnen hat, daß es sich hier um eine nachhaltige Entwicklung handelt (wobei zu seinem Schutz strenge Anforderungen an die Feststellung einer solchen Kenntnis zu stellen sind). Die Entscheidung hat ua darauf hingewiesen, bei einer solchen Sachlage könne „der Schadensschuldner von vornherein nicht im Zweifel darüber sein, daß die geldmäßige Bezifferung einer langfristigen Rentenforderung, die den Erwerbsschaden oder Unterhaltsschaden des Gläubigers ausgleichen soll, nicht in dem Sinn endgültig fixiert ist, daß sie von einer wesentlichen Änderung der Bemessungsfaktoren des allgemeinen Lohngefüges und Preisgefüges unberührt bleibt“.
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Im Streitfall handelt es sich zwar nicht um die Anpassung an veränderte allgemeine Verhältnisse, vielmehr haben sich die persönlichen Verhältnisse des Geschädigten in einer von diesem nicht erwarteten Weise geändert. Auch dann aber beginnt die Verjährungsfrist für langfristige Rentenleistungen von neuem zu laufen. Dies ist – in Abweichung von den Erwägungen jener Entscheidung, aber mit derselben Zielvorstellung (s Anm Hauß zu BGHZ 33, 112 in LM BGB § 852 Nr 15, der mit beachtlichen Gründen vorschlägt, in derartigen Fällen die Verjährungseinrede grundsätzlich auszuschließen; vgl Johannsen in RGRK-BGB 12. Aufl Rdz 11 zu § 198) – in konsequenter Anpassung an die vergleichsweise herangezogenen Voraussetzungen einer Abänderungsklage (§ 323 ZPO), bei der die „wesentliche Änderung der Verhältnisse“ auch in der Person des Berechtigten (oder Verpflichteten) begründet sein kann, zu bejahen. Dies folgt aus Sinn und Zweck der Regelung in § 852 BGB, die auf einer Abwägung zweier Belange beruht: Einerseits gewährt die Bestimmung dem in Anspruch Genommenen durch Festsetzung einer verhältnismäßig kurzen Verjährungsfrist die Sicherheit, sich von einem bestimmten Zeitpunkt ab darauf verlassen und einrichten zu dürfen, daß nicht ausgeübte Rechte entweder nicht bestehen oder nicht mehr schutzwürdig sind (BGHZ 17, 199, 206). Andererseits trägt diese Bestimmung den berechtigten Belangen des Geschädigten dadurch Rechnung, daß die Frist erst ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, in dem er Kenntnis von dem Schaden erlangt hat. Eine angemessene Verteilung des durch Zeitablauf entstehenden Risikos (vgl BGHZ aaO S 207) läßt es aber ersichtlich unzumutbar erscheinen, vom Geschädigten zu verlangen, bereits im Zeitpunkt der Wiederheirat Vorsorge dafür treffen zu müssen, daß seine Rentenansprüche mit einer Auflösung der neu geschlossenen Ehe (durch Tod des Partners, Scheidung usw) möglicherweise wieder (zum Teil oder auch ganz) gerechtfertigt sind. Auf einen derartigen, im Zeitpunkt der Wiederheirat in der Regel völlig ungewissen, oft schicksalsmäßigen Verlauf braucht der Berechtigte sich nicht einzustellen. Andererseits wird der Schädiger damit, daß dem Berechtigten für später etwa wieder (ganz oder teilweise) begründete Rentenansprüche eine neu beginnende Verjährungsfrist zugebilligt wird, auch nicht unbillig benachteiligt, da der Gesichtspunkt, ihm durch größeren Zeitverlust bedingte Beweisschwierigkeiten zu ersparen (so Motive 2, 291) ohnehin entfällt, wenn der Grund des Anspruchs unstreitig ist. Zu seinen Gunsten wäre somit lediglich zu berücksichtigen, daß die Verjährung auch den Zweck verfolgt, Rechtssicherheit und Rechtsfrieden zu stiften. Aber auch diesem Gesichtspunkt kommt bei langfristigen Rentenansprüchen kein entscheidendes Gewicht zu, weil sich der Schädiger – auch wenn seine Verpflichtung sich vorübergehend ermäßigt oder ganz fortfällt (die Witwe hat, wie im Streitfall, einen sie ebensogut versorgenden Mann geheiratet; der Erwerbsgeminderte hat für einige Zeit Arbeit gefunden, in der er ebensoviel verdient usw) – stets darauf einstellen muß, erneut in Anspruch genommen zu werden. Es würde eine mit Sinn und Zweck der in Frage stehenden Verjährungsregelung nicht zu vereinbarende reine Formalie darstellen, wollte man von der Witwe verlangen, bereits im Zeitpunkt ihrer Wiederverheiratung für den Fall einer Verschlechterung oder gar des Wegfalls ihrer Unterhaltsansprüche vorsorglich Feststellungsklage erheben zu müssen. Im Gegenteil: im allgemeinen würde ein rechtliches Interesse an dieser Klage zu verneinen sein. Dieses Ergebnis entspricht auch der zu § 323 ZPO für Rentenurteile (oder vergleichbare Schuldtitel) ergangenen Rechtsprechung (s BGHZ 34, 110, 119).
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Das angefochtene Urteil war somit im Ergebnis zu bestätigen.