Zur außerordentlichen fristlosen Kündigung eines schuldlos den Hausfrieden störenden Mieters

BGH, Urteil vom 08.12.2004 – VIII ZR 218/03

Zur außerordentlichen fristlosen Kündigung eines schuldlos den Hausfrieden störenden Mieters

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Einzelrichters der 3. Zivilkammer des Landgerichts Freiburg vom 27. Juni 2003 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.

Von Rechts wegen

Tatbestand
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Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer fristlosen Kündigung.

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Die Klägerin, eine städtische Wohnungsbaugesellschaft, hat mit Mietvertrag vom 1. November 1980 an die Beklagte eine 2-Zimmerwohnung im zweiten Obergeschoß eines Mehrfamilienhauses in F., H. straße 6 vermietet. Seit längerer Zeit verursacht die Beklagte, insbesondere zur Nachtzeit, ruhestörenden Lärm, indem sie auf dem Boden herumtrampelt und mit Gegenständen gegen Heizrohre und Heizkörper schlägt. Durch dieses Verhalten stört die Beklagte das Zusammenleben der Hausbewohner empfindlich; am stärksten betroffen ist der Mieter N., der die unter der Wohnung der Beklagten liegenden Wohnung innehat, und für den nach den tatrichterlichen Feststellungen die Situation „unerträglich“ geworden ist.

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Das Verhalten der jetzt 77 Jahre alten, alleinstehenden Beklagten beruht auf einer schweren psychischen Erkrankung. Nach einem vom Berufungsgericht eingeholten Sachverständigengutachten leidet sie unter Verfolgungswahn. Sie hört ständig Stimmen und versucht, sich der vermeintlichen Angriffe durch den geschilderten Lärm zu erwehren. Wegen der Erkrankung ist für die Beklagte eine Betreuerin bestellt worden.

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Nach mehrfacher erfolgloser Abmahnung hat die Klägerin mit Schreiben vom 25. Juni 2001 den Mietvertrag wegen nachhaltiger Störung des Hausfriedens fristlos gekündigt. Die Beklagte hält die Kündigung für unwirksam und weigert sich, die Wohnung zu räumen.

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Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin die Räumung und Herausgabe der Wohnung. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren Klageantrag weiter.

Entscheidungsgründe
I.

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Das Berufungsgericht hat im wesentlichen ausgeführt:

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Prüfungsmaßstab für die Frage, ob die von der Klägerin ausgesprochene fristlose Kündigung begründet sei, seien nach Art. 229 § 3 Abs. 1 Nr. 1 EGBGB die §§ 543, 569 BGB. Danach sei die Klägerin, wäre die Beklagte nicht psychisch krank, berechtigt, das Mietverhältnis fristlos zu kündigen, weil die vom Amtsgericht festgestellten Ruhestörungen den Hausfrieden schwer beeinträchtigten und die Beklagte erfolglos abgemahnt worden sei. Nach den genannten Bestimmungen seien jedoch die Interessen des Vermieters und des Mieters abzuwägen. Dabei wirkten sich zu Gunsten der Beklagten vor allem ihre psychische Erkrankung sowie die Tatsache aus, daß sie bereits seit 21 Jahren in der innegehabten Wohnung lebe. Ein Räumungsurteil und ebenso die Vollstreckung eines solchen Urteils empfinde sie, wie der Sachverständige ausgeführt habe, als Angriff gegen ihre Person. Es sei daher mit psychischen Reaktionen zu rechnen, wobei die Möglichkeit einer Selbsttötung oder eines sog. „Totstellreflexes“ mit apathischem Verhalten und Verweigerung der Nahrungsaufnahme im Vordergrund stünden. Unter diesen Umständen könne die Beklagte derzeit nicht zur Räumung der Wohnung verurteilt werden, wobei insbesondere auch die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätze zum Vollstreckungsschutz in Räumungsverfahren zu berücksichtigen seien.

II.

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Diese Erwägungen halten der rechtlichen Überprüfung stand.

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1. Ob der rechtliche Ausgangspunkt des Berufungsgerichts, Prüfungsmaßstab für die Wirksamkeit der fristlosen Kündigung seien die §§ 543, 569 BGB in der Fassung des Mietrechtsreformgesetzes vom 19. Juni 2001, uneingeschränkt zutrifft, erscheint allerdings fraglich; denn die von der Klägerin ausgesprochene fristlose Kündigung ist der Beklagten vor dem 1. September 2001 – dem Datum des Inkrafttretens des Mietrechtsreformgesetzes – zugegangen. Für diese Fälle schreibt die Übergangsbestimmung des Art. 229 § 3 Abs. 1 Nr. 1 EGBGB, abweichend von dem Grundsatz der sofortigen Anwendbarkeit der neuen Regelungen, die Weitergeltung einer Reihe von Normen in der alten Fassung vor. Daß die Vorschrift des § 554a BGB (a.F.) dort nicht aufgeführt ist, beruht möglicherweise auf einem durch den Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens (vgl. dazu Haas, Das neue Mietrecht – Mietrechtsreformgesetz, S. 232 ff.) bedingten Redaktionsversehen; immerhin setzt der an ihre Stelle getretene § 569 Abs. 2 BGB das schuldhafte Verhalten einer Vertragspartei nicht mehr als zwingendes Erfordernis voraus. Im Hinblick auf diese inhaltliche Änderung der Bestimmung hätte es nach der Systematik der Übergangsregelung des Art. 229 § 3 Abs. 1 Nr. 1 EGBGB (vgl. dazu die Begründung des Regierungsentwurfs zum Mietrechtsreformgesetz, BT-Drucks. 14/4553, S. 75 f.; Jansen, NJW 2001, 3151, 3152 unter II 1) nahe gelegen, § 554a BGB ebenfalls dort aufzuführen und seine Weitergeltung für Fälle der vorliegenden Art vorzuschreiben.

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Die Frage kann jedoch dahingestellt bleiben. Denn auch nach dem Rechtszustand, wie er vor dem Inkrafttreten des Mietrechtsreformgesetzes bestand, war die Möglichkeit einer fristlosen Kündigung aus wichtigem Grund bei schuldlosem Verhalten des Kündigungsgegners anerkannt (vgl. z.B. Schmidt-Futterer/Blank, Mietrecht, 7. Aufl., § 553 Rdnr. 2 und 46; Emmerich/Sonnenschein, Miete, 7. Aufl., § 553 Rdnr. 14; Haas, aaO, § 569 Rdnr. 2); sie war insbesondere nicht durch die Spezialvorschrift des § 554a BGB a.F. ausgeschlossen (Senatsurteil vom 7. Juli 1971 – VIII ZR 10/70, WM 1971, 1300 unter 3).

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2. Dieser vor dem Inkrafttreten des Mietrechtsreformgesetzes bestehende Rechtszustand hinsichtlich der fristlosen Kündigung aus wichtigem Grund ist nunmehr durch die für das gesamte Mietrecht geltende allgemeine Kündigungsvorschrift des § 543 BGB kodifiziert worden. Sie setzt – wie § 553 BGB a.F. – zwar kein Verschulden, wohl aber, soweit der Kündigungsgrund in der Verletzung einer Pflicht aus dem Mietvertrag besteht, im Regelfall eine erfolglose Abmahnung, die hier gegeben ist, voraus (§ 543 Abs. 3 BGB). Jedenfalls für die vorliegende Fallgestaltung, bei der der schuldlos handelnde Mieter durch sein Verhalten den Hausfrieden nachhaltig stört und dadurch seine mietvertragliche Pflicht zur Wahrung des Hausfriedens in erheblicher Weise verletzt, enthält die neue Bestimmung des § 543 BGB keine inhaltliche Änderung gegenüber dem bisherigen Rechtszustand. Gegen ihre Anwendung auch auf eine vor dem 1. September 2001 zugegangene Kündigung bestehen deshalb – anders als bei § 569 BGB n.F. – keine Bedenken.

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3. Nach § 543 Abs. 1 Satz 1 BGB kann jede Partei das Mietverhältnis aus wichtigem Grund fristlos kündigen. Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eines Verschuldens der Vertragsparteien, und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Mietverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zur sonstigen Beendigung des Mietverhältnisses nicht zugemutet werden kann (Satz 2 aaO).

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Danach begegnet die vom Berufungsgericht – auch unter dem Gesichtspunkt des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) sowie des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 GG) und des Rechtsstaatsprinzips – vorgenommene Abwägung zwischen den Belangen der Beklagten einerseits und der Klägerin sowie der übrigen Mieter andererseits aus Rechtsgründen keinen durchgreifenden Bedenken. Soweit die Revision meint, diese Abwägung sei erst im Rahmen der Härteklausel des § 574 BGB vorzunehmen, verkennt sie, daß bereits § 543 Abs. 1 Satz 2 BGB eine solche Abwägung ausdrücklich vorschreibt. Im übrigen ist die Härteklausel (§ 574 Abs. 1 Satz 1 BGB) nach § 574 Abs. 1 Satz 2 BGB ohnehin nicht anzuwenden, wenn ein Grund vorliegt, der den Vermieter zur außerordentlichen fristlosen Kündigung berechtigt.

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4. Die Abwägung der Umstände des Einzelfalles obliegt in erster Linie dem Tatrichter. Vom Revisionsgericht kann sie nur daraufhin überprüft werden, ob sie auf einer rechtsfehlerfrei gewonnenen Tatsachengrundlage beruht, alle relevanten Gesichtspunkte berücksichtigt worden sind und ob der Tatrichter den zutreffenden rechtlichen Maßstab angewandt hat (st. Rspr., z.B. Senatsurteile vom 12. März 2003 – VIII ZR 197/02, WM 2003, 2103 = NJW-RR 2003, 981 unter III, und vom 20. Oktober 2004 – VIII ZR 246/03 unter II 2). Der Prüfung an diesem Maßstab hält das Berufungsurteil stand. Das Landgericht hat auf der Grundlage eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens fehlerfrei festgestellt, bei der Beklagten bestehe schon bei Erlaß eines Räumungsurteils – also nicht erst bei dessen Vollstreckung – die ernsthafte Gefahr eines Suizids oder jedenfalls eines sog. „Totstellreflexes“ mit völliger Apathie, Verweigerung der Nahrungsaufnahme und ähnlichen schwerwiegenden Folgen. Wenn das Berufungsgericht bei der Abwägung der berechtigten und gewichtigen Belange der Klägerin und des Mitmieters N., dessen Interessen die Klägerin als Vermieterin ebenfalls wahrzunehmen hat, mit den Belangen der Beklagten letzteren den Vorrang eingeräumt hat, so ist dies aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat das Landgericht auf die auch im Erkenntnisverfahren, insbesondere im Rahmen einer vom Gesetz (hier: § 543 Abs. 1 BGB) ausdrücklich vorgeschriebenen umfassenden Abwägung zu berücksichtigenden Wertentscheidungen des Grundgesetzes abgestellt. Unter diesem Blickwinkel ist die Entscheidung des Berufungsgerichts bedenkenfrei.

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