Zur Rechtswidrigkeit einer Schulentlassung als Ordnungsgemaßnahme

Bayerischer VGH, Urteil vom 13.06.2012 – 7 B 11.2651

Zur Rechtswidrigkeit einer Schulentlassung als Ordnungsgemaßnahme

Tenor

I. Unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 20. Juli 2011 wird festgestellt, dass die mit Bescheid der Beklagten vom 23. März 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Juni 2009 ausgesprochene Entlassung des Klägers von der Schule rechtswidrig war.

II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, sofern nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen seine als Ordnungsmaßnahme ausgesprochene Entlassung von der Schule.

Der am … 1992 geborene Kläger, der inzwischen eine Ausbildung zum Bankkaufmann abgeschlossen hat, besuchte im Schuljahr 2008/2009 die Jahrgangsstufe 10 der städtischen A…Realschule (im Folgenden: Schule) in Nürnberg. Wegen einer körperlichen Auseinandersetzung mit einem Mitschüler zu Beginn des Unterrichts am 11. März 2009 schloss der Schulleiter den Kläger für drei Tage vom Unterricht aus und entband ihn von seinen Aufgaben als Schüler- und Klassensprecher. Aufgrund eines am 20. März 2009 einstimmig gefassten Beschlusses des Disziplinarausschusses wurde der Kläger mit Bescheid vom 23. März 2009 von der Schule entlassen. Er habe den Mitschüler D. durch Anwendung eines Griffs aus der Kampfsporttechnik am Auge und im Gesicht verletzt und auf den bereits am Boden Liegenden noch mehrmals eingetreten. Die Art des Ordnungsverstoßes, die Heftigkeit des Kontrollverlustes und Gewaltexzesses und die äußerst schwierige Situation für die Klasse und das Opfer würden die Verwirklichung des schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrags verhindern. Der Disziplinarausschuss habe wegen der extremen Brutalität der Tat und der psychischen Situation in der Klasse keine andere Möglichkeit als die sofortige Entlassung von der Schule gesehen.

Nach Zurückweisung des hiergegen eingelegten Widerspruchs mit Widerspruchsbescheid der Schule vom 24. Juni 2009 ließ der Kläger Klage beim Verwaltungsgericht Ansbach erheben und zuletzt die Feststellung beantragen, dass die Entlassung von der Schule rechtswidrig gewesen sei. Er habe zwischenzeitlich die Abschlussprüfung an einer anderen Realschule mit Erfolg abgelegt und eine Berufsausbildung begonnen. Das Fortsetzungsfeststellungsinteresse ergebe sich aus möglichen beruflichen Nachteilen aufgrund des bei Bewerbungen unter Umständen erklärungsbedürftigen Schulwechsels kurz vor Beendigung der Schulausbildung und des hiermit verbundenen Makels für den Kläger. Die Schule habe den Sachverhalt nicht ausreichend ermittelt, sei von unzutreffenden Voraussetzungen ausgegangen und habe den Kläger entlastende Umstände nicht hinreichend berücksichtigt. Der Disziplinarausschuss habe den betroffenen Mitschüler D., der den Kläger zuerst gegen dessen durch einen Unfall vorgeschädigtes und daher sehr schmerzempfindliches Bein getreten und ins Gesicht geschlagen habe, und weitere Schüler, die den Vorfall beobachtet hätten, nicht angehört. Außerdem sei die Entlassung wenige Monate vor der Abschlussprüfung unverhältnismäßig.

Mit Urteil vom 20. Juli 2011 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger habe zwar ein hinreichendes rechtliches Interesse an der beantragten Feststellung. Die Klage sei jedoch unbegründet. Der Kläger habe seinen Mitschüler unter Anwendung von Kampfsporttechniken durch einen gezielten Stoß mit dem Finger in das Gesicht erheblich verletzt. Auf die Frage, wer mit der Rangelei angefangen habe und ob der Kläger auf den Mitschüler eingetreten habe, komme es nicht an. Selbst wenn der Mitschüler den Kläger zuerst getreten haben sollte, habe dieser nicht unter Anwendung derartiger Mittel und in derartiger Aggressivität reagieren dürfen. Die Lehrerkonferenz bzw. der zur Entscheidung berufene Disziplinarausschuss habe bei der Verhängung von Ordnungsmaßnahmen ein sehr weites pädagogisches Ermessen und den hierdurch eröffneten Spielraum vorliegend nicht überschritten.

Zur Begründung der vom Senat zugelassenen Berufung lässt der Kläger ausführen, die Schule und das Ausgangsgericht hätten einen falschen und einseitig zu seinen Ungunsten verzerrten Sachverhalt zugrundegelegt, der nicht auf belastbaren Feststellungen beruhe. Die von der Schule wiedergegebenen Aussagen von Mitschülern würden ebenso wie die Stellungnahme der Klassenleiterin die Darstellung des Vorfalls nicht decken. Die von der Schule behauptete Brutalität, mit der der Kläger vorgegangen sein soll, sei in keiner Weise belegt. Nicht der Kläger, sondern zwei Mitschüler hätten den Schüler D. zunächst provoziert. Dieser habe daraufhin den bis dahin unbeteiligten Kläger vor das Schienbein getreten und dann ins Gesicht geschlagen. Die hierdurch verursachten Verletzungen des Klägers ergäben sich aus dem vorgelegten Attest. Erst dann habe der Kläger den Schüler D. zur Abwehr weiterer Schläge festhalten wollen. Es sei auch nicht zutreffend, dass der Kläger eine Kampfsportart erlernt und angewendet habe, die dem von der Schule unterstellten Vorgehen entspreche. Im Übrigen sei es unverhältnismäßig, den Kläger knapp vier Monate vor der Abschlussprüfung von der Schule zu entlassen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 20. Juli 2011 abzuändern und festzustellen, dass der Bescheid der Beklagten vom 23. März 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Juni 2009 rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Selbst wenn man den vom Kläger behaupteten Sachverhalt zugrundelegen würde, wäre die getroffene Maßnahme rechtmäßig und insbesondere verhältnismäßig. Die durch das Attest belegte Stichverletzung des Schülers D. am rechten Auge stimme nicht mit der Darstellung des Klägers überein, er habe seinen Mitschüler zur Vermeidung weiterer Angriffe nur festgehalten. Der Kläger habe bei seiner Reaktion mit einem Griff in die Augen mit entsprechender Gefahr für das Augenlicht die zulässigen Grenzen der Notwehr gegenüber einem unbewaffneten und eher ungezielt handelnden Angreifer überschritten. Hierdurch habe er die Erziehungsziele der Schule, insbesondere die Erziehung zu Toleranz und Friedfertigkeit, nachhaltig und schwer gefährdet. Unter Berücksichtigung des weiten pädagogischen Ermessens bei der Verhängung disziplinarischer Maßnahmen sei die Entlassung des Klägers von der Schule gerechtfertigt.

Der Senat hat Beweis erhoben über den Ablauf der körperlichen Auseinandersetzung am 11. März 2009 durch Einvernahme des betroffenen Mitschülers D., einer weiteren Mitschülerin (Do.) und der damaligen Klassenleiterin E. als Zeugen. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Ergänzend wird auf die vorgelegten Unterlagen der Beklagten, die vom Verwaltungsgericht beigezogene Akte der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth und die Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit dem Begehren, die Rechtswidrigkeit der Entlassung des Klägers von der Schule festzustellen, zu Unrecht abgewiesen.

1. Die Klage ist – wovon auch das Verwaltungsgericht zutreffend ausgegangen ist – nach der Erledigung der ausgesprochenen Entlassung durch den Schulwechsel des Klägers als Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO zulässig. Insbesondere hat der Kläger auch nach Beendigung der Schullaufbahn ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ordnungsmaßnahme. Bei einer Entlassung von der Schule ist ein Rehabilitationsinteresse zu bejahen, wenn nachteilige Auswirkungen auf die weitere schulische oder berufliche Laufbahn nicht ausgeschlossen werden können (BayVGH vom 19.2.2008 BayVBl 2009, 343).

Davon ist vorliegend auszugehen. Der Kläger steht nach dem Abschluss der Schule und der anschließenden Ausbildung noch am Beginn seines beruflichen Werdegangs. Bei Bewerbungen kann der Schulwechsel wenige Monate vor dem Abschluss erklärungsbedürftig sein. Der Kläger hat daher ein berechtigtes Interesse daran, durch eine gerichtliche Entscheidung, die die Rechtswidrigkeit seiner damaligen Entlassung feststellt, rehabilitiert zu werden.

2. Die Klage ist auch begründet. Die Entlassung des Klägers von der Schule war rechtswidrig.

Zwar kann bei massiver Gewaltanwendung oder -androhung gegenüber Mitschülern je nach den Umständen des Einzelfalls durchaus die Entlassung als Ordnungsmaßnahme in Betracht kommen. So kann beispielsweise die als ernsthaft empfundene Bedrohung eines Mitschülers mit einem Messer die Entlassung von der Schule rechtfertigen (BayVGH vom 4.6.2012 Az. 7 CS 12.451). Der von der Schule gegenüber dem Kläger erhobene Vorwurf, dieser habe den Mitschüler D. durch Anwendung eines Griffs aus der Kampfsporttechnik im Gesicht und am Auge verletzt und auf den am Boden Liegenden noch mehrmals in maßloser Wut eingetreten, wird jedoch weder durch die von der Schule dokumentierten Ermittlungen belegt noch hat er sich durch die Beweisaufnahme im Berufungsverfahren bestätigt. Die Unerweislichkeit geht nach den Grundsätzen der Verteilung der materiellen Beweislast zu Lasten der Beklagten (vgl. BVerwG vom 13.10.1988 BVerwGE 80, 290/296 m.w.N.; Geiger in: Eyermann, VwGO, 13. Auflage 2010, RdNr. 2a zu § 86).

18a) Nach Art. 86 Abs. 1 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Mai 2000 (GVBl S. 414, BayRS 2230-1-1-UK), zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Dezember 2011 (GVBl S. 689), können zur Sicherung des Bildungs- und Erziehungsauftrags oder zum Schutz von Personen und Sachen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Ordnungsmaßnahmen gegenüber Schülerinnen und Schülern getroffen werden, soweit andere Erziehungsmaßnahmen nicht ausreichen. Die (sofort vollziehbare) Entlassung von der Schule durch die Lehrerkonferenz (Art. 86 Abs. 2 Satz 1 Nr. 9, Abs. 14, Art. 87 BayEUG) bzw. durch den bei größeren Schulen an dessen Stelle tretenden Disziplinarausschuss (Art. 58 Abs. 1 Satz 3 BayEUG) greift empfindlich in die Rechtsstellung des betroffenen Schülers ein und ist mit erheblichen Nachteilen für ihn verbunden (Art. 55 Abs. 1 Nr. 5 BayEUG), auch wenn der entlassene Schüler seine Ausbildung an einer anderen Schule fortsetzen kann. Sie ist deshalb nur zulässig, wenn der Schüler durch schweres oder wiederholtes Fehlverhalten die Erfüllung der Aufgabe der Schule oder die Rechte anderer gefährdet hat (Art. 86 Abs. 7 BayEUG). Außerdem muss die Schule den Sachverhalt umfassend und zeitnah aufklären und ihre Ermittlungen sorgfältig dokumentieren (Kiesl/Stahl, Das Schulrecht in Bayern, Art. 86 BayEUG RdNr. 15, vgl. auch VGH BW vom 23.6.2009 NVwZ-RR 2009, 764). Hierzu bestimmen § 17 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 3 der Schulordnung für die Realschulen (Realschulordnung – RSO) vom 18. Juli 2007 (GVBl S. 458, BayRS 2234-2-UK), zuletzt geändert durch Verordnung vom 6. Juli 2009 (GVBl S. 308, ber. S. 346), dass die Untersuchung vom Schulleiter (Art. 57 BayEUG) oder einem beauftragten Mitglied der Lehrerkonferenz oder des Disziplinarausschusses zu führen und das Untersuchungsergebnis schriftlich niederzulegen ist.

Für die Ausübung des pädagogischen Ermessens bei der Entscheidung über die Entlassung als Ordnungsmaßnahme kommt es unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit vor allem darauf an, ob und in welchem Maß die Erfüllung des Schulzwecks gestört oder gefährdet und die Erziehungsverantwortung der Schule beeinträchtigt wurde, wie sie in Art. 131 BV, Art. 1 und Art. 2 BayEUG niedergelegt ist (BayVGH vom 19.2.2008 a.a.O. m.w.N.). Die pädagogischen Erwägungen der Lehrerkonferenz bzw. des Disziplinarausschusses haben sich daran zu orientieren, ob ein Verbleiben des Schülers an der betreffenden Schule im Hinblick auf die unbeeinträchtigte Erfüllung ihres Bildungs- und Erziehungsauftrags oder wegen des Schutzes Dritter, etwa der Mitschüler, nicht mehr hingenommen werden kann und ob dem Schüler in dieser Deutlichkeit und Konsequenz vor Augen geführt werden muss, dass sein Verhalten nicht geduldet werden kann. Hierbei hat das zuständige Gremium darauf zu achten, dass die Entlassung als empfindlichste Ordnungsmaßnahme, die die Schule selbst aussprechen kann, zur Schwere des zu ahndenden oder zu unterbindenden Verhaltens eines Schülers nicht außer Verhältnis steht.

Diese neben der objektiven Feststellung und Gewichtung der Schwere des Fehlverhaltens des Schülers vorwiegend nach pädagogischen Gesichtspunkten vorzunehmende Beurteilung der Person und des Verhaltens des betreffenden Schülers entzieht sich einer vollständigen Erfassung nach rein rechtlichen Kriterien und bedingt daher sachnotwendig, ähnlich wie bei sonstigen pädagogischen Werturteilen, einen Wertungsspielraum des zuständigen Gremiums der Schule. In diesen Bereich spezifisch-pädagogischer Wertungen und Überlegungen haben die Verwaltungsgerichte nicht korrigierend einzugreifen; sie können nicht anstelle des zuständigen Gremiums der Schule eigene pädagogische Erwägungen anstellen, zu denen sie sachgerecht auch nicht in der Lage wären. Trotz dieser Grenzen der gerichtlichen Kontrolle haben die Gerichte aber den gegen die Entlassung erhobenen Einwendungen nachzugehen und die pädagogische Bewertung der Schule auf ihre Angemessenheit hin zu überprüfen. Sie haben insbesondere zu kontrollieren, ob die Lehrerkonferenz bzw. der Disziplinarausschuss mit der Entlassung gegen die vorstehend dargelegten Grundsätze der Verhältnismäßigkeit verstoßen hat. Der gerichtlichen Kontrolle obliegt ferner die Prüfung, ob die Schule den Sachverhalt hinreichend ermittelt und dokumentiert hat, ob sie frei von sachfremden Erwägungen entschieden hat – solche Erwägungen wären im Rechtssinne als willkürlich anzusehen – und ob sie ihre Entscheidung auf Tatsachen und Feststellungen gestützt hat, die einer sachlichen Überprüfung standhalten. Bestreitet ein Schüler die Feststellung, auf denen die Entscheidung beruht, so hat das Gericht dem nachzugehen (vgl. BayVGH vom 19.2.2008 a.a.O. S. 344 und vom 18.5.2009 Az. 7 ZB 08.1801).

b) Gemessen daran erweist sich die von der Schule ausgesprochene Entlassung des Klägers als rechtswidrig.

aa) Die Rechtswidrigkeit der Entlassung ergibt sich allerdings nicht bereits aus einem „Verbrauch“ durch eine zuvor wegen des Vorfalls bereits anderweitig ausgesprochene Ordnungsmaßnahme. Zwar hat der Schulleiter den Eltern des damals noch minderjährigen Klägers am Tag des Vorfalls schriftlich mitgeteilt, dieser müsse „für einige Tage von der Schule fern gehalten werden“ und werde deshalb für die Zeit vom 11. März 2009 bis 13. März 2009 vom Unterricht ausgeschlossen. Auch wenn der Schulleiter hierfür ausdrücklich „Art. 86 Abs. 2 Satz 5 BayEUG“ (richtig: Art. 86 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 BayEUG) als Rechtsgrundlage angegeben hat, dürfte eher ein auf Art. 86 Abs. 13 Satz 1 BayEUG gestützter Ausschluss vom Besuch der Schule als Sofortmaßnahme zur Gefahrenabwehr gemeint gewesen sein (vgl. hierzu BayVGH vom 26.1.2010 Az. 7 C 09.2870), der allerdings nicht Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist und durch den – wie sich aus Art. 86 Abs. 13 Satz 3 BayEUG ergibt – auch kein Verbrauch einer späteren Ordnungsmaßnahme eintritt. Hierfür spricht zum einen, dass der Schulleiter den Eltern des Klägers mit Schreiben vom gleichen Tage die Einberufung des Disziplinarausschusses wegen des Vorfalls mitgeteilt hat. Daraus ergibt sich, dass jedenfalls mit dem am 11. März 2009 ausgesprochenen „Ausschluss vom Unterricht“ noch keine abschließende Ordnungsmaßnahme verhängt, sondern hierüber erst eine Entscheidung des noch einzuberufenden Disziplinarausschusses herbeigeführt werden sollte. Zum anderen hat die Schule im Widerspruchsbescheid den Ausschluss vom Unterricht ausdrücklich als vorläufig bezeichnet und auf Art. 86 Abs. 13 BayEUG gestützt. Der Senat geht daher davon aus, dass der Schulleiter mit dem Schreiben vom 11. März 2009 lediglich ein präventives Verbot des Schulbesuchs wegen einer angenommenen akuten Gefährdungssituation gemäß Art. 86 Abs. 13 Satz 1 BayEUG ausgesprochen hat, ohne hierdurch die Möglichkeit späterer Ordnungsmaßnahmen auszuschließen.

bb) Die von der Schule dokumentierten Ermittlungen und Feststellungen im Zusammenhang mit dem Vorfall am 11. März 2009, denen der Kläger bereits frühzeitig entgegengetreten ist, tragen jedoch den erhobenen Vorwurf einer Augenverletzung des Mitschülers D. durch Anwendung von Kampfsporttechnik und des mehrfachen Nachtretens auf den am Boden Liegenden nicht.

Die Entscheidung des Disziplinarausschusses wurde durch die Schule nicht in der durch § 17 RSO vorgeschriebenen Weise vorbereitet. § 17 RSO sieht hierzu für die Entlassung mehrere Verfahrensschritte vor. Zunächst hat der Schulleiter oder ein beauftragtes Mitglied der Lehrerkonferenz oder des Disziplinarausschusses dem Schüler nach Aufnahme der Untersuchung ausreichend Gelegenheit zu geben, sich zu äußern (§ 17 Abs. 1 Satz 2 RSO). Anschließend wird das vorläufige Ergebnis der Untersuchung den Erziehungsberechtigten durch Einschreiben mitgeteilt, die gleichzeitig unter angemessener Fristsetzung auf die Möglichkeit zur Stellungnahme und auf ihre Rechte nach Art. 86 Abs. 9 und Art. 87 Abs. 1 Satz 3 BayEUG hinzuweisen sind (§ 17 Abs. 2 Satz 1 RSO). Das Ergebnis der Untersuchung wird unter Berücksichtigung der Stellungnahme der Erziehungsberechtigten schriftlich niedergelegt (§ 17 Abs. 2 Satz 3 RSO).

Abgesehen davon, dass in den von der Schule vorgelegten Akten, von deren Vollständigkeit das Gericht ausgeht, ein schriftlich niedergelegtes Untersuchungsergebnis nicht enthalten ist, hat der Schulleiter den Eltern des Klägers bereits am Tag des Vorfalls mitgeteilt, dieser habe dem Mitschüler D. „durch Anwenden verschiedener Techniken aus einer von ihm betriebenen Kampfsportart eine schwere Körperverletzung zugefügt“ und den „bereits am Boden liegenden Schüler … dann noch mit Füßen getreten“. Zu diesem Zeitpunkt lag weder das Attest der Augenklinik Nürnberg vom 17. März 2009 noch der Vermerk der Klassenleiterin vom 16. März 2009 vor. Die getroffenen Feststellungen erscheinen daher verfrüht. Fraglich erscheint auch, ob der Kläger zwischen dem Vorfall und dem am gleichen Tag versandten Schreiben ausreichend Gelegenheit zur Äußerung hatte (§ 17 Abs. 1 Satz 2 RSO). Weitere Ermittlungen der Schule bis zum Zusammentreten des Disziplinarausschusses am 20. März 2009 wurden in den Akten nicht festgehalten. Das gilt insbesondere für die Befragung der im Vermerk der Klassenleiterin erwähnten, jedoch namentlich nicht benannten Schüler, die den Vorfall dem Vermerk zufolge „genau beobachten konnten“. Auch der Disziplinarausschuss hat in seiner Sitzung am 20. März 2009 außer dem Kläger weder dessen Mitschüler D. noch sonstige Schüler zum tatsächlichen Geschehen befragt. Die Klassenleiterin selbst war während des Vorfalls zwar im Unterrichtsraum, hat jedoch die Auseinandersetzung nicht unmittelbar mitbekommen, da sie ein Gespräch mit einem anderen Schüler führte.

Die Entlassung des Klägers stützt sich in erster Linie auf den angeblichen Griff in das Auge des Mitschülers D. unter Anwendung von Kampfsporttechnik und den Vorwurf des mehrfachen Eintretens auf den am Boden liegenden verletzten Mitschüler. Der Kläger hat in der Sitzung des Disziplinarausschusses eine Verletzungsabsicht verneint. Allein der Umstand, dass der Kläger möglicherweise Kampfsporterfahrung hatte, stellt noch keinen ausreichenden Beleg für die Anwendung einer solchen Technik bei dem Vorfall dar. Auch aus dem Attest des Klinikums Nürnberg (Augenklinik) vom 17. März 2009 lässt sich ein solcher Geschehensablauf nicht herleiten. Die kurze Sachverhaltsschilderung im Attest beruht allein auf den Angaben des untersuchten Schülers D. Außerdem ist dort von einem Schlag und nicht von einem Griff an oder in das Auge die Rede. Die Diagnose stellt neben einer Blepharitis (Lidrandentzündung), die als Augenerkrankung allerdings nicht im Zusammenhang mit dem Vorfall steht, eine „kleine ca. 1mm Stichwunde“ und eine leichte Bindehautreizung und Unterlidrötung am linken Auge fest unter Verneinung weiterer Verletzungen („kein Hämatom, …, kein Riss, Hornhaut klar und glatt, Vorderkammer tief und sauber, Linse klar. Papille vital, randscharf, Macula ohne pathologischen Befund, Netzhaut anliegend.“). Wie es zu dieser Stichwunde am Augenlid gekommen ist, insbesondere ob sie in Verletzungsabsicht oder unbeabsichtigt im Verlauf der Auseinandersetzung zugefügt wurde, geht aus dem Attest nicht hervor. Für die Rechtmäßigkeit der ausgesprochenen Entlassung des Klägers ist dieser Umstand jedoch von entscheidender Bedeutung. Gleiches gilt für die Frage, ob und ggf. in welcher Weise der Kläger auf den bereits am Boden liegenden Mitschüler eingetreten hat. Daher hätte für die Schule Anlass bestanden, den Geschehensablauf spätestens in der Disziplinarausschusssitzung durch Befragung weiterer Schüler genauer aufzuklären und deren Aussagen festzuhalten.

cc) Auch die Aussagen des in der mündlichen Verhandlung am 12. Juni 2012 befragten Klägers und der einvernommenen Zeugen haben den von der Schule zugrundegelegten Geschehensablauf nicht bestätigt.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung – seinem bisherigen Vorbringen entsprechend – angegeben, der Mitschüler D. habe ihn zuerst mit der Faust ins Gesicht geschlagen und das Jochbein getroffen. Daraufhin habe er D. von vorn umklammert, um weitere Schläge zu verhindern, habe diesem aber nicht ins Gesicht und insbesondere nicht in die Augen gegriffen und ihn auch nicht getreten, als D. am Boden gelegen habe.

Der befragte Mitschüler D. hat zwar erklärt, der Kläger habe ihn von hinten umklammert und mit zwei Fingern der linken Hand mehrmals am Auge gekratzt. Auch habe er zwei oder drei Schläge oder Tritte im Bereich der Hüfte und Nieren gespürt, als er am Boden gelegen sei. Diese Darstellung wurde allerdings von der Mitschülerin und Zeugin Do., die die Auseinandersetzung aus nächster Nähe mitbekommen und versucht hat, die Kontrahenten zu trennen, weder bei ihrer Befragung durch die Polizei am 25. Juli 2009 noch in der mündlichen Verhandlung bestätigt. Auch wenn sie sich mehr als drei Jahre nach dem Vorfall nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern konnte, hat nach ihrer Aussage, die insoweit ihrer Schilderung vom 25. Juli 2009 entspricht, zunächst D. den Kläger mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Sie sei dann dazwischen gegangen, könne aber nicht mehr sagen, ob der Kläger den Mitschüler D. umklammert oder sonst wie angegriffen habe und ob er auf ihn eingetreten habe. Bei ihrer Befragung durch die Polizei erinnerte sie sich zwar noch an wechselseitige Schläge der beiden Schüler, verneinte jedoch, dass der am Boden liegende Schüler D. noch geschlagen oder getreten worden sei. Einen Griff des Klägers ins Gesicht oder in die Augen des Schülers D. hat sie zu keinem Zeitpunk bestätigt.

Auch sonst liegt keine Äußerung eines namentlich benannten Zeugen vor, die die Mutmaßungen der Schule in diesem Punkt belegen. Die ebenfalls als Zeugin befragte Lehrerin und Klassenleiterin E. hat den Vorfall nicht unmittelbar mitbekommen und konnte daher aus eigener Wahrnehmung keine Angaben zum Geschehensablauf machen. Die Schilderung in ihrem Vermerk vom 16. März 2009, wonach der Kläger D. „in den Schwitzkasten nahm, dann in sein Gesicht fasste, ihn rasch zu Fall brachte und dann mehrfach nach ihm trat, als er schon gekrümmt am Boden lag“, gibt lediglich Äußerungen von Schülern wieder, die jedoch nicht namentlich benannt werden und deren Richtigkeit sich daher nicht überprüfen lässt. Auch nach dieser Darstellung ging im Übrigen die erste Provokation des Schülers D. durch einen „Klaps auf den Nacken/Kopf“ nicht vom Kläger aus, sondern von zwei weiteren Mitschülern, woraufhin D. dem Vermerk zufolge „zurückschlug“ und den Kläger „am Schienbein erwischte“. Das deckt sich weitgehend mit der Aussage der Mitschülerin Do. und auch des betroffenen Schülers D. bei der Polizei am 12. April 2009 und widerspricht insoweit der Sachverhaltswiedergabe im Protokoll zur Disziplinarausschusssitzung vom 20. März 2009, wonach auch der Kläger dem Mitschüler D. im Vorbeigehen „Schläge auf den Hinterkopf“ gegeben habe. Die von der Zeugin E. selbst wahrgenommene Rötung des Auges und die blutigen Verletzungen in der Nähe des Auges lassen zwar darauf schließen, dass die Einlassung des Klägers, er habe D. lediglich festgehalten, in diesem Punkt nicht zutrifft. Ebenso wie der Kläger zunächst von D. durch einen Faustschlag im Gesicht getroffen wurde – die hierdurch verursachte Schwellung und leichte Rötung über dem Jochbein ergibt sich aus dem Durchgangsarztbericht vom 11. März 2009 – hat wohl auch der Kläger den Mitschüler D. bei der Gegenwehr im Gesicht und dort im Bereich der Augen verletzt. Anders sind die diagnostizierte Stichwunde und die von der Klassenleiterin E. wahrgenommenen Verletzungen kaum erklärbar. Auch die Zeugin Do. hatte bei der Polizei noch berichtet, der Kläger habe D. nach dessen erstem Schlag ebenfalls mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Für eine absichtliche oder grob fahrlässige Augenverletzung oder gar eine Anwendung von Kampfsporttechnik durch den Kläger, der den Mitschüler D. zu Beginn der Auseinandersetzung auch nicht provoziert hat, liegen jedoch keine ausreichenden Nachweise vor.

Weitere Zeugen, die das Geschehen unmittelbar wahrgenommen und den von der Schule angenommenen Sachverhalt bestätigt haben, ergeben sich weder aus den vorliegenden Akten noch wurden sie von der Beklagten namentlich benannt. Eine weitere, ohnehin von keinem der Beteiligten beantragte Beweisaufnahme erscheint unter diesen Umständen auch im Hinblick auf die seit dem Vorfall vergangene Zeit nicht erfolgversprechend und drängt sich dem Gericht jedenfalls nicht auf.

32dd) Bei dieser Sachlage kann dahinstehen, ob die Entlassung als verhältnismäßig anzusehen wäre, wenn sich der von der Schule angenommene Hergang der Auseinandersetzung bestätigt hätte. Auch unter Berücksichtigung des pädagogischen Wertungsspielraums des Disziplinarausschusses bestehen daran allerdings erhebliche Zweifel. Zwar hat die Schule die nach Art. 39 Abs. 1 Satz 3 BayVwVfG notwendige, im Ausgangsbescheid jedoch unzureichende Begründung hinsichtlich der Ermessenserwägungen, insbesondere zur Erforderlichkeit und Angemessenheit der Entlassung, im Widerspruchsbescheid gemäß Art. 45 Abs. 1 Nr. 2 BayVwVfG mit heilender Wirkung nachgeholt. Fraglich erscheint aber, ob so kurz vor dem Schulabschluss nicht eine Androhung der Entlassung bei gleichzeitiger Versetzung in eine Parallelklasse (Art. 86 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 3 und 8, Abs. 5 BayEUG) ausgereicht hätte, zumal gravierende vorherige Verfehlungen des Klägers nicht aktenkundig sind und aufgrund der bis zuletzt überwiegend positiven Zeugnisbemerkungen auch nicht vorgekommen sein dürften. Außerdem hat der Schüler D. die Entschuldigung des Klägers kurz nach dem Vorfall zunächst akzeptiert. Nähere Ausführungen dazu, weshalb die Schule eine mit einer Versetzung in eine Parallelklasse verbundene Androhung der Entlassung nicht als ausreichend erachtete, lassen sich auch dem Widerspruchsbescheid nicht entnehmen. Da jedoch die ausgesprochene Entlassung bereits wegen der Unerweislichkeit des von der Schule angenommenen Sachverhalts rechtswidrig war, braucht dieser Frage hier nicht weiter nachgegangen zu werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

4. Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.

Beschluss

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt (§ 47 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, § 52 Abs. 2 GKG, Nr. 38.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit NVwZ 2004, S. 1327).

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