Zur Prognosebildung hinsichtlich eines hypothetischen Zukunftseinkommens

BGH, Urteil vom 14.01.1997 – VI ZR 366/95

1. Bei der nach BGB § 252 S 2 anzustellenden Prognose ist nicht allein auf die im Unfallzeitpunkt bestehenden Verhältnisse abzustellen. Maßgebend ist vielmehr auch die wahrscheinliche künftige Entwicklung.

2. Bei einem jugendlichen Menschen kann ohne konkrete Anhaltspunkte nicht angenommen werden, daß er auf Dauer die ihm zu Gebote stehenden Möglichkeiten für eine gewinnbringende Erwerbstätigkeit nicht nutzen und ohne Einkünfte bleiben werde.

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 24. November 1995 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als dem Kläger der geltend gemachte Anspruch auf Ersatz rückständigen Verdienstausfalls (65.653,04 DM) und auf Zahlung einer Verdienstausfallrente von monatlich 1.031,50 DM ab 1.11.1991 aberkannt worden ist.

In diesem Umfang wird die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand
1
Der Kläger wurde bei einem Verkehrsunfall am 7. August 1981, den er als Motorradfahrer im Alter von fast 20 Jahren erlitt, schwer verletzt. Er ist seitdem querschnittsgelähmt.

2
In einem vorausgegangenen Rechtsstreit wurde unter anderem festgestellt, daß die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, dem Kläger 2/3 allen weiteren Schadens aus dem Verkehrsunfall zu ersetzen, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen sind. Nunmehr begehrt der Kläger über die ihm im Vorprozeß zuerkannte Schmerzensgeldrente hinaus eine weitere Schmerzensgeldrente sowie Ersatz von Verdienstausfall. Dazu ist zwischen den Parteien unstreitig, daß der Kläger seine Lehre im Bäckerhandwerk am 31. August 1980 mit der Gesellenprüfung abschloß. Nach kurzer Arbeit in einer Bäckerei war er bis zum 31. Mai 1981 als Lagerarbeiter tätig. Danach war er bis zum Unfall arbeitslos.

3
Der Kläger, der eine Erwerbsunfähigkeitsrente erhält, behauptet, er hätte ab 1. Oktober 1986 nach bestandener Meisterprüfung bei einer Anstellung als Bäcker monatlich 3.600 DM verdient; davon müßten ihm die Beklagten 2/3 = 2.400 DM ersetzen. Für die Zeit bis zum 31. Oktober 1991 errechnet er seinen Verdienstentgang mit 65.563,04 DM. Ab 1. November 1991 verlangt er nach Abzug seiner Erwerbsunfähigkeitsrente einen monatlichen Betrag von 1.031,50 DM.

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Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, das Oberlandesgericht die Berufung zurückgewiesen. Der Senat hat die Revision des Klägers nur angenommen, soweit dessen Anspruch auf Ersatz von Verdienstausfall für unbegründet erachtet worden ist.

Entscheidungsgründe
I.

5
Nach der Annahmeentscheidung des Senats geht es nur noch darum, ob der Kläger von den Beklagten Ersatz von Verdienstausfall verlangen kann. Das Berufungsgericht hat einen solchen Anspruch verneint, weil der Kläger nicht habe wahrscheinlich machen können, daß er ohne den Unfall weiterhin im Bäckerhandwerk tätig gewesen wäre und dann die Meisterprüfung abgelegt hätte. Dagegen spreche sein tatsächliches Verhalten; im Anschluß an seine Lehre sei er nämlich nur noch ganz kurz bei einem Bäcker tätig gewesen, der ihn dann entlassen habe. Die Tatsache, daß er anschließend die Stelle eines Lagerarbeiters angenommen habe, zeige, daß sein ursprüngliches Interesse am Bäckerhandwerk geschwunden gewesen sei. Die Abkehr vom erlernten Beruf habe er dadurch zum Ausdruck gebracht, daß er nach der Tätigkeit als Lagerarbeiter bis zum Unfall nicht als Bäckergeselle gearbeitet habe, sondern arbeitslos geblieben sei. Der berufliche Werdegang des Klägers nach Abschluß seiner Lehre mache es somit nicht wahrscheinlich, daß er sein ursprüngliches Berufsziel, Bäckermeister zu werden, im Unfallzeitpunkt noch verfolgt habe.

II.

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Das angefochtene Urteil hält, soweit es um den Verdienstentgang geht, den Angriffen der Revision nicht stand.

7
1. Verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden ist allerdings die Feststellung des Berufungsgerichts, der Kläger habe sich im Zeitpunkt des Unfalls von seinem erlernten Beruf als Bäcker abgewandt gehabt. Zu dieser Überzeugung ist das Berufungsgericht unter Würdigung des tatsächlichen Verhaltens des Klägers gelangt. Dabei hat es die Aussage der Mutter des Klägers in der gebotenen Weise berücksichtigt.

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2. Nicht gefolgt werden kann dem Berufungsgericht hingegen, soweit es auf der Grundlage dieser Feststellung den Kläger jeglichen Ersatz eines Verdienstausfallschadens versagt hat.

9
a) Ob ein Verletzter ohne den Schadensfall durch Verwertung seiner Arbeitskraft Einkünfte erzielt hätte, ist durch eine nach § 252 Satz 2 BGB anzustellende Prognose zu ermitteln, für die ein Wahrscheinlichkeitsurteil über den gewöhnlichen Lauf der Dinge genügt. Das hat das Berufungsgericht im Ansatz zwar nicht verkannt. Rechtsfehlerhaft hat es bei der Wahrscheinlichkeitsprüfung aber allein auf den Unfallzeitpunkt sowie die damals bestehenden Verhältnisse abgestellt und sich demgemäß auf den aus der seinerzeitigen Abwendung des Klägers vom Bäckerhandwerk gezogenen Schluß beschränkt, es sei nicht wahrscheinlich, daß der Kläger sein ursprüngliches Berufsziel, Bäckermeister zu werden, im Unfallzeitpunkt noch verfolgt habe. Für die Prognose gemäß § 252 Satz 2 BGB, insbesondere die Berücksichtigung “des gewöhnlichen Laufs der Dinge”, ist indessen auch die wahrscheinliche künftige Entwicklung maßgebend. Das hat das Berufungsgericht nicht beachtet und entsprechende Erwägungen nicht angestellt, so daß das angefochtene Urteil schon aus diesem Grunde keinen Bestand haben kann.

10
b) Das Berufungsgericht hat ferner unter Verstoß gegen seine materiell-rechtliche Prüfungspflicht lediglich das vom Kläger in den Vordergrund gestellte Berufsziel des Bäckermeisters in seine Überlegungen einbezogen. Anderweitige Beschäftigungsmöglichkeiten hat es dagegen nicht in Betracht gezogen, obwohl sich eine solche Prüfung geradezu aufdrängte. Der Kläger war im Unfallzeitpunkt noch nicht 20 Jahre alt. Bei einem Menschen in so jugendlichem Alter kann ohne – hier nicht ersichtliche – konkrete Anhaltspunkte nicht angenommen werden, daß er auf Dauer die ihm zu Gebote stehenden Möglichkeiten für eine gewinnbringende Erwerbstätigkeit nicht nutzen werde. Das Berufungsgericht hätte bei einer solchen Sachlage daher auch ohne weiteren Parteivortrag zu beruflichen Alternativen die nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nicht fernliegende Möglichkeit vorausschauend würdigen müssen, daß der noch jugendliche Kläger, um einer weiteren Arbeitslosigkeit oder sonstigen unbefriedigenden wirtschaftlichen Situation zu entgehen, entweder eine berufsfremde Tätigkeit hätte aufnehmen oder gar in seinen erlernten Beruf als Bäcker hätte zurückkehren können (vgl. Senatsurteil vom 17. Januar 1995 – VI ZR 62/94VersR 1995, 422 zu II 2 c), zumal das Berufungsgericht selbst feststellt, daß es dem Kläger jederzeit möglich wäre, eine Stelle als Bäckergeselle zu finden.

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3. Nach Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht werden die Parteien ungeachtet einer eventuellen Hinweispflicht des Gerichtes (vgl. dazu Senatsurteil vom 17. Januar 1995 aaO zu II 2 d) Gelegenheit haben, näheres dazu vorzutragen, wie die beruflichen Aussichten und Möglichkeiten des Klägers ohne das Unfallereignis gewesen wären und ob sowie gegebenenfalls inwieweit die voraussichtlichen Einkünfte unter Berücksichtigung des Mitverschuldensanteil des Klägers dessen Erwerbsunfähigkeitsrente überstiegen hätten.

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