SG Oldenburg (Oldenburg), Urteil vom 04.07.2012 – S 61 KR 221/10
1. Zwar besteht im Rahmen der Erfüllung von Sachleistungsansprüchen grundsätzlich ein Auswahlermessen der Beklagten zwischen mehreren gleich geeigneten Leistungen, dieses kann sich jedoch auf Null reduzieren, wenn der Versicherte seinen Mitwirkungspflichten ausreichend nachgekommen ist (hier durch Austestung von sechs Hörgeräten, darunter auch eigenanteilsfreie).
Die Krankenversicherung muss sodann, um eine über die bereits erfolgten Mitwirkungshandlungen des Versicherten hinausgehende Mitwirkungspflicht zur Erprobung weiterer Geräte, ggf bei einem anderen Akustiker, begründen zu können, konkrete eigenanteilsfreie Versorgungsalternativen aufzeigen. Sie muss insbesondere ein bestimmtes, ihrer Meinung nach geeignetes Gerät und einen Hörgeräteakustiker benennen, der bereit ist, dieses Gerät eigenanteilsfrei anzupassen. (Rn.31)
2. Die Krankenversicherung verstößt zum einen gegen ihre Sachleistungspflicht, zum anderen gegen ihre Obhuts- und Beratungspflichten, wenn sie dem Versicherten eine beantragte Versorgung verwehrt, auf die unstreitig grundsätzlich ein Anspruch besteht, ohne eine Möglichkeit der zuzahlungsfreien Versorgung aufzuzeigen. Die Krankenkasse erfüllt ihre Leistungspflicht nicht bereits durch die abstrakte Möglichkeit einer ausreichenden Versorgung zum Vertragspreis, wenn der Versicherte trotz zumutbarer eigener Anstrengungen den Weg zu der erforderlichen Versorgung nicht findet. Etwaige Festbetragsregelungen oder vertraglich vereinbarte Pauschalpreise entheben die Krankenkassen nicht von ihrer Pflicht, im Rahmen der Sachleistungsverantwortung für die ausreichende Versorgung der Versicherten Sorge zu tragen. (Rn.32)
3. Das Risiko, dass der Hörgeräteakustiker (evtl entgegen dem BIHA-Vertrag) keine geeigneten zuzahlungsfreien Geräte anbietet, trägt in letzter Konsequenz die Krankenversicherung. Es obliegt der Krankenversicherung, ihre Vertragspartner zu einem vertragskonformen Verhalten zu bewegen (sei es durch Vertragsstrafen, Regress oder Kündigung des Vertrages). (Rn.41)
(Leitsätze des Gerichts)
Tenor
1. Der Bescheid der Beklagten vom 06.05.2010 und 29.07.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.06.2011 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten für die Hörgeräte Oticon Agil power in voller entstehender Höhe mit Ausnahme der gesetzlichen Zuzahlung zu übernehmen.
3. Die Beklagt trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand
1 Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Kostenübernahme für die beidseitige Hörgeräteversorgung mit den Geräten Oticon Agil power BTE 13.
2 Die am E. 1958 geborene Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert. Sie leidet unter Innenohrschwerhörigkeit; links liegt eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit vor (94 % Hörverlust nach Röser), rechts eine hochgradige, bis an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit (86% Hörverlust nach Röser). Die Klägerin ist in einer Wäscherei arbeitstätig.
3 Sie erhielt aufgrund Hörverschlechterung von ihrem Hals-Nasen-Ohrenarzt Dr. F. am 22.04.2010 eine Verordnung über eine neue beidseitige Hörgeräteversorgung. Mit dieser Verordnung wandte sie sich an den Hörgeräteakustiker G. in H., der eine Anpassung mit Hörgeräten durchführte.
4 Der Akustiker übersandte am 05.05.2010 eine Versorgungsanzeige an die Beklagte, woraufhin diese mit Bescheid vom 06.05.2010 die entstehenden Kosten in Höhe der Vergütungspauschale von 1.192,80 € übernahm.
5 Die Klägerin beantragte am 26.07.2010 bei der Beklagten die Übernahme der über die Versorgungspauschale hinausgehenden Kosten. Sie benötige dringend neue Hörgeräte, da sie mit den bisherigen, sieben Jahre alten Geräten immer weniger verstehe. Sie habe bei der Arbeit in der Wäscherei große Verständigungsprobleme. So müsse sie häufiger nachfragen und sortiere Wäsche falsch ein. Wenn sich mehrere Menschen unterhalten, könne sie nicht folgen, weil die Hörgeräte verzögert verstärken würden. Sie meide daher soziale Kontakte. Mit den höherwertigen Geräten höre sie auch mit Nebengeräuschen wieder, sie höre Vogelgesang intensiver und es komme nicht zu den bisherigen Verzögerungen. Sie könne Gesprächen mit mehreren Menschen wieder folgen und habe dadurch wieder mehr Freude am Leben.
6 Die Klägerin testete bei dem Akustiker G. folgende Hörgeräte aus:
7
Einsilbenverstehen in der Anpasskabine Verstehen im Störgeräusch (Nutzschall 65 dB, Störschall 60 dB)
Audio Service Nova 2 P 50 %
Oticon GO power 55 % 20 %
Oticon Agil power 55 % 40 %
8 Mit Bescheid vom 29.07.2010 lehnte die Beklagte den Antrag auf weitere Kostenübernahme ab. Sie verwies auf den Vertrag zur Komplettversorgung mit Hörsystemen zwischen der Bundesinnung der Hörgeräteakustiker und dem Verband der Angestellten-Krankenkassen e.V. sowie dem Arbeiter-Ersatzkassen-Verband e.V. (BIHA-Vertrag) vom 01.02.2004, wonach ein Hörgeräteakustiker zwei angemessene Geräte für jeden Schwerhörigkeitsgrad zuzahlungsfrei zur Verfügung stellen müsse. Die Beklagte habe mit der Übernahme der Versorgungspauschale ihre Leistungspflicht erfüllt. Sie habe keinen Einfluss auf die Preisgestaltung des Akustikers. Die Klägerin könne den Akustiker wechseln. Ein Anspruch auf eine Optimalversorgung bestehe nicht. Gegebenenfalls könne die Klägerin einen Antrag auf Kostenübernahme bei der Rentenversicherung stellen.
9 Die Klägerin legte am 12.08.2010 Widerspruch ein. Die zuzahlungsfreien Geräte hätten für sie keinen praktischen Nutzen.
10 Auf ein weiteres ablehnendes Schreiben der Beklagten vom 16.08.2010 hat die Klägerin am 30.08.2010 Klage auf Kostenübernahme für die Geräte Oticon Agil Power BTE 13 erhoben. Sie führte aus, die Krankenversicherung sei zu einer bestmöglichen Angleichung an das Hörvermögen Gesunder verpflichtet. Das Wirtschaftlichkeitsgebot stehe dem nicht entgegen. Die Messdaten in der Anpasskabine seien eine unrealistische Lebenssituation, die Ergebnisse seien daher nicht aussagekräftig. Das Gerät Oticon Go sei bei längerer Austestung nicht ausreichend gewesen. Festbeträge könnten die Leistungspflicht der Krankenversicherung nicht begrenzen, wenn damit keine adäquate Versorgung möglich sei.
11 Die Klägerin reichte einen Kostenvoranschlag des Hörgeräteakustikers für die Geräte Oticon Agil Power BTE 13 in Höhe von 4630,88 € ein.
12 Zunächst ist während des Klageverfahrens das Vorverfahren abgeschlossen und der Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 30.06.2011 zurückgewiesen worden. Die Beklagte wiederholte und vertiefte das Vorbringen aus dem Bescheid und führte ergänzend aus, die beiden Geräte Oticon Go power und Oticon Agil power hätten eine nahezu gleichwertige Verstehensquote erzielt, so dass sich nur ein Gebrauchsvorteil im subjektiven Bereich erkennen lasse. Die vorliegende Schwerhörigkeit könne zudem grundsätzlich mit eigenanteilsfreien Geräten ausgeglichen werden, denn der Akustiker sei zu einer bedarfsgerechten Versorgung verpflichtet. Jedes Gerät müsse von der Klägerin über Wochen oder gar Monate probegetragen werden.
13 Die Beklagte hatte zuvor ein Gutachten des Medizinischen Dienstes (MDK) vom 21.04.2011 eingeholt, wonach der Akustiker G. bisher keine bedarfsgerechte Versorgung durchgeführt habe. Die von dem Akustiker angebotenen Hörgeräte seien nicht geeignet, den vorhandenen Hörverlust auszugleichen, da sie nicht über eine ausreichende Verstärkerleistung verfügen würden. Es sei nicht nachzuvollziehen, dass die Klägerin nur mit den beantragten Geräten adäquat zu versorgen sei, es würden auch günstigere Geräte geeignet erscheinen.
14 Die Klägerin beantragt,
15 den Bescheid der Beklagten vom 06.05.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.06.2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für die Hörgeräte Oticon Agil power in voller entstehender Höhe mit Ausnahme der gesetzlichen Zuzahlung zu übernehmen.
16 Die Beklagte beantragt,
17 die Klage abzuweisen.
18 Sie führt aus, die Leistungspflicht werde mit der Übernahme des Festbetrages erfüllt. Die Klägerin sei mit einem eigenanteilsfreien Gerät versorgbar.
19 Im laufenden Klageverfahren testete die Klägerin auf Bitte des Gerichts weitere Geräte in verschiedenen Preissegmenten bei dem Akustiker I. und ließ die aktuelle Einstellung sowohl bei dem Akustiker I. als auch bei dem Akustiker J. überprüfen, es konnten jedoch keine besseren Hörergebnisse erzielt werden:
20
Einsilbenverstehen in der Anpasskabine Verstehen bei Nutzschall 65 dB und Störschall 65 dB
Phonak Solana micro P 40 % 10 %
Siemens Lotus Pro P 45 % 15 %
Siemens Motion 301 P 35 % 15 %
21 Der Akustiker I. gab an, die Geräte Agil Pro Power würden einen angenehmeren und intensiveren Klang und ein subjektiv besseres Sprachverstehen bieten.
22 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
23 Die Klage hat Erfolg. Sie ist durch das nachgeholte Vorverfahren zulässig geworden und materiell auch begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Kostenübernahme für die aufgrund der durchgeführten Testungen am besten geeigneten Geräte Oticon Agil power BTE 13.
24 1. Der Anspruch der Klägerin ergibt sich aus § 33 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Versicherte haben nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (1. Alternative), einer drohenden Behinderung vorzubeugen (2. Alternative) oder eine Behinderung auszugleichen (3. Alternative), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind.
25 Wie in allen anderen Leistungsbereichen der gesetzlichen Krankenversicherung müssen die Leistungen nach § 33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein und dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkasse nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 SGB V; s. stellvertretend BSG, Urteil vom 16. September 2004 – B 3 KR 19/03 R).
26 Ein Anspruch auf die begehrte Versorgung besteht nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Alternative 3 SGB V, denn die begehrten Hilfsmittel Oticon Agil power BTE 13 sind erforderlich, um das Gebot eines möglichst weitgehenden Behinderungsausgleichs zu erfüllen. Ein Hilfsmittel ist von der gesetzlichen Krankenversicherung immer dann zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis betrifft. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gehören zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnehmen, Ausscheiden, die elementare Körperpflege, selbstständiges Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (s. z.B. BSG a.a.O. unter Hinweis auf BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 3, dort m.w.N.).
27 Die Klägerin kann, gemessen an diesen Maßstäben, zum Ausgleich der bei ihr bestehenden Hörbehinderung als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung die Versorgung mit den streitgegenständlichen Hörgeräten beanspruchen.
28 Der grundsätzliche Bedarf neuer Hörgeräte ist zwischen den Beteiligten nicht streitig.
29 Streitig ist lediglich, ob ein Anspruch auf Versorgung mit genau diesen Geräten besteht. Dies ist vorliegend der Fall. Versicherte haben Anspruch auf die Hörgeräteversorgung, die die nach dem Stand der Medizintechnik bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder erlaubt, da der unmittelbare Behinderungsausgleich betroffen ist. Es gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts (BSG, Urt. vom 17.12.2009 – B 3 KR 20/08 R).
30 Das begehrte Gerät ermöglicht nach den Messergebnissen ein gegenüber den anderen Geräten deutlich höheres Sprachverständnis von 55 % im Einsilbenverstehen und 40 % im Störgeräusch (bei einem Nutzschall von 65 dB und einem Störschall von 60 dB). Das nächst beste Gerät Oticon Go power erreicht zwar im Einsilbenverstehen die gleichen Werte, im Störgeräusch jedoch nur 20 %. Dies ist eine deutlich schlechtere Leistung. Das Hören mit Umgebungsgeräuschen gehört zu den normalen Alltagssituationen, etwa im Straßenverkehr, in einer Unterhaltung mit mehreren Menschen gleichzeitig oder beim Einkaufen. Das Hören im Störgeräusch ist daher im Rahmen der Hilfsmittelversorgung durch die Krankenversicherung zu berücksichtigen (vgl. BSG, Urt. v. 17.12.2009 – B 3 KR 20/08 R, zitiert nach Juris). Die Versorgung mit den Geräten Oticon Agil power bietet im Falle der Klägerin soweit ersichtlich die bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder und auch im Alltag einen erheblichen Gebrauchsvorteil gegenüber anderen Hörhilfen.
31 2. Zwar besteht im Rahmen der Erfüllung von Sachleistungsansprüchen grundsätzlich ein Auswahlermessen der Beklagten zwischen mehreren gleichgeeigneten Leistungen, dieses hat sich jedoch auf Null reduziert. Denn die Klägerin ist ihren Mitwirkungspflichten ausreichend nachgekommen. Sie hat insgesamt sechs Geräte ausgetestet. Da die Beklagte der Klägerin keine konkrete zuzahlungsfreie Versorgungsalternative aufgezeigt hat, muss sie die vollen Kosten für die Hilfsmittelversorgung übernehmen, die aufgrund der erfolgten Erprobung die besten Hörergebnisse erzielt hat.
32 Die Beklagte verstößt gegen ihre Sachleistungspflicht und auch gegen ihre Obhuts- und Beratungspflichten, wenn Sie dem Versicherten eine beantragte Versorgung verwehrt, auf die unstreitig grundsätzlich ein Anspruch besteht, ohne eine Möglichkeit der zuzahlungsfreien Versorgung aufzuzeigen. (vgl. auch SG Oldenburg, Beschl. v. 21.03.2012 – S 61 KR 6/12 ER, zitiert nach Juris)
33 Die Beklagte hätte der Klägerin, um eine über die bereits erfolgten Mitwirkungshandlungen der Klägerin hinausgehende Mitwirkungspflicht zur Erprobung weiterer Geräte, ggf. bei einem anderen Akustiker, begründen zu können, konkrete eigenanteilsfreie Versorgungsalternativen aufzeigen müssen. Sie hätte insbesondere ein bestimmtes, ihrer Meinung nach geeignetes Gerät und einen Hörgeräteakustiker benennen müssen, der bereit ist, dieses Gerät eigenanteilsfrei anzupassen. Die Beklagte hat jedoch trotz mehrfachen Hinweises des Gerichts, dass sie den Akustiker zu einer bedarfsgerechten und eigenanteilsfreien Versorgung anhalten möge und dass sie zu einer Sachleistung verpflichtet ist, keine konkrete Möglichkeit einer adäquaten Versorgung der Klägerin aufgezeigt.
34 Die mehrfach wiederholte, pauschale Behauptung der Beklagten, die Hörstörungen der Klägerin müssten eigentlich auch eigenanteilsfrei versorgbar sein, kann nicht zu einem Ausschluss der Sachleistungspflicht führen. Die Krankenkasse erfüllt ihre Leistungspflicht nicht bereits durch die abstrakte Möglichkeit einer ausreichenden Versorgung zum Vertragspreis, wenn der Versicherte trotz zumutbarer eigener Anstrengungen den Weg zu der erforderlichen Versorgung nicht findet (so bereits angedeutet durch BSG, Urt. v. 17.12.2009 – B 3 KR 20/08 R, Rn. 36, zitiert nach Juris). Gesteigerte Obhuts- und Informationspflichten bestehen insbesondere, wenn bei anpassungsbedürftigen Hilfsmitteln der notwendige Überblick über die Marktlage und geeignete Angebote auch bei zumutbarer Anstrengung für Versicherte schwierig zu erlangen sind. Die Krankenversicherung trägt im Rahmen der Sachleistung die Verantwortung für die Leistungsverschaffung (vgl. BSG, Urt. v. 17.12.2009 – B 3 KR 20/08 R, Rn. 36, zitiert nach Juris). Hat der Versicherte das ihm zumutbare getan, um die notwendige Leistung möglichst kostengünstig zu erlangen, hat er insbesondere mehrere Hörgeräte getestet, darunter auch solche zu Vertragspreisen, erfüllt der Versicherte regelmäßig seine Mitwirkungspflichten (vgl. auch LSG Sachsen, Urt. v. 07.02.2012 – L 5 R 488/11).
35 Etwaige Festbetragsregelungen oder vertraglich vereinbarte Pauschalpreise entheben die Krankenkassen nicht von ihrer Pflicht, im Rahmen der Sachleistungsverantwortung für die ausreichende Versorgung der Versicherten Sorge zu tragen. Das System der gesetzlichen Krankenversicherung ist vom Prinzip der Naturalleistung geprägt. Die Sachleistung ist ein grundsätzliches Strukturprinzip. (BSG v. 07.08.1991 – 1 RR 7/88; BSG v. 14.03.2001 – B 6 KA 67/00 R, zitiert nach Juris) Diese Verschaffungspflicht gewährleistet, dass der Versicherte eine notwendige Leistung der Krankenpflege erhält, ohne sie sich selbst erst beschaffen zu müssen und insbesondere ohne bei ihrer Inanspruchnahme für Kosten aufkommen zu müssen. Genau dieses Prinzip der Sachleistung konterkariert die Beklagte jedoch, wenn sie die Klägerin darauf verweist, der Hörgeräteakustiker habe den BIHA-Vertrag nicht eingehalten, eine Versorgung müsse theoretisch zum Vertragspreis möglich sein.
36 Die Klägerin ist ihren Mitwirkungspflichten ausreichend nachgekommen, indem sie verschiedene Hörgeräte ausgetestet hat und auch der späteren Bitte nachgekommen ist, weitere Geräte zu erproben. Die Beklagte hingegen hat ihre Obhuts- und Informationspflichten nicht beachtet. Sie hätte der Klägerin aktiv zu einer Versorgung nach den Prinzipien der Sachleistung verhelfen müssen. Das Risiko, dass der Hörgeräteakustiker (evtl. entgegen dem BIHA-Vertrag) keine geeigneten zuzahlungsfreien Geräte anbietet, trägt in letzter Konsequenz die Krankenversicherung. Denn sie ist zur Sachleistung verpflichtet und muss dem Grunde nach für eine ausreichende medizinische Versorgung ihrer Versicherten sorgen. Im Zuge dessen obliegt es ihr auch, ihre Vertragspartner (in diesem Fall die Hörgeräteakustiker als Hilfsmittelerbringer) zu einem vertragskonformen Verhalten zu bewegen. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass der Hörgeräteakustiker als Hilfsmittellieferant im Lager der Beklagten steht und die Beklagte sich sein Fehlverhalten im Verhältnis zum Versicherten daher grundsätzlich zurechnen lassen muss. (vgl. auch SG Oldenburg, Beschl. v. 21.03.2012 – S 61 KR 6/12 ER) Der Hörgeräteakustiker ist nicht Vertragspartner der einzelnen Versicherten, sondern der Krankenversicherungen (durch den BIHA-Vertrag). Nur letztere haben die vertraglich eingeräumten Druckmöglichkeiten durch Verhängung einer Vertragsstrafe, Regressmöglichkeiten oder das Geltend machen von Schadensersatzansprüchen. Das Risiko von Vertragsverletzungen kann die Beklagte nicht auf die Klägerin abwälzen.
37 Da der Klägerin nicht aufgezeigt wurde, wie sie eine zuzahlungsfreie Versorgung erlangen kann, kann nicht von ihr verlangt werden, weitere Hörgeräteakustiker aufzusuchen und jeweils (wie von der Beklagten verlangt über mehrere Wochen oder gar Monate) diverse Hörgeräte auszutesten, bis irgendwann – im Interesse der Beklagten – eine nun eigenanteilsfreie und mindestens gleichgeeignete Versorgung gefunden ist. (vgl. auch SG Oldenburg, Beschl. v. 21.03.2012 – S 61 KR 6/12 ER, zitiert nach Juris) Dies würde angesichts des für Versicherte unübersichtlichen Hörgerätemarktes über einen unzumutbar langen und unabsehbaren Zeitraum dazu führen, dass die von der Krankenversicherung geschuldete, bestmögliche Versorgung nicht erfolgt.
38 3. Das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB V steht der Leistungspflicht der Beklagten nicht entgegen. Denn auch eine kostenaufwendige Versorgung ist von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst, wenn durch sie eine Verbesserung bedingt ist, die einen wesentlichen Gebrauchsvorteil gegenüber kostengünstigeren Geräten bietet (vgl. BSG, Urt. v. 17.12.2009 – B 3 KR 20/08 R, Rn. 21, zitiert nach Juris). Dies war hier der Fall, da die begehrten Geräte insbesondere im Störschall gegenüber den anderen getesteten Geräten deutlich bessere Messwerte ermöglichten.
39 4. Die Klägerin hatte nicht nur im Rahmen ihres Berufs, sondern bereits im Rahmen der Grundversorgung des Krankenversicherungsrechts Anspruch auf Verschaffung der besten Geräte. Ein berufsbedingter Mehrbedarf ergibt sich hingegen nicht. Die Versorgung liegt hier im materiellen Zuständigkeitsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung, weil die Hörhilfen notwendig zur Verwirklichung elementarer Grundbedürfnisse des täglichen Lebens sind. Sie gewährleisten durch das bessere Hören im Störgeräusch eine einfachere Teilnahme am Straßenverkehr und in sonstigen allgemeinen Hörsituationen mit gewissem Störschall, wie in Unterhaltungen mit mehreren Personen, im Umgang mit (Enkel-)Kindern oder in beim Einkaufen mit laufender Hintergrundmusik. Die Klägerin konnte nach ihrem glaubhaften Vortrag mit den jetzt begehrten Hörgeräten nicht nur im Beruf, sondern auch im privaten Bereich am besten hören, so dass die Versorgung in die Leistungspflicht nach Krankenkassenrecht fällt. Dies ist angesichts der Messergebnisse schlüssig. Die Hörgeräte, die der Akustiker eigenanteilsfrei angeboten hat, erfüllten hingegen nicht die für die Klägerin notwendigen Anforderungen an die Hörgeräteversorgung, da sie erheblich schlechtere Messergebnisse aufwiesen. Deshalb stellen sie keine ausreichende Versorgung im Sinne des § 12 Abs. 1 SGB V für die bei der Klägerin bestehende Hörbehinderung dar.
40 Selbst wenn die Beklagte der Ansicht gewesen wäre, es liege ein berufsspezifischer Mehrbedarf vor (wie im Bescheid angedeutet), so hätte sie im Rahmen ihres Verwaltungsverfahrens Ansprüche nach Rentenversicherungsrecht prüfen und bejahen müssen, so dass sie ebenfalls den gesamten Betrag hätte übernehmen müssen. Denn die Zuständigkeit eines Trägers im Sinne von § 14 Abs. 1 u. 2 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX), hat zwingend zur Folge, dass im Verhältnis zwischen diesem und dem Leistungsberechtigten der Anspruch anhand aller Rechtsgrundlagen zu prüfen ist, die überhaupt in der konkreten Bedarfssituation in Betracht kommen. (vgl. BSG, Urteil v. 20.10.2009 – B 5 R 5/07 R; BSG, Urteil v. 21.08.2008 – B 13 R 33/07 R; BSG, Urteil v. 26.06.2007 – B 1 KR 34/06 R) Der Verweis der Beklagten auf den Rentenversicherungsträger im Bescheid vom 29.07.2010 ist danach nicht haltbar, da die Beklagte nach § 14 SGB IX als erstangegangener Leistungsträger auch Ansprüche nach allen anderen in Betracht kommenden Leistungsgesetzen wie dem Sozialgesetzbuch Sechstes Buch hätte prüfen müssen. Da die Beklagte den Antrag nicht weitergeleitet, sondern bearbeitet hat, ist sie endgültig zuständig geworden. (vgl. zur Vertiefung BSGE 93, Seite 283; BSGE 101, Seite 207; BSG, Urt.v.29.09.2009 – B 8 SO 19/08 R; BSG, Urteil v. 20.10.2009, B 5 R 5/07 R, zitiert nach Juris)
41 5. Die Argumentation der Beklagten, der Akustiker habe seine Verpflichtungen aus dem Vertrag zur Komplettversorgung mit Hörsystemen zwischen der Bundesinnung der Hörgeräteakustiker und dem Verband der Angestellten-Krankenkassen e.V. sowie dem Arbeiter-Ersatzkassen-Verband e.V. (im Folgenden: BIHA-Vertrag) nicht eingehalten, greift gegenüber der Klägerin nicht durch. Ob die Beklagte im Innenverhältnis mit Ihren Hilfsmittellieferanten Verträge abschließt, kann im Außenverhältnis zur Versicherten nicht zu Einschränkungen von gesetzlichen Ansprüchen führen (siehe dazu bereits unter 2.). Ob es der Klägerin gegenüber eine Vertragsverletzung nach dem BIHA-Vertrag darstellt, dass der Hörgeräteakustiker kein zuzahlungsfreies Gerät mit gleichen Messwerten (auch im Störgeräusch) angeboten hat, ist im Außenverhältnis zur Versicherten nicht von Relevanz. Es bleibt der Beklagten unbenommen, den Hörgeräteakustiker gegebenenfalls in Regress zu nehmen oder ihn gem. § 12 des Vertrages abzumahnen oder den Vertrag mit ihm zu kündigen bzw. gem. § 15 des Vertrages eine Vertragsstrafe von bis zu 10.000 € zu verhängen. (vgl. auch SG Oldenburg, Beschl. v. 21.03.2012 – S 61 KR 6/12 ER, zitiert nach Juris)
42 Das Risiko, für überhöhte Vergütungsansprüche aufkommen zu müssen, trifft im Sachleistungssystem der gesetzlichen Krankenversicherungen grundsätzlich die Krankenkassen, nicht aber den Versicherten bei Inanspruchnahme der Leistung. Die Versicherten erhalten Sach- und Dienstleistungen grundsätzlich kostenfrei. Demgemäß obliegt die kostengünstige Abwicklung der Versorgung grundsätzlich den Krankenkassen (BSG, Urt. vom 17.12.2009 – B 3 KR 20/08 R, Rn. 24, zitiert nach Juris).
43 6. Nach alledem hat die Klage Erfolg. Die Beklagte ist im Wege der Sachleistung verpflichtet, der Klägerin das begehrte Hilfsmittel mit Ausnahme der gesetzlichen Zuzahlung eigenanteilsfrei zur Verfügung zu stellen.
44 Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.