Zur Haftung des Pflegeheims für Verletzung eines Heimbewohners durch Sturz

OLG Düsseldorf, Urteil vom 17.01.2012 – I-24 U 78/11, 24 U 78/11

1. Bedarf der Heimbewohner beim Ent- und Ankleiden der besonderen Betreuung und Fürsorge, so trifft den Heimbetreiber und seine Angestellten eine gesteigerte, erfolgsbezogene Obhutspflicht.(Rn.25)

2. Kommt der Heimbewohner in einer derartigen Situation zu Schaden, so hat sich der Heimbetreiber von vermutetem Verschulden zu entlasten.(Rn.26)

3. Es ist Aufgabe des Gerichts, nicht des Sachverständigen auf Grund seiner Feststellungen das Verschulden zu beurteilen und eine etwaige Fahrlässigkeit anzunehmen.(Rn.32)

(Leitsätze des Gerichts)

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 24. Februar 2011 verkündete Urteil der 5. Zivilkammer des Landgerichts Wuppertal – Einzelrichter – unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 6.426,92 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 21. April 2007 sowie weitere 313,86 EUR zu zahlen. Die weitergehende Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

A.

1

Die Klägerin ist der gesetzliche Krankenversicherer der am 4. August 1933 geborenen Frau K. (im Folgenden: „Versicherte“). Die Versicherte wird seit dem Jahre 2003 vollstationär in einem von der Beklagten betriebenen Altenheim untergebracht und versorgt. Ausweislich eines MDK-Gutachtens vom 13. Juni 2003 besteht die Pflegestufe II unter anderem wegen einer Mobilitätseinbuße bei Stammganglienblutung rechts mit Hemiplegie links.

2

Nach einer am 5. September 2005 erstellten Check-Liste zur Sturzprophylaxe musste für die Versicherte der Klägerin eine bestehende Sturzgefährdung in die Pflegeplanung aufgenommen werden. Für den 16. November 2005 ist in der Pflegedokumentation der Beklagten unter anderem vermerkt:

3

„Problem: Balanceschwierigkeiten

4

Ziel: Sturzvermeidung, Gleichgewichtsstabilität, keine Stürze

5

Maßnahmen: Bewohnerin nie alleine stehen lassen, Bewohnerin kann sich zum Stehen mit der Hand am Bettgitter festhalten und steht dann selbständig auf und gerade stehen“.

6

Die Pflegedokumentation der Beklagten verzeichnet weiter in den Monaten November und Dezember 2005 mehrmals Auffälligkeiten der Versicherten. So ist für den 18. November 2005 vermerkt, dass die Versicherte bei der Mobilisation sehr schlecht gestanden habe; es wird um Achtsamkeit beim Toilettengang ersucht. Am Abend des 19. November 2005 rutschte die Versicherte bei einem Transfer zu Boden, ohne dass es zu Verletzungen kam. Am 15. Dezember 2005 wird dokumentiert, die Versicherte habe beim Stehen einen starken Rechtsdrang.

7

Am 28. Januar 2006 gegen 14.00 Uhr stürzte die Versicherte nach einem Toilettengang. Ausweislich einer schriftlichen Stellungnahme der Pflegeschwester vollzog sich der Sturz wie folgt: „Am 28. Januar 2006, 14.00 Uhr, wurde Frau K. auf den Toilettenstuhl gesetzt. Beim Wiederankleiden stand sie am festgestellten Bett und hielt sich mit beiden Händen fest. Direkt hinter ihr stand der festgestellte Toilettenstuhl und neben ihr eine Pflegekraft. Ohne erkennbaren Anlass und unvermittelt kippte Frau K. zur Seite. Obwohl die anwesende Pflegekraft sie noch teilweise halten konnte, glitt sie zwischen Bett und Toilettenstuhl auf den Boden.“

8

Durch den Sturz zog sich die Versicherte einen Oberschenkelhalsbruch links zu. Deswegen musste sie sich stationär im Klinikum der Stadt Solingen in der Zeit vom 28. Januar bis zum 14. Februar 2006 aufhalten. Die Klägerin musste unstreitig Heilungskosten in Höhe von insgesamt 6.426,92 EUR aufwenden.

9

Mit Schreiben vom 27. März 2006 meldete die Klägerin bei der Beklagten erstmals Schadensersatzansprüche zur Zahlung an, die sie mit Schreiben vom 20. März 2007 bezifferte. Die Beklagte hatte bereits zuvor ihre Haftung dem Grunde nach abgelehnt.

10

Die Klägerin hat behauptet, der Sturz ihrer Versicherten sei auf die Verletzung von Betreuungs- und Aufsichtspflichten der Mitarbeiter der Beklagten zurückzuführen. Sie hat die Ansicht vertreten, zu ihren Gunsten streite ein Anscheinsbeweis, da es Aufgabe der Mitarbeiter der Beklagten in der konkreten Betreuungssituation gewesen sei, Stürze der Versicherten zu vermeiden. Es sei deshalb Sache der Beklagten aufzuzeigen und nachzuweisen, dass der Vorfall nicht auf einem Fehlverhalten des Pflegepersonals beruhe. In der konkreten Gefahrensituation habe für die Versicherte eine zweite Pflegeperson hinzugezogen werden müssen, um jegliche Sturzgefahr auszuschalten. Es stelle auch einen Pflegefehler dar, dass die Pflegekraft die Versicherte in dem Moment des Aufstehens und des Ankleidens nicht gestützt habe.

11

Die Klägerin hat beantragt,

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die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 6.426,92 EUR nebst Zinsen von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 21. April 2007 sowie vorgerichtliche Rechtanwaltskosten von 603,93 EUR zu zahlen.

13

Die Beklagte hat beantragt,

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die Klage abzuweisen.

15

Sie hat behauptet, bei dem Sturz der Versicherten habe es sich um ein schicksalhaftes Ereignis gehandelt, für welches sie nicht hafte. Aus den Unterlagen „Pflegedokumentation und Sturzprophylaxe“ ergebe sich, dass ihre Mitarbeiter ihrer Pflicht zur Sturzprofilaxe nachgekommen seien. Die Versicherte habe aus dem Toilettenstuhl selbständig aufstehen und mit Anhalt für kurze Zeit selbständig stehen können, so dass eine Unterstützung hierfür nicht erforderlich gewesen sei. Eine konkrete Gefahrensituation habe nicht bestanden. Die Versicherte habe während des Ankleidevorgangs kurz mit Festhalten am Bettgitter stehen können. Die Hinzuziehung einer zweiten Pflegeperson sei nicht erforderlich gewesen. Es hätten keine Erkenntnisse vorgelegen, die konkret auf einen Sturz der Versicherten während des Ankleidens hingedeutet hätten.

16

Das Landgericht hat mit seinem am 24. Februar 2011 verkündeten Urteil nach Einholung eines Sachverständigengutachtens die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Beklagten sei der Nachweis gelungen, dass als Ursache für den Sturz ein nicht zu erwartendes und nicht vorhersehbares Verhalten der Versicherten ernsthaft in Betracht komme, so dass der für die Klägerin grundsätzlich streitende Anscheinsbeweis erschüttert sei. Es sei der Sachverständigen Dr. M. zu folgen, die ausgeführt habe, es hätten keine hinreichenden Hinweise vorgelegen, aus denen die Beklagte auf die Gefahr von Sturzereignissen oder Gefährdungen der Versicherten in Zusammenhang mit Toilettengängen oder Transfers vom Rollstuhl auf das Bett hätte schließen können oder müssen. In der Zeit vor und nach dem Sturzereignis seien eine gewisse Stehfähigkeit und eine minimale Gehfähigkeit der Versicherten vorhanden gewesen. Die Versicherte sei grundsätzlich in der Lage gewesen, sich am Bett mit dem gesunden Arm festzuhalten. Dann sei aber auch die Betreuung mittels einer Pflegeperson in Zusammenhang mit dem Toilettengang ausreichend gewesen und hätte dem pflegerischen Standard entsprochen.

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Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags mit der Berufung. Die Beklagte verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung.

18

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

B.

19

Die zulässige Berufung der Klägerin hat bis auf einen geringen Teil der Nebenforderung Erfolg.

I.

20

Der Klägerin steht wegen der Verletzungen, die die Versicherte bei dem Sturz am 28. Januar 2006 erlitten hat, ein gemäß § 116 Abs. 1 SGB X auf sie übergegangener Anspruch der Versicherten auf Zahlung von Schadensersatz gegen die Beklagte gem. §§ 611, 280 Abs. 1 S. 1, 278 BGB in Verbindung mit dem Heimvertrag vom 6. August 2004, außerdem auch auf deliktischer Grundlage (§ 823 Abs. 1 BGB, § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 229 StGB, § 831 BGB) zu.

21

1. Aus dem Heimvertrag ergaben sich für die Beklagte Obhutspflichten zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit der ihr anvertrauten Heimbewohnerin (vgl. BGHZ 163, 53 = NJW 2005, 1937; NJW 2005, 2613; OLG Hamm OLGR 2006, 569; OLG Koblenz NJW-RR 2002, 867; Senat, VersR 2008, 1079 = OLGR Düsseldorf 2008, 585; NJW-RR 2010, 1533). Der Vertrag sieht unter § 3 II. in Einklang mit dem Heimgesetz vor, dass der Leistungsträger nach dem individuellen Stand der Bewohner Pflegeleistungen erbringt, die nach dem allgemein anerkannten Stand pflegewissenschaftlicher Erkenntnisse ausgeführt werden. Inhalt der Pflegeleistungen sind u.a. die im Einzelfall erforderlichen Tätigkeiten zur Unterstützung der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens. Der Umfang der pflegerischen Leistungen richtet sich dabei nach dem jeweiligen Gesundheitszustand und Pflegezustand der Bewohner und ist auf die in Pflegeheimen üblichen Maßnahmen begrenzt, die mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand realisierbar sind (vgl. BGH, NJW 2005, 1937, 1938; OLG Hamm, OLGR 2006, 569; OLG München VersR 2004, 618, 619; OLG Koblenz NJW-RR 2002, 867, 868; Senat, NJW-RR 2010, 1533). Zu beachten ist schließlich, dass beim Wohnen in einem Heim die Würde sowie die Interessen und Bedürfnisse der Bewohner vor Beeinträchtigungen zu schützen und die Selbständigkeit, die Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung der Bewohner zu wahren und zu fördern sind (vgl. nur BGHZ 163, 53 = NJW 2005, 1937; Senat, PflR 2009, 568; NJW-RR 2010, 1533).

22

Der schuldhafte Verstoß gegen die so umschriebenen Pflichten führt zu dem oben genannten Schadensersatzanspruch aus positiver Vertragsverletzung des Heimvertrages wie auch aus deliktischer Verletzung der inhaltsgleichen allgemeinen Verkehrssicherungspflicht zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit der ihr anvertrauten Versicherten (vgl. Senat, BtPrax 2009, 250; OLGR Düsseldorf 2009, 535).

23

2. Entgegen der Annahme des Landgerichts ist hier davon auszugehen, dass die Beklagte die ihr danach gegenüber der Versicherten obliegenden Pflichten verletzt hat und diese deshalb zu Fall gekommen ist.

24

a) Grundsätzlich ist allerdings die Klägerin für eine mögliche Pflichtverletzung der Beklagten darlegungs- und beweisbelastet (vgl. nur BGH, NJW 2005, 1937; NJW 2005, 2613; OLG Frankfurt, PatR 2006, 62; OLGR 2005, 904). Allein der Umstand, dass eine Heimbewohnerin im Bereich eines Pflegeheims gestürzt ist und sich dabei verletzt hat, erlaubt keinen Schluss auf eine schuldhafte Pflichtverletzung des Pflegepersonals (vgl. Senat, OLGR Düsseldorf 2009, 535). Etwas anderes gilt aber, wenn sich der Vorfall bei einer konkreten Pflege- oder Betreuungsmaßnahme ereignet hat, die in den voll beherrschbaren Gefahrenbereich des Pflegeheimträgers fiel, also in einer konkreten Gefahrensituation, die für die Beklagte gegenüber der Versicherten gesteigerte Obhutspflichten auslöste und deren Beherrschung einer speziell dafür eingesetzten Pflegekraft anvertraut war (vgl. BGH, NJW 1991, 1540; Senat, PflR 2009, 568; NJW-RR 2010, 1533; OLG München, PflR 2009, 142; Urteil vom 28.02.2006 – 20 U 4636/05; OLG Hamm, OLGR 2006, 569).

25

So liegt der Fall hier. Denn die Versicherte ist nicht im normalen, alltäglichen Gefahrenbereich zu Schaden gekommen, sondern bei einem begleiteten Toilettengang und damit bei einer konkreten Pflegemaßnahme in dem vom Pflegeheimträger voll beherrschten Gefahrenbereich. Zwar gehört der Gang zur Toilette an sich zum normalen Alltagsgeschehen; hier war es aber so, dass die Versicherte gerade bei dem damit verbundenen Ent- und Ankleiden der besonderen Betreuung und Fürsorge bedurfte. Dies wird bereits daraus deutlich, dass eine Person dazu abgestellt war, sich um die Versicherte bei diesen Verrichtungen zu kümmern. In einer solchen Gefahrensituation traf die Beklagte eine gesteigerte, erfolgsbezogene Obhutspflicht (vgl. Senat, PflR 2009, 568 = BtPrax 2009, 250; OLG Hamm, OLGR 2006, 569). Sie hatte für die Vermeidung jeder unfallbedingten, körperlichen Beeinträchtigung der Versicherten Sorge zu tragen. Schon das Verfehlen dieses Zieles rechtfertigt den Schluss auf die Verletzung der Obhutspflicht, so dass es Sache der Beklagten ist, aufzuzeigen und nachzuweisen, dass der Vorfall nicht auf einem pflichtwidrigen Verhalten der Pflegekraft oder mangelnder Sturzprophylaxe beruhte.

26

Die Beklagte hat mithin nicht nur – im Sinne der Erschütterung eines Anscheinsbeweises – darzulegen und nachzuweisen, dass ein nicht zu erwartendes und nicht vorhersehbares Ereignis als Sturzursache ernsthaft in Betracht kommt, sie hat vielmehr den vollen Entlastungsbeweis zu führen (vgl. BGH, NJW 1991, 1540; Senat, NJW-RR 2010, 1533; OLG München, PflR 2009, 142; ; KG, KGR Berlin 2008, 505; OLG Zweibrücken, NJW-RR 2006, 1254; OLG Dresden, NJW-RR 2000, 761).

27

b) Dieser Entlastungsbeweis ist der Beklagten nicht gelungen.

28

Die Versicherte war zum Zeitpunkt des Sturzes 73 Jahre alt, bereits seit geraumer Zeit infolge einer Stammganglienblutung linksseitig gelähmt und wegen der damit einhergehenden Mobilitätseinbußen pflegebedürftig. Seit 2003 war sie in einem Pflegeheim der Beklagten untergebracht. Die Schwere der Behinderung der Versicherten wird von den Parteien unterschiedlich bewertet. Unstreitig ist aber, dass die Versicherte sich im Rollstuhl fortbewegen musste und diesen selbst nur für kurze Strecken mit dem rechten Arm und dem rechten Bein bewegen konnte. Beim Aufstehen aus liegender und sitzender Position benötigte sie Hilfe, ebenso wie beim Toilettengang und beim An- und Entkleiden des Unterkörpers. Die Versicherte war weiter grundsätzlich in der Lage, kurzzeitig selbstständig zu stehen, wenn sie sich mit der rechten Hand festhalten konnte.

29

Dass die Versicherte sturzgefährdet war, war bei der Beklagten zum Unfallzeitpunkt bekannt. Dies ergibt sich insbesondere aus der Pflegeplanung vom 16. November 2005. Dort sind Balanceschwierigkeiten der Versicherten als Problem vermerkt, als Ziele werden „Sturzvermeidung, Gleichgewichtsstabilität, keine Stürze“ aufgeführt; unter Maßnahmen ist vermerkt, die Bewohnerin nie alleine (Hervorhebung im Original) stehen zu lassen. Die Versicherte könne sich aber zum Stehen mit der rechten Hand am Bettgitter festhalten und stehe dann selbständig; es sei darauf zu achten, dass der linke Fuß sicheren Bodenkontakt habe. Aus der Pflegedokumentation der Beklagten ergibt sich weiter, dass die Versicherte in den Monaten November und Dezember 2005, also kurz vor dem hier in Rede stehenden Unfallereignis, mehrmals besondere Schwierigkeiten beim Stehen hatte. So ist für den 18. November 2005 vermerkt, dass die Versicherte bei der Mobilisation sehr schlecht gestanden habe; es wird um Achtsamkeit beim Toilettengang (!) ersucht. Am Abend des 19. November 2005 rutschte die Versicherte bei einem Transfer zu Boden, ohne dass es zu Verletzungen kam. Am 15. Dezember 2005 wird dokumentiert, die Versicherte habe beim Stehen einen starken Rechtsdrang. Es gab mithin entgegen dem Vorbringen der Beklagten sehr wohl zahlreiche konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Versicherte zum Sturz kommen könne.

30

Die Ereignisse von Ende 2005 und die ohnehin bekannte Sturzgefahr der Versicherten verdichteten damit die Obhutspflichten der Beklagten dahin, dem Risiko eines möglichen Sturzes gerade im Zusammenhang mit Toilettengängen der Versicherten durch zusätzliche personelle oder technische Maßnahmen vorzubeugen. Dem war ausgehend davon, dass ein fahrlässiges Verhalten der Pflegerin Leinweber in der konkreten Situation nicht vorlag, mit der Begleitung durch eine Pflegekraft nicht Genüge getan. Denn diese war, wie der Unfallverlauf zeigt, jedenfalls in der Situation des Ankleidens allein nicht in der Lage, die Versicherte im Falle eines Sturzes zu halten. Dass die Pflegekraft nur deshalb den Sturz der Versicherten nicht auffangen konnte, weil sie sich gerade gebückt hatte, um der Versicherten die Hosen hochzuziehen, vermag die Beklagte nicht zu entlasten. Denn diese Gefahrensituation war zwangsläufig mit jedem Toilettenbesuch der Versicherten verbunden und deshalb vorhersehbar. Es hätte daher der Hinzuziehung eines zweiten Pflegers oder sonstiger geeigneter Maßnahmen bedurft, um einen Sturz der Versicherten sicher zu verhindern. Insbesondere war es Aufgabe der Pflegeleitung, durch entsprechende Anweisungen die Pflegekräfte zu solchen zusätzlichen Maßnahmen zu veranlassen.

31

c) Demgegenüber vermag das Gutachten der Sachverständigen Dr. M. die Beklagte nicht überzeugend zu entlasten. Die Sachverständige hat als Ergebnis ihrer Begutachtung festgestellt, eine zweite Hilfsperson sei weder aus neurologischer noch aus pflegerischer Sicht für Transfers der Versicherten erforderlich gewesen. Dieser Schluss erscheint indes anhand der vorliegenden, von der Sachverständigen ausgewerteten Unterlagen schon nicht nachvollziehbar. Die Sachverständige hat in ihrem Gutachten zunächst selbst festgestellt, dass sich die Halbseitenlähmung der Versicherten in ihrer spastischen Auswirkung von 2003 bis 2009 verstärkt habe; dies habe – ebenso wie die in diesem Zeitraum festzustellende Gewichtszunahme – durchaus Konsequenzen für die pflegerischen Verrichtungen wie etwa die Hilfe beim Stehen. Die Sachverständige hat weiter festgestellt, die Versicherte sei mit Unterstützung ihres rechten Arms kurz stehfähig gewesen und über einen langen Zeitraum hinweg durch nur eine Pflegekraft betreut worden, ohne dass es dabei zu Unfallereignissen gekommen sei. Sie hat der Beklagten zudem zugute kommen lassen, dass diese die Einschränkungen der Versicherten sorgsam beobachtet und die im November/Dezember 2005 aufgetretenen Auffälligkeiten dokumentiert und zum Anlass genommen habe, zu vermehrter Aufmerksamkeit – gerade beim Toilettengang – zu mahnen.

32

Wenn die Sachverständige aus diesen Feststellungen den Schluss gezogen hat, Fahrlässigkeit der Beklagten habe nicht vorgelegen, hat sie damit ihren Kompetenzbereich überschritten. Der Sachverständigen oblag es lediglich, den Sachverhalt anhand der ihr vorliegenden Unterlagen in medizinischer Hinsicht zu bewerten. Wie weit bei den festgestellten Gegebenheiten eine Pflichtverletzung der Beklagten vorliegt, ist dagegen eine originär rechtliche Würdigung, die allein das Gericht zu vollziehen hat. Vor diesem Hintergrund bedarf es auch nicht der Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens, weil der Senat die Frage der Fahrlässigkeit der Beklagten abweichend von der Sachverständigen bewertet. Der Senat vermag aus den feststehenden Umständen den sicheren Schluss zu ziehen, dass sich die Beklagte jedenfalls nicht entlastet und nachgewiesen hat, dem Risiko eines Sturzes der Versicherten in der gebotenen Weise vorgebeugt zu haben.

33

Wenn es, wie es die Sachverständige selbst feststellt, auch für eine in der Nähe befindliche Pflegekraft nicht möglich war, einen plötzlichen Sturz der Versicherten auf zu halten, durfte es die Beklagte dabei nämlich mindestens im Anschluss an die Ende 2005 verstärkt aufgetretenen Schwierigkeiten der Versicherten nicht belassen. Ob sich die Ende 2005 dokumentierten konkreten Balanceschwierigkeiten der Versicherten – wie die Sachverständige und daran anschließend die Beklagte – als nicht unübliche „Schwankungen in der Betreuungssituation“ beschreiben lassen, ist ebenso unerheblich wie die Tatsache, dass die Sachverständige nicht klären konnte, wie es zu der Verschlechterung gekommen war. Denn der Pflegedienstleister hat auch auf übliche Probleme der Heimbewohner angemessen zu reagieren, und gerade wenn deren Ursachen nicht aufgeklärt sind, ist besondere Vorsicht geboten. Die Beklagte kann sich deshalb auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass vor dem Unfall sechs Wochen ohne besondere Probleme der Versicherten vergangen waren.

34

Auch die erstinstanzliche Bewertung des unfallursächlichen Verhaltens der Versicherten als atypisch vermag nicht zu überzeugen. In der Pflegedokumentation ist für den 15. Dezember 2005 festgehalten, dass die Versicherte beim Stehen einen Rechtsdrang habe, weil sie ihre gesunde (rechte) Körperhälfte übermäßig beanspruche. Eben mit dieser rechten Hand hat sich die Versicherte aber ihren Angaben gegenüber dem behandelnden Arzt nach bei dem Sturz im Januar nicht mehr halten können. Auch die Sachverständige hat das Unfallgeschehen in ihrer Anhörung auf ein Versagen der Kräfte der Versicherten zurückgeführt. Gerade ein solches Versagen war aber nach den Erfahrungen aus Dezember 2005 vorhersehbar.

35

Die Beklagte hätte daher bei den Toilettengängen der Versicherten geeignete Maßnahmen zu deren Schutz ergreifen, entweder eine zweite Pflegekraft hinzuziehen oder etwa einen sogenannten „Lifter“ mit Gurtgeschirr einsetzen müssen (vgl. hierzu Senat, PflR 2009, 568 = BtPrax 2009, 250). Dass ihr dies nicht zumutbar gewesen wäre, ist nicht ersichtlich. Dass sie dies unterlassen hat, ist ihr als Verschulden anzulasten.

II.

36

a) Die Klägerin hat ihren Anspruch zur Hauptforderung der Höhe nach schlüssig dargetan und belegt; insoweit besteht zwischen den Parteien kein Streit.

37

b) Die Klägerin kann Verzugszinsen (§ 288 Abs. 1 BGB) auf die gesamte Klageforderung wie beantragt seit dem 21. April 2007 verlangen, da die Beklagte bereits mit Schreiben vom 14. November 2006 die Begleichung der von der Klägerin geltend gemachten Forderungen dem Grunde nach verweigert hat (§ 286 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 BGB).

38

b) Die Klägerin kann weiter als Schadensersatz von der Beklagten Zahlung der ihr entstandenen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten beanspruchen; nachdem sie zwischenzeitlich belegt hat, die anwaltliche Forderung beglichen zu haben, ist sie nicht mehr auf einen Freistellungsanspruch zu verweisen.

39

Der Höhe nach kann sie Erstattung nur von 313,86 EUR verlangen. Im vorliegenden Verfahren kann die Klägerin nämlich nur eine 0,65 Geschäftsgebühr geltend machen. Im Übrigen besteht kein Rechtsschutzbedürfnis, weil die weitere Gebühr auf die im Kostenfestsetzungsverfahren geltend zu machende Verfahrensgebühr anzurechnen ist.

40

Nach Inkrafttreten des § 15 a RVG am 15. August 2009 hat der Bundesgerichtshof in mehreren Entscheidungen klargestellt, dass die Vorschrift auch auf sogenannte Altfälle mit der Folge Anwendung findet, dass gegenüber dem Gegner die volle Verfahrensgebühr auch in den Fällen festzusetzen ist, in denen schon eine Geschäftsgebühr entstanden ist (BGH, Beschluss vom 2. September 2009, II ZB 35/07, ZIP 2009, 1927; ausführlich BGH, Beschluss vom 9. Dezember 2009, XII ZB 175/07; Beschluss vom 11. März 2010, XI ZB 82/08; Beschluss vom 24. März 2010, XII ZB 227/09; Beschluss vom 29. April 2010, V ZB 38/10, zitiert nach bundesgerichtshof.de, jetzt auch Beschluss vom 14. September 2010 – VIII ZB 33/10, AGS 2010, 473; ferner Beschluss vom 28. Oktober 2010, VII ZB 15/10 bei JURIS). Dann besteht aber umgekehrt kein Bedürfnis, zusätzlich auch den Teil der Geschäftsgebühr zu titulieren, der in der Verfahrensgebühr durch Anrechnung aufgeht. Diese Verfahrensweise entsprach der ganz überwiegenden Praxis (vgl. etwa HansOLG, MDR 2007, 57-58; OLG Frankfurt, NJW-RR 2007, 1189; KG, JurBüro 2006, 202; OLG Stuttgart, JurBüro 2008, 23-25) vor Erlass der Entscheidung des VIII. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 22. Januar 2008 (VIII ZB 57/07, NJW 2008, 1323); die Einführung des § 15 a RVG sollte der Klarstellung dienen, dass weiterhin in diesem Sinne verfahren werden solle (vgl. BGH, Beschluss vom 29. April 2010, V ZB 38/10, a.a.O.).

41

Es ergibt sich damit folgende Berechnung:

42

375,00 EUR Gebühr, x 0,65 = 243,75 EUR
Kostenpauschale 20,00 EUR
19 % Mehrwertsteuer 50,11 EUR
&nbsp 313,86 EUR

III.

43

Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.

44

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

45

Es besteht kein Anlass, die Revision zuzulassen, § 543 Abs. 2 ZPO.

46

Streitwert für die Berufungsinstanz: 6.426,92 EUR.

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