Zur prozessualen Beweiswürdigung bei Infektion mit multiresistenten Krankenhauskeimen

BGH, Beschluss vom 16. August 2016 – VI ZR 634/15

Zur prozessualen Beweiswürdigung bei Infektion mit multiresistenten Krankenhauskeimen bei unklarer Infektionsquelle

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 12. Oktober 2015 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Streitwert: 97.868,26 €

Gründe

I.

Der Kläger nimmt die Beklagte wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung und unzureichender Aufklärung auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch.

Der am 8. Juli 1973 geborene Kläger litt ab Sommer 2009 unter Beschwerden im rechten Ellenbogen. Im November 2009 wurde er wegen eines sog. „Tennisarms“ krankgeschrieben und konnte seiner Berufstätigkeit als Kfz-Meister nicht mehr nachgehen. Die Hausärztin des Klägers überwies ihn an das beklagte Krankenhaus. Dort stellte sich der Kläger erstmalig am 11. Februar 2010 vor. Nachdem die zunächst durchgeführten konservativen Maßnahmen wie Gipsbehandlung, Spritzen, Salbenverbände, Schmerzmittel und Krankengymnastik nicht zu einer Besserung der Beschwerdesymptomatik geführt hatten, stellten die den Kläger behandelnden Ärzte am 4. März 2010 die Indikation zu einem operativen Eingriff. Die empfohlene Operation wurde am 9. März 2010 durchgeführt. Am 11. März 2010 wurde der Kläger bei reizlosen Wundverhältnissen in die hausärztliche Nachsorge entlassen. Am 19. April 2010 stellte sich der Kläger erneut in der Sprechstunde der Beklagten vor und berichtete über anhaltende Schmerzen im rechten Ellenbogen. Die ihn behandelnden Ärzte stellten eine deutliche Schwellung über der Ecksensorenplatte fest und empfahlen ihm eine Revisionsoperation. Diese wurde für den 30. April 2010 vereinbart. Aufgrund sehr starker Schmerzen im Bereich des angeschwollenen rechten Ellenbogengelenks und sichtbarer Eiterbildung stellte sich der Kläger aber bereits am 23. April 2010 bei der Beklagten vor. Am selben Tag wurde die Revision durchgeführt. Die alte Wunde wurde eröffnet. Nachdem sich Eiter entleert hatte, wurde ein Abstrich genommen. Die Wunde wurde ausgiebig gesäubert und ein Debridement durchgeführt. Wegen der Wundinfektion wurde eine antibiotische Therapie eingeleitet. Eine Untersuchung des entnommenen Abstrichs ergab, dass die Wunde mit dem Staphylococus aureus infiziert war, der multisensibel auf Antibiotika reagierte. Eine Nachkontrolle am 10. Mai 2010 ergab keine Auffälligkeiten. Die Beschwerdesymptomatik verbesserte sich allerdings nicht wesentlich. Der Kläger stellte sich deshalb am 23. Juni 2010 erneut bei der Beklagten vor und vereinbarte eine weitere Operation für den 28. Juni 2010. Hierbei wurde die alte Wunde erneut eröffnet. Ein Keimwachstum wurde nicht mehr festgestellt. Die Beschwerden des Klägers besserten sich auch nach der dritten Operation nicht. Der Kläger litt weiter unter einer Bewegungseinschränkung des rechten Ellenbogens und unter einem Schnappen im lateralen Bereich des Ellenbogens bei körperlicher Belastung. In der A. -Klinik in B. stellte man eine radiale kollaterale Bandinstabilität fest, weshalb eine Seitenbandplastik durch Entnahme eines Bindegewebstreifens aus dem Oberschenkel durchgeführt wurde. Der Kläger leidet heute noch unter einem Ruhe- und Belastungsschmerz.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde.

II.

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Beklagten sei ein Verstoß gegen Hygienestandards nicht vorzuwerfen, beruht auf einer Verletzung des Anspruchs des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.

1. Ohne Erfolg wendet sich die Nichtzulassungsbeschwerde allerdings gegen die Annahme des Berufungsgerichts, der Kläger müsse einen von der Beklagten zu verantwortenden Hygienefehler beweisen. Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, dass dem Kläger eine Beweislastumkehr nach den Grundsätzen über das vollbeherrschbare Risiko nicht zugutekommt.

a) Verwirklicht sich ein Risiko, das von der Behandlungsseite voll hätte beherrscht werden können und müssen, so muss sie darlegen und beweisen, dass sie alle erforderlichen organisatorischen und technischen Vorkehrungen ergriffen hatte, um das Risiko zu vermeiden (vgl. Senatsurteile vom 18. Dezember 1990 – VI ZR 189/90, VersR 1991, 310, 311; vom 8. Januar 1991 – VI ZR 102/90, VersR 1991, 467, 468; vgl. nunmehr § 630h Abs. 1 BGB). Voll beherrschbare Risiken sind dadurch gekennzeichnet, dass sie durch den Klinik- oder Praxisbetrieb gesetzt werden und durch dessen ordnungsgemäße Gestaltung ausgeschlossen werden können und müssen. Sie sind abzugrenzen von den Gefahren, die aus den Unwägbarkeiten des menschlichen Organismus bzw. den Besonderheiten des Eingriffs in diesen Organismus erwachsen und deshalb der Patientensphäre zuzurechnen sind. Denn die Vorgänge im lebenden Organismus können auch vom besten Arzt nicht immer so beherrscht werden, dass schon der ausbleibende Erfolg oder auch ein Fehlschlag auf eine fehlerhafte Behandlung hindeuten würden (Senatsurteil vom 18. Dezember 1990 – VI ZR 189/90, VersR 1991, 310, 311). Dem voll beherrschbaren Bereich ist beispielsweise die Reinheit des benutzten Desinfektionsmittels (Senatsurteil vom 9. Mai 1978 – VI ZR 81/77, VersR 1978, 764) oder die Sterilität der verabreichten Infusionsflüssigkeit (Senatsurteil vom 3. November 1981 – VI ZR 119/80, VersR 1982, 161) zuzurechnen. Gleiches gilt für die vermeidbare Keimübertragung durch an der Behandlung beteiligte Personen (Senatsurteile vom 20. März 2007 – VI ZR 158/06, BGHZ 171, 358 Rn. 8 f.; vom 8. Januar 1991 – VI ZR 102/90, VersR 1991, 467, 468). All diesen Fällen ist gemeinsam, dass objektiv eine Gefahr besteht, deren Quelle jeweils festgestellt und die deshalb mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann (Senatsurteil vom 20. März 2007 – VI ZR 158/06, BGHZ 171, 358 Rn. 11). Bei ungeklärter Infektionsquelle kommt eine Umkehr der Darlegungs- und Beweislast nach den Grundsätzen über das voll beherrschbare Risiko dagegen nicht in Betracht. Sie tritt vielmehr nur dann ein, wenn feststeht, dass der Gesundheitsschaden aus der von der Behandlungsseite vollbeherrschbaren Sphäre hervorgegangen ist (vgl. Senatsurteile vom 20. März 2007 – VI ZR 158/06, BGHZ 171, 358 Rn. 9; vom 17. Januar 2012 – VI ZR 336/10, VersR 2012, 363 Rn. 20; vom 18. Dezember 1990 – VI ZR 189/90, VersR 1991, 310, 311; vom 8. Januar 1991 – VI ZR 102/90, VersR 1991, 467, 468).

b) Diese Voraussetzung ist im Streitfall nicht erfüllt. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts steht nicht fest, wo und wann sich der Kläger infiziert hat. Der bei ihm nachgewiesene Erreger ist ein physiologischer Hautkeim, der bei jedem Menschen vorzufinden ist. Es ist möglich, dass der Kläger selbst Träger des Keims war und dieser in die Wunde gewandert ist oder der Keim durch einen Besucher übertragen worden ist.

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde wendet sich aber mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Kläger habe einen Verstoß gegen Hygienestandards nicht bewiesen, er habe insoweit nur Mutmaßungen mitgeteilt. Sie macht zu Recht geltend, dass das Berufungsgericht den Prozessstoff nicht vollständig gewürdigt und wesentliche, dem Kläger günstige Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen unberücksichtigt gelassen hat.

a) Nach dem mangels abweichender Feststellungen zu unterstellenden Sachvortrag des Klägers war er im Anschluss an die Operation vom 9. März 2010 in einem Zimmer neben einem Patienten untergebracht, der unter einer offenen, eiternden und mit einem Keim infizierten Wunde im Kniebereich litt, sein „offenes Knie“ dem Kläger und allen anderen Anwesenden bei den verschiedenen Verbandswechseln zeigte und darüber klagte, dass man den Keim nicht „in den Griff“ bekomme.

b) Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht geltend macht und das Berufungsgericht im Ansatz gesehen hat, ist die gemeinsame Unterbringung eines Patienten mit einer offenen infizierten Wunde neben einem Patienten, der einen unauffälligen postoperativen Heilverlauf aufweist, nach den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen dann nicht zu beanstanden, wenn folgende Empfehlungen der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention des Robert-Koch-Institutes eingehalten werden:

– „Prävention postoperativer Infektionen im Operationsgebiet“,

– „Zur Beherrschbarkeit von Infektionsrisiken primum non nocere“,

– „Anforderungen der Hygiene bei Operationen und anderen invasiven Eingriffen“

– „Anforderungen der Hygiene beim ambulanten Operieren im Kranken- haus und Praxis“.

Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet mit Erfolg, dass die Feststellung des Berufungsgerichts, der gerichtliche Sachverständige habe keine Anhaltspunkte für eine Verletzung der von ihm beschriebenen Hygienestandards gefunden, in den Ausführungen des Sachverständigen keine Grundlage findet. Der Sachverständige hatte vielmehr angegeben, es entziehe sich seiner Kenntnis, inwieweit die vom Robert-Koch-Institut veröffentlichten Empfehlungen im Rahmen der damaligen ersten stationären Behandlung des Klägers beachtet worden seien; hier müsse ggf. eine entsprechende Recherche betrieben werden, z.B. dazu, ob die Vorschriften zur hygienischen Händedesinfektion und zum Verbandswechsel unter keimarmen Bedingungen eingehalten worden seien. Dies könne er aus den ihm vorgelegten Unterlagen nicht ableiten. Er selbst vermeide derartige Patientenkonstellationen, um derartige Diskussionen nicht führen zu müssen.

c) Diese ihm günstigen Ausführungen des Sachverständigen hatte sich der Kläger zumindest konkludent zu Eigen gemacht (vgl. Senatsurteil vom 8. Januar 1991 – VI ZR 102/90, VersR 1991, 467, 468 mit Anm. Jaeger; Senatsbeschlüsse vom 10. November 2009 – VI ZR 325/08, VersR 2010, 497 Rn. 5; vom 4. Dezember 2012 – VI ZR 320/11, juris Rn. 4; vom 14. Januar 2014 – VI ZR 340/13, VersR 2014, 632 Rn. 11; vom 24. März 2015 – VI ZR 179/13, NJW 2015, 2125 Rn. 17). Es entspricht einem allgemeinen Grundsatz, dass eine Partei die bei einer Beweisaufnahme zutage tretenden Umstände, soweit sie ihre Rechtsposition zu stützen geeignet sind, auch ohne dahingehende ausdrückliche Erklärung in ihr Klagevorbringen aufnimmt. Dieser Grundsatz verdient im Arzthaftungsprozess nach Einholung eines Sachverständigengutachtens zugunsten des geschädigten Patienten umso mehr Beachtung, als der Patient im allgemeinen die medizinischen Vorgänge und Zusammenhänge nur unvollkommen zu überblicken vermag und deshalb in gewissem Umfange darauf angewiesen ist, dass der Sachverhalt durch Einholung eines Sachverständigengutachtens aufbereitet wird (vgl. Senatsurteil vom 8. Januar 1991 – VI ZR 102/90, VersR 1991, 467, 468 mit Anm. Jaeger). Die Nichtberücksichtigung der die Rechtsposition des Klägers stützenden Ausführungen des Sachverständigen bedeutet, dass erhebliches Vorbringen des Klägers im Ergebnis übergangen und damit dessen verfassungsrechtlich gewährleisteter Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt worden ist (vgl. Senatsbeschlüsse vom 1. Juli 2014 – VI ZR 243/10, juris Rn. 8; vom 14. Januar 2014 – VI ZR 340/13, VersR 2014, 632 Rn. 11).

d) Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Berücksichtigung der Angaben des Sachverständigen zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre (vgl. Senatsbeschluss vom 17. Dezember 2013 – VI ZR 230/12, VersR 2014, 586 Rn. 7 mwN).

3. Bei der neuen Verhandlung wird das Berufungsgericht Gelegenheit haben, auf die weitere Aufklärung des Sachverhalts hinzuwirken. Es wird dabei zu berücksichtigen haben, dass die Beklagte die sekundäre Darlegungslast hinsichtlich der Maßnahmen trifft, die sie ergriffen hat, um sicherzustellen, dass die vom Sachverständigen als Voraussetzung für ein behandlungsfehlerfreies Vorgehen aufgeführten Hygienebestimmungen eingehalten wurden (vgl. auch OLG München, Urteil vom 6. Juni 2013 – 1 U 319/13, GesR 2013, 618 Rn. 37; Stöhr, GesR 2015, 257, 261; Schultze-Zeu/Riehn, VersR 2012, 1208, 1212). Zwar muss grundsätzlich der Anspruchsteller alle Tatsachen behaupten, aus denen sich sein Anspruch herleitet. Dieser Grundsatz bedarf aber einer Einschränkung, wenn die primär darlegungsbelastete Partei außerhalb des von ihr vorzutragenden Geschehensablaufs steht und ihr eine nähere Substantiierung nicht möglich oder nicht zumutbar ist, während der Prozessgegner alle wesentlichen Tatsachen kennt oder unschwer in Erfahrung bringen kann und es ihm zumutbar ist, nähere Angaben zu machen (vgl. Senatsurteile vom 14. Juni 2005 – VI ZR 179/04, BGHZ 163, 210 Rn. 18; vom 10. Februar 2013 – VI ZR 343/13, NJW-RR 2015, 1279 Rn. 11; vom 1. März 2016 – VI ZR 34/15, VersR 2016, 666 Rn. 47 f. – jameda.de II; vom 28. Juni 2016 – VI ZR 559/14, juris Rn. 18; BGH, Urteil vom 3. Mai 2016 – II ZR 311/14, WM 2016, 1231 Rn. 19). So verhält es sich hier. Der Kläger hatte konkrete Anhaltspunkte für einen Hygienevorstoß vorgetragen. Er hatte insbesondere darauf hingewiesen, dass er als frisch operierter Patient neben einen Patienten gelegt worden war, der unter einer offenen, mit einem Keim infizierten Wunde im Kniebereich litt und sein „offenes Knie“ allen Anwesenden zeigte. Dieser Vortrag genügt, um eine erweiterte Darlegungslast der Beklagten auszulösen. Denn an die Substantiierungspflichten der Parteien im Arzthaftungsprozess sind nur maßvolle und verständige Anforderungen zu stellen. Vom Patienten kann regelmäßig keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden. Er ist insbesondere nicht verpflichtet, sich zur ordnungsgemäßen Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen. Vielmehr darf er sich auf Vortrag beschränken, der die Vermutung eines fehlerhaften Verhaltens des Arztes aufgrund der Folgen für den Patienten gestattet (vgl. Senatsurteile vom 8. Juni 2004 – VI ZR 199/03, BGHZ 159, 245, 252; vom 24. Februar 2015 – VI ZR 106/13, VersR 2015, 712 Rn. 19). Zu der Frage, ob die Beklagte den vom Sachverständigen genannten Empfehlungen der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention des Robert-Koch-Institutes nachgekommen ist, konnte und musste der Kläger nicht näher vortragen. Er stand insoweit außerhalb des maßgeblichen Geschehensablaufs. Welche Maßnahmen die Beklagte getroffen hat, um eine sachgerechte Organisation und Koordinierung der Behandlungsabläufe und die Einhaltung der Hygienebestimmungen sicherzustellen (interne Qualitätssicherungsmaßnahmen, Hygieneplan, Arbeitsanweisungen), entzieht sich seiner Kenntnis (vgl. Stöhr, GesR 2015, 257, 261; Schultze-Zeu/Riehn, VersR 2012, 1208, 1212).

Dieser Beitrag wurde unter Arztrecht abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.