AG Hamburg, Urteil v. 24.04.1986 – 22 b C 708/85
Ein Minderjähriger, der vergessen hat, den Fahrschein für die Hamburger Hochbahn zu lösen, ist zur Zahlung eines erhöhten Entgelts nicht verpflichtet, da ihm der Abschluß eines Beförderungsvertrags von seinem gesetzlichen Vertreter nur unter der Voraussetzung des Erwerbs einer Fahrkarte genehmigt wurde.
Die minderjährige Bekl., die von ihren Eltern einen Geldbetrag für die Hin- und Rückfahrt zur Schule mit der Hamburger Hochbahn erhalten hatte, vergaß vor der Rückfahrt eine Fahrkarte zu lösen und wurde von einem Fahrkartenprüfer ohne Fahrschein angetroffen. Der gesetzliche Vertreter der Bekl. verweigerte die Genehmigung dieses Beförderungsvertrags. Die Kl., die Hamburger Hochbahn AG, verlangte mit der Klage ein erhöhtes Beförderungsentgelt von 40 DM zuzüglich 10 DM wegen nicht rechtzeitiger Zahlung des erhöhten Entgelts abzüglich des von der Bekl. gezahlten üblichen Fahrtentgeltes von 2,60 DM. Die Klage hatte keinen Erfolg.
… Der Kl. steht ein Anspruch gegen die Bekl. auf Zahlung eines erhöhten Beförderungsentgeltes von 47,40 DM nicht zu. Ein derartiger Anspruch der Kl. kann weder aus Vertrag noch aus Gesetz hergeleitet werden.
Zwischen den Parteien ist kein Beförderungsvertrag abgeschlossen worden. Durch die Benutzung der U-Bahn hat die Bekl. zwar durch schlüssiges Verhalten eine Willenserklärung, gerichtet auf den Abschluß eines Beförderungsvertrages ( § 631 BGB), abgegeben. Diese Willenserklärung bedurfte jedoch, da sie für die Bekl. nicht lediglich vorteilhaft war, nach § 107 BGB der Einwilligung des gesetzlichen Vertreters der Bekl. Eine derartige Einwilligung ist weder ausdrücklich noch konkludent erteilt worden. Bei Minderjährigen ist zwar nach der Lebenserfahrung bei Fahrten von und zu der Schule eine Einwilligung des gesetzlichen Vertreters in den Abschluß von Beförderungsverträgen anzunehmen. Eine derartige Einwilligung wurde auch von den Eltern der Bekl. für die Fahrt zu einer schulischen Veranstaltung erteilt. Diese Einwilligung war aber von Anfang an darauf beschränkt bzw. stand unter der Bedingung, daß die Bekl. für die Fahrt einen Fahrschein erwerben würde. Daß der gesetzliche Vertreter der Bekl. unbeschränkt bzw. unbedingt in die Benutzung der U-Bahn eingewilligt habe, behauptet die Kl. nicht. Eine derartige unbeschränkte oder unbedingte Einwilligung würde nämlich den Interessen der minderjährigen Bekl. zuwiderlaufen. Auch wenn man hier allein in der Hingabe eines Geldbetrages eine konkludent erteilte Einwilligung zum Abschluß eines Beförderungsvertrages erblickt, würde ein solcher Beförderungsvertrag nur wirksam, falls die Bekl. die vertragsmäßige Leistung vollständig bewirkt ( § 110 BGB), also das Geld für eine Fahrkarte entrichtet. Da die Bekl. keine Fahrkarte erworben hat bzw. die vertragsmäßige Leistung nicht bewirkte, wurde die beschränkte bzw. bedingte Einwilligung nicht wirksam. Der Beförderungsvertrag zwischen der Kl. und der Bekl. war damit zunächst schwebend unwirksam ( § 108 I BGB). Nach ausdrücklicher Verweigerung der Genehmigung durch den gesetzlichen Vertreter der Bekl. wurde der Beförderungsvertrag von Anfang an endgültig unwirksam. Zu demselben Ergebnis führt es auch, wenn man den Vertragsschluß nicht auf eine konkludente Willenserklärung, sondern auf ’sozialtypisches Verhalten‘ stützt. Denn den Regeln der §§ 107f. BGB über den Schutz Minderjähriger kommt auch in diesem Fall der Vorrang gegenüber dem Interesse des Rechtsverkehrs an der Gültigkeit abgeschlossener Verträge zu.
Die Vorschriften zum Schutz von Minderjährigen werden durch die VO BM Verkehr vom 27. 2. 1970 nicht modifiziert. Die genannte Verordnung regelt nur die Ausgestaltung der Beförderungsbedingungen von Fahrgastunternehmen. Auf das vertragliche Verhältnis zwischen Fahrgast und Beförderungsunternehmen hat sie keinen Einfluß. Auch die Beförderungsbedingungen der Hamburger Hochbahn AG regeln nur den Inhalt wirksam zustande gekommener Beförderungsverträge; sie gelten nicht unabhängig von einem Vertragsschluß.
Dem Klagantrag kann auch nicht aus den Deliktsvorschriften entsprochen werden. Für einen Ausspruch aus § 823 I BGB fehlt es an der Verletzung eines absoluten Rechtes der Kl. Ein Anspruch aus § 823 II BGB i. V. mit § 265a StGB scheitert am mangelnden Vorsatz der Bekl.
Die Kl. hat auch keinen Anspruch aus § 812 I BGB. Erlangt hat die Bekl. von der Kl. die Beförderung; deren Wert in Höhe von 2,60 DM ist von der Bekl. ersetzt worden.