Zur Erhebung der Einrede des nicht erfüllten Vertrages gegenüber Heilpraktiker

OLG Koblenz, Urteil vom 26.02.2007- 12 U 1433/04 – Heilpraktikerbehandlung

1. Die Schlechterfüllung eines Dienstvertrags lässt zwar den Vergütungsanspruch grundsätzlich unberührt. Wenn die Leistung des Dienstverpflichteten aber völlig unbrauchbar ist, kann gegenüber dem Honoraranspruch die Einrede des nicht erfüllten Vertrags erhoben werden (Rn.10). Das gilt auch im Fall der Polypragmasie eines Heilpraktikers, also einer sinn- und konzeptionslosen Diagnostik und Behandlung mit einer Vielzahl von Methoden (Rn.11).

2. Invasive Behandlungsmethoden eines Heilpraktikers, bei denen es sich nicht nur um Bagatelleingriffe handelt, sind ebenso wie ärztliche Heileingriffe tatbestandlich Körperverletzungen, die nur auf Grund einer wirksamen Einwilligung des Patienten gerechtfertigt werden (Rn.14).

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 10. Zivilkammer des Landgerichts Koblenz vom 26. Oktober 2004 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
1

Die Parteien streiten um restliche Honoraransprüche der Klägerin als Heilpraktikerin wegen der Behandlung der Erstbeklagten und des Sohnes der beiden Beklagten, nachdem umfangreichere Rechnungen über frühere Behandlungen bereits durch Zahlung von insgesamt 119.849,46 DM (61.278,06 Euro) beglichen worden waren. Im vorliegenden Fall geht es um unbezahlte Rechnungen vom 27. Dezember 2001 über 11.418 DM (5.837,93 Euro), vom 28. Dezember 2001 über 4.082 DM (2.087,09 Euro), jeweils bezüglich Behandlungen der Erstbeklagten, sowie Rechnungen vom 27. Dezember 2001 über insgesamt 7.761 DM (3.968,14 Euro) wegen Behandlungen des Sohnes. Diese Rechnungen waren nicht nach den Ansätzen des Gebührenverzeichnisses für Heilpraktiker, sondern anhand einer Liquidationsliste der Klägerin vom 1. Januar 1999 erstellt worden.
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Die Klägerin hat vorgetragen, sie habe die Gesamtsumme der Rechnungen von 23.261 DM (11.893,16 Euro) nach Meinungsdifferenzen mit der Erstbeklagten auf 20.693,42 DM (10.580,38 Euro) reduziert. Mit dieser Rechnungssumme habe sich die Erstbeklagte im Rahmen eines am 14. oder 15. Januar 2002 mit ihrem damaligen Mitarbeiter Dr. S… geführten Telefonates einverstanden erklärt und Zahlung in zwei Raten von 11.418 DM (5.837,93 Euro) und 9.275,42 DM (4.742,45 Euro) zugesagt. Beide Beklagten hafteten daher aufgrund eines Schuldanerkenntnisses, hilfsweise jedenfalls aber aufgrund der vertraglichen Vereinbarungen. Die abgerechneten Leistungen seien medizinisch indiziert gewesen und ordnungsgemäß erbracht worden. Die angewendeten Methoden seien naturheilkundlich anerkannt. Die den Rechnungen zugrunde gelegte Liquidationsliste sei der Erstbeklagten im Verlauf eines Gespräches im Juni 1999 übergeben und erläutert worden. Dabei habe sie auch erläutert, dass sie die Gebühren unabhängig von einer Erstattung durch die Krankenkasse geltend machen werde. Damit sei die Erstbeklagte einverstanden gewesen. Die Gebührenforderungen seien angesichts des Leistungsumfanges und der Schwierigkeit der Behandlung angemessen.
3

Die Klägerin hat beantragt, die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie 10.580,38 Euro nebst Zinsen zu zahlen.
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Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen.
5

Sie haben die Passivlegitimation des Zweitbeklagten bestritten und behauptet, die abgerechneten Leistungen seien weder medizinisch indiziert gewesen noch im geltend gemachten Umfang erbracht worden. Die Gebührenforderungen seien zudem unangemessen hoch. Ein Schuldanerkenntnis sei nicht abgegeben worden. Zumindest seien die Gebührenforderungen nicht fällig.
6

Das Landgericht hat die Klage nach Beweisaufnahme durch Urteil der 10. Zivilkammer vom 26. Oktober 2004 als derzeit unbegründet abgewiesen. Die Klägerin könne ihre Honorarforderungen weder auf ein Schuldanerkenntnis stützen noch auf ihre Rechnungen vom 27. und 28. Dezember 2001. Von einem Schuldanerkenntnis könne nicht ausgegangen werden, weil ein solches durch die Beweisaufnahme nicht bestätigt worden sei. Zwar habe der Zeuge Dr. S… das Klägervorbringen zu einem Telefonat mit der Erstbeklagten Mitte Januar 2002 grundsätzlich bestätigt; jedoch stünden dessen Angaben nicht im Einklang mit einem Schreiben der Beklagten vom 21. Januar 2002 (Bl. 92 d. GA).. Danach sei der Klägerin von den beiden Beklagten als Vergleichsvorschlag die Zahlung von noch 16.500 DM (8.436,32 Euro) angeboten worden. Ferner sei die Behauptung des Anerkenntnisses eines auf 20.693,42 DM (10.580,38 Euro) reduzierten Rechnungsbetrages mit einer Mahnung der Klägerin vom 31. Januar 2002 bezüglich des darin nicht reduzierten Betrages (Bl. 28 GA) unvereinbar. In beiden Schriftstücke sei das angeblich vorangegangene Schuldanerkenntnis mit Ratenzahlungsversprechen auch nicht erwähnt worden. Warum die Mahnung den dann nicht mehr reduzierten Gesamtbetrag der Rechnungen eingefordert habe, sei nicht erläutert worden. Der Zeuge Dr. S… habe auf Vorhalt dieser Schreiben keine nachvollziehbare Erklärung für den Ablauf zu geben vermocht. Er habe in seiner zweiten Vernehmung zwar im Einklang mit zwischenzeitlich ergänztem Parteivorbringen der Klägerin von einem weiteren Telefonat gesprochen, in dem das Ausbleiben der angeblich angekündigten ersten Zahlungsrate angemahnt worden sei. Dabei habe die Erstbeklagte auf einen Brief verwiesen, den sie nach Einholung einer Rechtsberatung an die Klägerin geschrieben habe. Vor diesem Hintergrund habe der Zeuge Dr. S… nach seiner Bekundung erklärt, nunmehr sei der nicht reduzierte Rechnungsbetrag zu zahlen. Auch gegen die Glaubhaftigkeit dieser Darstellung bestünden durchgreifende Bedenken, weil der neu geschilderte Vorgang in der ersten Vernehmung nicht erwähnt und der Aussageinhalt nach zwischenzeitlichem ergänzendem Parteivorbringen nur der Prozesslage angepasst worden sei. Die Zeugenaussage erweise sich deshalb als Erfindung. Erst nach Vorhalten des Gerichts aus den Schreiben hätte sich zuerst die Klägerin und dann auch entsprechend der Zeuge angeblich an das weitere Telefonat erinnert. Unglaubhaft sei ferner der weitere Bericht des Zeugen Dr. S… zur Übergabe der Liquidationsliste durch die Klägerin an die Erstbeklagte im Juni 1999. Nach dieser Aussage sei die Erstbeklagte, die schon zuvor umfangreiche Behandlungen der Klägerin vorgenommen hatte, wegen eines Autounfalls für längere Zeit nicht bei der Klägerin erschienen gewesen. Im Juni 1999 sei es nach dieser Behandlungspause zum ersten Wiedersehen gekommen, bei dem die Klägerin noch im Hausflur der Erstbeklagten unmittelbar nach der Begründung die Liquidationsliste übergeben und erläutert habe. Diese Szene der angeblichen Übergabe der Liste erscheine lebensfremd, weil die Erstbeklagte danach bei der Begrüßung gleichsam mit der neuen Liquidationsliste und diesbezüglichen Erläuterungen im Hausflur überfallen worden sei, obwohl die neue Liste bis auf eine Neuregelung der Samstags- und Sonntagszuschläge sowie geänderte Gebühren für besonders umfangreiche Leistungen im Wesentlichen der früheren Liquidationsliste entsprochen habe. Diese irreal wirkende Szenenbeschreibung durch Dr. S… habe nur der Erklärung dafür gedient, dass der Zeuge überhaupt die Übergabe im Hausflur angeblich miterlebt habe. Zudem habe der Zeuge Dr. S… in einem Schreiben vom 13. Dezember 2001 (Bl. 29 GA) darauf hingewiesen, dass die Liquidationsliste der Klägerin bereits im Jahre 1998 übergeben worden sei. Von der Übergabe einer neuen Liste im Juni 1999 sei in dem Schreiben keine Rede gewesen. Der Zeuge habe auf Vorhalt des Schreibens dessen Inhalt als Versehen bezeichnet. Auch das überzeuge nicht, zumal er in seinem Schreiben angegeben habe, er habe für den dort mitgeteilten Umstand der Listenübergabe im Jahre 1998 seine Unterlagen zu Rate gezogen. Das Jahr 1998 sei mehrfach im Schreiben erwähnt worden, so dass ein Schreibfehler auszuschließen sei. In der Gesamtschau seien die Angaben des Zeugen Dr. S… unglaubhaft. Von einem Schuldanerkenntnis der Erstbeklagten könne deshalb auch nicht ausgegangen werden. Aber auch eine wirksame Honorarvereinbarung bezüglich der sich aus der Liquidationsliste ergebenden Gebührensätze liege nicht vor. Insoweit fehle eine prüffähige Rechnung, so dass die streitgegenständlichen Honorarforderungen der Klägerin nicht fällig seien.
7

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin. Sie verfolgt damit in der Hauptsache ihr ursprüngliches Klageziel der Verurteilung der Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung von 10.580,38 Euro nebst Zinsen weiter (Antrag Bl. 361 GA). Hilfsweise beantragt sie die Verurteilung der Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung von 5.079,80 Euro nebst Zinsen (Bl. 558 GA). Der Hauptantrag ist auf die Gebührenliste gestützt, der Hilfsantrag auf die jeweilige Mittelgebühr nach der Gebührenordnung für Heilpraktiker. Die Klägerin beanstandet die Verwertung von Aussagen des Zeugen Dr. S…, denen eine erfolgreiche Ablehnung des Vorsitzenden Richters nachgefolgt war. Ferner beanstandet sie mit näherer Erläuterung die Beweiswürdigung hinsichtlich der Angaben des Zeugen Dr. S… als lückenhaft. Schließlich bemängelt sie, dass nicht geprüft worden sei, ob ihre Gebühren angemessen seien. Sie meint, die Gebührenforderungen seien berechtigt und fällig. Die Erstbeklagte habe in ihren Schreiben auf die Liquidationsliste Bezug genommen; danach könne nicht davon ausgegangen werden, dass sie diese nicht erhalten habe. Zudem habe sie sich auch schriftlich mit den geltend gemachten Honorarforderungen einverstanden erklärt. Die Passivlegitimation des Zweitbeklagten ergebe sich auch aus dem gemeinschaftlichen Vergleichsangebot der beiden Beklagten.
8

Der Senat hat ein Sachverständigengutachten des Dr. K… Z… (Bl. 480 ff. GA) über die Notwendigkeit und Angemessenheit der Behandlungsmaßnahmen sowie die Angemessenheit der geltend gemachten Gebühren eingeholt. Auf Antrag der Klägerin, die auch ein Privatgutachten des Sachverständigen Dr. Sch… vorgelegt und weitere Einwendungen erhoben hat, ist der Sachverständige Dr. Z… in der mündlichen Verhandlung vom 15. Januar 2007 angehört worden (Bl. 577 ff. GA), wobei die anwaltlich vertretene Klägerin mit Unterstützung eines privat beauftragten Sachverständigen Fragen gestellt hat. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das schriftliche Gutachten des Sachverständigen und auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 15. Januar 2007 Bezug genommen.
9

Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens verweist der Senat auf die von den Parteien gewechselten Schriftsätze. Wegen der Feststellungen des Landgerichts nimmt er gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf das angefochtene Urteil Bezug.

II.
10

Die Berufung ist mit Haupt- und Hilfsantrag unbegründet. Die Honorarforderung der Klägerin ist insgesamt und endgültig nicht gerechtfertigt, weil ihr unbrauchbare Leistungen als Heilpraktikerin zu Grunde liegen. Die Schlechterfüllung eines Dienstvertrags lässt zwar den Vergütungsanspruch grundsätzlich unberührt, weil das Dienstvertragsrecht keine Gewährleistungsregeln vorsieht. Wenn die Leistung des Dienstverpflichteten aber völlig unbrauchbar ist, kann gegenüber dem Honoraranspruch die Einrede des nicht erfüllten Vertrags eingreifen (vgl. OLG Koblenz NJW-RR 2006, 419 ff.; Urt. vom 18. Dezember 2006 -12 U 1230/03). Das ist hier der Fall.
11

Das Ergebnis des Gutachtens des gerichtlichen Sachverständigen Dr. Z…, ist eindeutig. Danach waren die nach der Abrechnung zahllosen und ununterbrochen auch am Wochenende durchgeführten Maßnahmen der Klägerin – Eigenblutbehandlungen, Sauerstoffbehandlungen, Quaddelungen, Injektionen, Nadelungen nach Baunscheidt usw. – mehrheitlich nicht indiziert und allesamt nicht sach- und fachgerecht durchgeführt worden, weil der Gesamtheit der Maßnahmen kein nachvollziehbares Behandlungskonzept zu Grunde lag und die Behandlungsmaßnahmen in ihrem Übermaß sowie der drastisch gekürzten zeitlichen Frequenz eher schädlich als nützlich sein könnten.
12

Das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Dr. Z… unterliegt nach der sicheren Überzeugung des Senats keinem inhaltlichen Zweifel. Es steht auch im Einklang mit der Mitteilung der P… krankenkasse an den Zweitbeklagten, die aufgrund der Einholung von ärztlichem Rat erfolgt ist (Bl. 31 ff. GA), sowie dem im Strafverfahren 2030 Js 15496/04 StA Koblenz von der Ermittlungsbehörde eingeholten Gutachten des Sachverständigen K…-F… K… (Bl. 185 ff. BA). Auch nach jenen Äußerungen, die hier nur zur Abrundung und Gegenkontrolle der Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen berücksichtigt werden, fehlt eine nachvollziehbare Diagnostik und die Zahl, Frequenz und Kumulation der abgerechneten Behandlungsmaßnahmen durch die Klägerin ist derart überhöht, dass diese zumindest ihren therapeutischen Nutzen verloren haben, wenn sie nicht sogar für den jeweiligen Patienten nachteilig waren. Ein plausibles und schlüssiges Behandlungskonzept lag nicht zugrunde.
13

Die hinsichtlich Diagnosegrundlage und Therapiewert jeweils schon für sich genommen zweifelhaften Behandlungsmaßnahmen waren, worauf unten noch näher eingegangen werden soll, jedenfalls in ihrer übersetzten Zahl, Frequenz und Wechselwirkung unbrauchbar. Das Privatgutachten des Sachverständigen Dr. Sch… zeichnet nur vordergründig ein anderes Bild. Der privat beauftragte Sachverständige, dessen Äußerungen vom Senat als qualifizierter Parteivortrag berücksichtigt werden, hat die ihm von der Klägerin mitgeteilten Diagnosen mit den Befundannahmen abgeglichen und dabei isoliert betrachtet keine Widersprüche erkannt. Er hat darauf hingewiesen, dass ein Arzt medizinische Diagnosen besser, etwa mit Hilfe von Laborbefunden, abklären würde, aber ein Heilpraktiker aufgrund der Vorgeschichte und den von der Erstbeklagten geäußerten Beschwerden von den Diagnoseannahmen als vertretbarer Behandlungsgrundlage ausgehen könne. Eine Blaseninfektion könne vom Heilpraktiker etwa ohne Laborbefund festgestellt, eine Schilddrüsendysfunktion schon durch Tastbefund und Symptombeschreibungen des Patienten ermittelt werden. Die Annahme des gerichtlichen Sachverständigen, die Diagnosen der Klägerin seien “ungesichert”, lasse ihrerseits einen Deutungsspielraum zu. Die einzelnen Diagnosen der Klägerin seien jedoch vertretbar. Ihre Behandlungsmaßnahmen seien grundsätzlich akzeptabel, allerdings zum Teil zu häufig angewendet worden. Die Gebührensätze seien zum Teil überhöht. Mit diesen Bemerkungen hat der privat beauftragte Sachverständige die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen zwar relativiert, aber jedenfalls das – von ihm im Ansatz auch eingeräumte – Gesamtergebnis nicht ernsthaft erschüttern können. Es bleibt auch danach zu konstatieren, dass die Einzelmaßnahmen hinsichtlich Diagnosegrundlage und Therapiemethode zwar isoliert betrachtet vertretbar erscheinen könnten, aber in ihrer Zahl, Frequenz und Kumulation in der Gesamtschau konzeptionslos und eher schädlich als nützlich waren.
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Den Abrechnungen liegen unter anderem auch zahlreiche invasive Maßnahmen zugrunde, nämlich insbesondere die Verabreichung von Injektionen, das Anbringen von Dauernadeln, gegebenenfalls auch das Schröpfen und die Nadelung nach Baunscheidt. Dabei handelt es sich nicht nur um Bagatelleingriffe, sondern tatbestandlich um Körperverletzungen, die nur aufgrund einer wirksamen Einwilligung des Patienten gerechtfertigt wären (vgl. §§ 223, 228 StGB). Die Einwilligung setzt voraus, dass der Behandler der Therapiemaßnahme eine ausreichend sichere Diagnose zu Grunde legt und den Patienten sachgerecht aufklärt. Die Aufklärung muss sich auf die Diagnose, gegebenenfalls auch unter Hinweis auf den mehr oder weniger großen Grad der Diagnosesicherheit oder des bloßen Verdachts, auf die Bedeutung der Behandlungsmethode und deren eventuelle Risiken hinweisen. Nur dann kann der Patient eine eigenverantwortliche Entscheidung treffen. Insoweit kann für den Heilpraktiker jedenfalls bei invasiven Maßnahmen kaum etwas anderes gelten als für den Arzt. Auch das besondere Interesse eines Patienten an der Beseitigung seiner Beschwerden entbindet den Heilpraktiker jedenfalls bei invasiven Maßnahmen grundsätzlich nicht von der Pflicht, auf Risiken und Nebenwirkungen hinzuweisen; denn er muss die Entscheidung dem Patienten überlassen, ob dieser das Risiko auf sich nehmen will. Zudem muss der Behandler, der Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit vornimmt, gegebenenfalls auf Behandlungsalternativen hinweisen. Ist ein gewünschter Eingriff medizinisch nicht indiziert, dann erhöhen sich sogar die Anforderungen an die vorherige Aufklärung über mögliche Folgen. Nach diesem Maßstab waren zumindest die invasiven Maßnahmen der Klägerin nicht gerechtfertigt, weil sie – so – nicht indiziert waren, weil außerdem eine halbwegs akzeptable Patientenaufklärung fehlte und außerdem weil die Maßnahmen viel zu oft angewendet wurden, um eine positive Wirkung im Sinne eines naturheilkundlichen Therapiekonzepts entfalten zu können.
15

Auch bei den Maßnahmen, die unterhalb der Bagatellgrenze zu einem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit lagen, ist im Ergebnis nicht anders zu entscheiden, da die Vorgehensweise der Klägerin in der Gesamtschau unhaltbar war und nach den plausiblen Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen nur als Polypragmasie gelten kann, also als eine sinn- und konzeptionslose Diagnostik und Behandlung mit zahlreichen Heilmitteln sowie therapeutischen Maßnahmen. Die Ausführungen des von der Klägerin privat beauftragten Sachverständigen, welche in den Parteivortrag eingeflossen sind, beziehen sich auf das theoretische Konzept der einzelnen naturheilkundlichen Maßnahmen. Sie gehen aber darüber hinweg, dass die unsinnige Häufung, Kumulation und Konzeptlosigkeit der Maßnahmen in der Summe der Einzelhandlungen den Charakter der Polypragmasie annehmen und daher im Ganzen unbrauchbar sind. Die abstrakte Bewertung der Vertretbarkeit einzelner Maßnahmen, je für sich genommen, gegebenenfalls auch bei einer Verdachtsdiagnose, greift deshalb zu kurz.
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Im Einzelnen ist folgendes anzumerken:
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Bei der Erstbeklagten wurde eine Zystitis angenommen und behandelt. Als Zystitis wird eine Entzündung der Harnblase bezeichnet. Meist verläuft diese Erkrankung aufsteigend. Die Blasenentzündung kündigt sich durch häufigen Harndrang an, ohne dass große Mengen von Urin abgegeben werden. Sind die Blasenschleimhäute entzündet, bewirken sie ein schmerzhaftes Brennen, vor allem nach dem Wasserlassen. Der Urin färbt sich trübe und ist blutig. Treten Fieber, Flanken- oder Rückenschmerzen auf, muss auch der Arzt aufgesucht werden, da sich die Krankheit möglicherweise als eine nicht ungefährliche Nierenbeckenentzündung darstellt. Für eine erste Abklärung kann ein Urinschnelltest durchgeführt werden. Der Sachverständige Dr. Z… hat im Fall der Erstbeklagten einen solchen, mit handelsüblichen Mitteln leicht durchführbaren Urintest vermisst. Er hat auch darauf verwiesen, dass weder Blut im Urin noch Leukozyten nachgewiesen gewesen seien; daher sei die Diagnose einer Zystitis bei der Erstbeklagten ungesichert. Eine Irisdiagnose, die von der Klägerin als Untersuchungsmethode festgehalten worden sei, könne eine Zystitis nicht belegen. Diese Bewertung des Sachverständigen leuchtet ein. Die Irisdiagnose ist ein Verfahren, das Heilpraktiker anwenden, um Krankheiten zu erkennen. Der Methode liegt die Vorstellung zugrunde, dass zwischen allen Körperteilen und Organen eine feste Nervenverbindung zur Regenbogenhaut des Auges besteht. Krankheiten oder Störungen der Organe würden daher in verschiedenen Strukturen der Iris erkennbar sein. Irisdiagnostiker teilen die Iris in Segmente ein. Jedes dieser Segmente soll einem bestimmten Körperteil oder Organ entsprechen. Der Heilpraktiker schließt aus auffälligen Strukturen in den Irissegmenten auf Krankheiten der entsprechenden Organe. Die Irisdiagnose gehört aber auch nach Ansicht der Heilpraktiker nur zu den Verfahren der ergänzenden Hinweisdiagnostik. Eine akute Erkrankung zweifelsfrei aus dem Auge zu erkennen, ist aber auch danach nicht möglich. Gegen die Irisdiagnose bestehen aus der Sicht der medizinischen Wissenschaft weitere Bedenken. Die Nervenbahnen aus den Körperregionen kreuzen sich, so dass in der rechten Iris die linke Körperpartie abgebildet sein müsste und umgekehrt; die Heilpraktiker gehen aber regelmäßig vom Gegenteil aus. Farbflecken und Pigmente in der Iris sind oft als normale, wenn auch individuell verschiedene Phänomene anzutreffen; sie stehen dann nicht mit inneren Krankheiten in Verbindung. Die Einteilung der Iris in Segmente erscheint willkürlich gewählt, und es gibt unter den Heilpraktikern durchaus verschiedene “Landkarten”. Die Lage der Organe ist darin unterschiedlich verzeichnet. Demnach gibt es für die Irisdiagnose in sich kein einheitliches Konzept. In einer Vielzahl von klinischen Studien gelang es zudem nicht, eine über der Zufallserwartung liegende Treffsicherheit nachzuweisen. Insgesamt ist die Aussage des gerichtlichen Sachverständigen überzeugend, jedenfalls eine Zystitis der Erstbeklagten habe von der Klägerin nicht hinreichend sicher aus einer Irisdiagnose entnommen werden können, während einfache Urintests unterblieben waren.
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Die Klägerin hatte weiter angenommen, bei der Erstbeklagten liege eine Pyelonephritis vor. Die Pyelonephritis ist ein häufiger, in der Regel durch Antibiotika heilbarer, oberer Harnwegsinfekt mit Nierenbeteiligung. Dabei kommt es neben der Nierenbeckenentzündung zum Übergreifen der Entzündung auf das Nierengewebe. In der Regel besteht ein unterer Harnwegsinfekt mit Aufsteigen der Erreger durch die Harnleiter ins Nierenbecken. Zu den Symptomen zählen ein starkes Krankheitsgefühl, Klopf- und Druckschmerz im Bereich des Nierenbeckenlagers, starke Flankenschmerzen, häufiges Wasserlassen bei nicht erhöhter Harnmenge, erschwertes oder schmerzhaftes Wasserlassen, blutiger Urin, Fieber, bei chronischer Pyelonephritis auch erhöhte Temperatur, Abgeschlagenheit, bei einer Sepsis ferner Erbrechen und Vigilanzstörungen sowie Schüttelfrost. Zur effektiven Behandlung der Pyelonephritis gilt in der medizinischen Wissenschaft eine Gabe von Antibiotika als unbedingt notwendig. Die Klägerin hat bezüglich der Erstbeklagten nur einen “Verdacht auf Pyelonephritis” festgehalten, weil eine Schmerzsymptomatik beschrieben worden war, die dahin deuten könnte. Der Sachverständige Dr. Z… bemängelt daran, dass eine Urindiagnostik unterblieben ist. Auch seien unverständlicherweise schwer wiegende Symptome, wie Fieber, nicht in der Patientenkartei festgehalten worden. Insgesamt lag nach der überzeugenden Annahme des gerichtlichen Sachverständigen eine ungesicherte Diagnose vor, die keine naturheilkundliche Behandlung rechtfertigen konnte.
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Als Befund wurde bei der Erstbeklagten ferner ein HWS-Syndrom festgehalten. Das HWS-Syndrom ist ein Sammelbegriff für von der Halswirbelsäule ausgehende oder den Halswirbelsäulenbereich betreffende Beschwerden, meist verursacht durch Verletzungen von Muskel- und Bandstrukturen. Ein chronisches HWS-Syndrom ist oft auch eine Folge von Irritationen oder Störungen der Bandscheiben oder Zwischenwirbelgelenke. Die Klägerin hat ein HWS-Syndrom bei der Erstbeklagten aufgrund von Symptombeschreibungen angenommen. Der Sachverständige Dr. Z… bemängelt auch insoweit, dass eine völlig unspezifische Symptomatik zur Grundlage zahlreicher Behandlungsmaßnahmen ohne erkennbares Konzept gemacht wurde. Das überzeugt.
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Ebenso rasch wurde eine Durchblutungsstörung angenommen. Das ist ein zwar gebräuchlicher, aber unscharf definierter Begriff. Er beschreibt im Grunde jedwede Störung des normalen Blutflusses in einem Teil des Gefäßsystems. Die Klägerin hat als Symptome einer Durchblutungsstörung bei der Erstbeklagten Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Kopfschmerzen, “eingeschlafene” Hände und Füße sowie ein Kältegefühl notiert. Der Sachverständige Dr. Z… hat angenommen, diese Diagnose sei wiederum viel zu unspezifisch, um darauf umfangreiche therapeutische Maßnahmen stützen zu können. Auch das ist für den Senat ohne weiteres nachzuvollziehen.
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Die Klägerin hat eine Schilddrüsendysfunktion bei der Erstbeklagten angenommen. Die Schilddrüse ist eine wichtige Hormondrüse am Hals unterhalb des Kehlkopfes. Schilddrüsenerkrankungen äußern sich als morphologische Veränderungen, Funktionsstörungen, Entzündungen, bösartige Entartungen oder als Kombination von alledem. Überfunktionen der Schilddrüse werden als Hyperthyreose bezeichnet. Eine Unterfunktion der Schilddrüse nennt man Hypothyreose. Sie kann bei fehlender oder ungenügender Entwicklung der Schilddrüse, Iodmangel, autoimmuner Schilddrüsenentzündung und Ord-Thyreoiditis auftreten. Der Sachverständige Dr. Z… hat angemerkt, dass in den Unterlagen der Klägerin bezüglich der Erstbeklagten nur allgemein eine Schilddrüsendysfunktion angenommen und diese nicht spezifiziert wurde. Weil verschiedene Symptome auf ganz verschiedenen Erkrankungen beruhen könnten, sei damit keine tragfähige Grundlage für eine naturheilkundliche Behandlungsmaßnahme geschaffen worden.
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Die weiterhin von der Klägerin bei der Erstbeklagten angenommene Dysbakterie ist eine quantitative und qualitative Störung des Gleichgewichts der Mund- oder Darmflora. Insbesondere im Darm leben Unmengen von Bakterien, die bei der Verdauung eine wichtige Rolle spielen. Von Dysbakterie spricht man, wenn die Zusammensetzung dieser Darmbakterien in irgendeiner Weise gestört ist. Die Folge einer relevanten Störung ist, dass sich große Mengen von Gärungs- und Fäulnisprodukten bilden. Der Sachverständige Dr. Z… weist darauf hin, dass eine Dysbakterie nur durch eine Stuhluntersuchung festgestellt werden könne, die im Fall der Erstbeklagten aber nicht durchgeführt worden sei. Daher ist die Diagnose wiederum haltlos.
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Ferner wurde bei der Klägerin eine Dysmenorrhoe angenommen. Dies ist eine verbreitete schmerzhafte Form der Regelblutung. Die sekundäre Dysmenorrhoe entwickelt sich im Laufe von Jahren und ist meist organischer Natur. Die Diagnose wird durch die bei der Anamnese von der Patientin geschilderte Beschwerdesymptomatik aufgestellt. Auch bei der Dysmenorrhoe richtet sich die Therapie nach den individuellen Ursachen. Ohne schmerzstillende und krampflösende Mittel ist die Schmerzsymptomatik oft nicht zu beseitigen. Der Sachverständige Dr. Z… sieht die Diagnose als hinreichend gesichert an. Danach stellt sich aber die Frage, welchen Raum die Dysmenorrhoe für naturheilkundliche Behandlungsmaßnahmen gab. Die Klägerin hat kein erkennbares Therapiekonzept entwickelt und angewendet; damit sind ihre Maßnahmen auch nach der Diagnose einer Dysmenorrhoe unbrauchbar.
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Als Befund angenommen wurde zudem eine chronische Sinusitis der Erstbeklagten. Als solche gilt eine mehr als zwei oder drei Monate andauernde Nasennebenhöhlenentzündung. Zu deren Behandlung werden in der medizinischen Wissenschaft Kortisonpräparate verwendet. In vielen Fällen kann auch nur eine Operation die Erkrankung bessern. Der Sachverständige Dr. Z… bemängelt im Hinblick auf unzureichende Befunde das Fehlen einer genaueren Abklärung, ob bei der Erstbeklagten wirklich eine chronische Sinusitis oder aber nur eine Rhinitis vorgelegen hatte. Ohne eine solche Abklärung sind die angewendeten naturheilkundlichen Behandlungsmaßnahmen, soweit sie überhaupt als geeignete Therapie bei einer chronischen Sinusitis angesehen werden können, jedenfalls nicht ausreichend begründet worden.
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Schließlich hat die Klägerin als Diagnose eine Zellfunktionsstörung festgehalten. Der Sachverständige Dr. Z… meint, eine “Zellfunktionsstörung” sei gar keine Diagnose, weil letztlich jede Krankheit eine Zellfunktionsstörung ist.
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Zur Therapie wurde bei der Klägerin unter anderem das Ney-Immun-Präparat angewendet. Es dient der Aktivierung des Immunsystems. Nach der Änderung der Verordnung über unwirtschaftliche Arzneimittel in der gesetzlichen Krankenversicherung sind als unwirtschaftlich insbesondere anzusehen Arzneimittel, die für das Therapieziel oder zur Minderung von Risiken nicht erforderliche Bestandteile enthalten. Die Negativliste, veröffentlicht im Bundesanzeiger Nummer 195a vom 18. Oktober 2003, nennt das Präparat Ney-Immun. Der Sachverständige Dr. Z… konstatiert außerdem, dass zum Zeitpunkt der Injektion des Präparates bei der Beklagten am 9. September 2000 keine Diagnose vorgelegen hatte, die eine Vergabe von Ney-Immun erfordert habe.
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Von der Klägerin vielfach abgerechnet wurde eine Eigenblutbehandlung. Die Anwendung von Eigenblut ist eine so genannte Umstimmungsbehandlung. Dem liegt der Gedanke zu Grunde, dass bei einer Krankheit natürliche Heilungsvorgänge aktiviert werden und diese durch eine gezielte Reiztherapie verstärkt werden können. In Frage kommt eine Eigenblut-Therapie bei allen chronischen Erkrankungen, Infekten oder Allergien. Wie bei allen Reiztherapien ist die Wirkung nur schwer zu beurteilen. Weiter besteht aufgrund der invasiven Methodik eine erhöhte Gefahr von Abszessen, allergischen Reaktionen oder einem Kreislaufkollaps. Der Sachverständige Dr. Z… hat mangels entsprechender Diagnose die von der Klägerin angewendete Eigenbluttherapie bei der Erstbeklagten als nicht erforderlich bezeichnet. Zudem hat er die Zahl der auch hierbei verabreichten Injektionen beanstandet. Es wurden bisweilen bis zu 14 bis 15 intramuskuläre Injektionen und weitere intravenöse Injektionen neben den Eigenblutbehandlungen an einem Behandlungstag verabreicht. Das ist eine unbrauchbare Behandlungsmethode.
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Bei der Erstbeklagten wurde Akupunktur mit Dauernadeln durchgeführt. Die Dauernadel ist eine Akupunkturnadel zur Behandlung krampfhafter, stets wiederkehrender Zustände sowie zur Gewichtsregulierung. Die Nadel hat die Form einer Reißzwecke und wird mit einem Heftpflaster fixiert. Sie bleibt Stunden oder Tage in der Haut. Der Sachverständige Dr. Z… hat darauf verwiesen, dass die angegebene Zahl von 13 Dauernadeln übersetzt und die Behandlung bei einer ungesicherten Diagnose nicht notwendig gewesen sei.
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Zur Behandlung des angeblichen HWS-Syndroms der Erstbeklagten hat die Klägerin Quaddelungen vorgenommen. Diese Art der Neuraltherapie gilt als Alternative zu den klassischen Methoden der Schmerzbehandlung. Sie nutzt die reflektorische Verbindung zwischen bestimmten Hautarealen und inneren Organen. Dabei wird ein Injektionsmittel in der Nähe der Schmerzstelle unter die Haut gespritzt. Dadurch bildet sich eine kleine Erhebung. Die Quaddelung ist mit einem kleinen Stich verbunden. Durch das injizierte Lokalanästhetikum tritt Schmerzfreiheit ein. Der Sachverständige Dr. Z… beanstandet in nachvollziehbarer Weise die überhöhte Zahl der Injektionen auf ungesicherter Diagnosegrundlage.
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Die Klägerin hat bei der Beklagten auch eine Zahlfleischbehandlung durch Quaddelung vorgenommen. Der Sachverständige Dr. Z… geht diesbezüglich zu Recht von einem Verstoß gegen ein Behandlungsverbot aus, weil es Heilpraktikern untersagt ist, Zahnheilkunde auszuüben. Darauf kommt es freilich nicht an, weil auch hier der Einwand der Polypragmasie durchgreift.
31

Infrarotbehandlungen, Einreiben, Massieren wurden von der Klägerin abgerechnet. Die Maßnahmen waren harmlos, aber mangels ausreichender Diagnose und eines plausiblen Behandlungskonzepts sinnlos.
32

Die Klägerin hat bei der Erstbeklagten die Behandlungsmethode des Schröpfens angewendet. Schröpfen ist ein traditionelles Verfahren. Es zählt in der Alternativmedizin oft zu den ausleitenden Verfahren. Dabei wird in Schröpfgläsern oder Schröpfköpfen ein Unterdruck erzeugt, um Schadstoffe aus dem Körper auszuleiten. Die Schröpfgläser werden auf die Haut gesetzt, um durch den Unterdruck eine Ab- oder Ausleitung von Schadstoffen über die Haut zu erreichen. Der Unterdruck wird dadurch erreicht, dass die Luft im Schröpfkopf erhitzt und der Schröpfkopf dann sofort auf die Rückenhaut gesetzt wird. Alternativ kann der Unterdruck durch eine Absaugvorrichtung erzeugt werden. Beim blutigen Schröpfen wird zusätzlich noch die Haut angeritzt, ehe das Glas mit Unterdruck aufgesetzt wird. Damit zieht der Unterdruck auch Blut durch die leichten Verletzungen heraus. Therapeuten vermuten, dass am Rücken Reflexzonen gereizt werden können, die ihrerseits auf innere Organe und Organsysteme einwirken sollen. Schröpfen wird von den Anhängern des Verfahrens gegen eine Vielzahl von Beschwerden eingesetzt. Aus schulmedizinischer Sicht liegen keine Nachweise für Heilwirkungen vor. Genauere Angaben zum Schröpfen der Erstbeklagten durch die Klägerin liegen nicht vor. Der Sachverständige Dr. Z… bemängelt aber jedenfalls das fehlende Behandlungskonzept, die ungesicherte Diagnosegrundlage und die übertrieben hohe Zahl der Einzelhandlungen des Schröpfens.
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Die von der Klägerin außerdem angewendete Baunscheidttherapie ist ein alternativmedizinisches Behandlungsverfahren im Sinne einer Reiztherapie. Mit dieser Methode werden chronische Entzündungen, Schmerz- und Reizzustände und Verkrampfungen, Rheumatismus, Gicht, multiple Sklerose, Lungenleiden, Bandscheibenschäden, Migräne und anderes behandelt. Der dazu eingesetzte “Lebenswecker” ist ein Nadelungsgerät. Es besteht aus einer münzgroßen Scheibe an einem Griff. In der Scheibe sind 25 – 30 Stahlnadeln befestigt, die von Hand oder mit einer Feder ein bis zwei Millimeter tief in die Haut gestochen werden. Auch Nadelwalzen sind gebräuchlich. Hinzugefügt wird ein hautreizendes Öl, das in den angeritzten Hautstellen wirken soll. Auf den mit dem Nadelungsverfahren nach Baunscheidt behandelten Stellen entstehen Bläschen oder Pusteln, die meist narbenlos verheilen. Die Behandlung ist aber nicht schmerzfrei. Wissenschaftler raten von der Therapie ab, weil eine therapeutische Wirkung nicht nachgewiesen werden konnte. Dagegen kann Schmutzeintrag in die verletzte Haut Infektionskrankheiten auslösen. Auch allergische Reaktionen sind möglich. Der Sachverständige Dr. Z… bemängelt an der Anwendung des Baunscheidtverfahrens durch die Klägerin bei der Erstbeklagten wiederum das fehlende Behandlungskonzept, die ungesicherte Diagnosegrundlage und die übertrieben hohe Zahl der Maßnahmen.
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Die außerdem vorgenommene intravenöse Injektion mit Colibiogen ist nach Ansicht des Sachverständigen Dr. Z… nicht geeignet, eine Dysmenorrhoe zu behandeln.
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Die von der Klägerin außerdem angewendete und abgerechnete Akupunktur ist ebenfalls eine Reiztherapie. Als Hauptindikation für eine Akupunkturbehandlung gelten chronische Schmerzen, wenn kein körperlicher Befund vorliegt. Die Wirksamkeit der Akupunkturbehandlung wird in der Schulmedizin bestritten. Der Sachverständige Dr. Z… hält hingegen die Akupunkturbehandlung dem Grunde nach für vertretbar. Er weist aber darauf hin, dass die Anwendung von bis zu 16 Dauernadeln durch die Klägerin bei der Erstbeklagten unangemessen gewesen sei. Auch die Wechselwirkung mit anderen Reiztherapien sei in der gewählten Häufung und Frequenz verfehlt. Insgesamt geht der Sachverständige von einer überzogenen Therapie auf unklarer und ungesicherter Diagnosegrundlage aus. Das leuchtet ein.
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Bei dem Sohn der Beklagten wurde von der Klägerin eine allergische Diathese angenommen. Eine Diathese beschreibt in der Medizin die Neigung des Körpers zu einer bestimmten Krankheit. Eine Sonderform ist die allergische Diathese, also eine die Neigung zu Allergien. Der Sachverständige Dr. Z… beanstandet, dass damit keine taugliche Diagnosegrundlage für Behandlungsmaßnahmen vorgelegen habe. Es stellt sich darüber hinaus sogar die Frage, ob überhaupt ein behandlungsrelevanter Befund vorgelegen hatte, wenn doch nur eine Krankheitsneigung angenommen wurde.
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Ähnliches gilt von der Behauptung des Vorliegens einer Schilddrüsendysfunktion. Der Sachverständige Dr. Z… hat auch insoweit nachvollziehbar die Unklarheit des Befundes mit Hinweis darauf bemängelt, dass es durchaus verschiedene Schilddrüsenerkrankungen gebe.
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Die bei dem Sohn der Beklagten angenommene vegetative Dystonie gilt als eine altbekannte Erkrankung, die in der Hektik der modernen Welt zunehmend vorkommt. Wenn das Gleichgewicht aus Aktivität und Erholung aus dem Takt geraten ist, greift der Körper auf seine Leistungsreserven zurück. Irgendwann sind diese verbraucht und dann kann es zu Funktionsstörungen an Organen kommen. Bei einer vegetativen Dystonie ist die Reizleitung im Nervensystem gestört. Diese ist abhängig von einer ausreichenden Versorgung mit Elektrolyten. Bei Mängeln im Elektrolythaushalt kommt es zu Funktionsstörungen verschiedener Organe. Treten mehrere dieser Funktionsstörungen gleichzeitig auf, spricht man von einer vegetativen Dystonie. Nervosität, Reizbarkeit, Kurzatmigkeit, flache Atmung, Kopfschmerzen, Migräne, Verkrampfungen, Muskelzittern, unregelmäßiger Herzschlag, Herzschmerz, Krämpfe in den Blutgefäßen, im Magen, im Darm und in der Blase, Verstopfung und Leber-Gallen-Beschwerden sind mögliche Symptome. Der Sachverständige Dr. Z… hält hier aber die Diagnose für unklar. Davon geht auch der Senat aus.
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Gleiches gilt für die Annahme eines Mineralstoffmangels beim Sohn der Beklagten. Mineralstoffe sind anorganische Substanzen, die im Organismus wichtige Funktionen haben. Genau wie Vitamine können sie nicht vom Körper produziert werden und müssen über die Nahrung aufgenommen werden. Man unterscheidet Spurenelemente, die nur in geringen Mengen benötigt werden (Eisen, Jod, Fluor, Zink, Kupfer, Selen usw.) und Mineralstoffe, die in größeren Mengen im Körper vorhanden sind (Natrium, Kalium, Calcium, Magnesium und Chlorid). Der tägliche Verlust an Mineralstoffen wird normalerweise durch eine ausgewogene Ernährung wieder aufgefüllt. Andererseits führen Diäten oder sehr lang andauernde Ernährung mit Fertiggerichten häufig zu Mineralmangelsituationen. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen in der Wachstumsphase entsteht schnell ein Mineralmangel. Der Sachverständige Dr. Z… kritisiert an der Diagnose der Klägerin, dass ein Mineralstoffmangel ohne Laboruntersuchung angenommen worden sei und damit gleichsam “ins Blaue hinein” behauptet wurde. Daher könne diese Annahme nicht als tragfähige Grundlage einer Behandlungsmethode dienen. Dem folgt der Senat.
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Eine Mittelohrentzündung (otitis media) wurde in den Krankenunterlagen über den Sohn der Beklagten festgehalten. Die Mittelohrentzündung ist eine meist durch Bakterien, seltener durch Viren verursachte Erkrankung. Bei der akuten Entzündung des Mittelohrs und des Trommelfells ist das Trommelfell gerötet und verdickt; es wölbt sich nach vorne. Eine gefürchtete Komplikation, die auch hier im Raum stand (Bl. 497 GA), ist die Mastoiditis, eine Entzündung in den angrenzenden Knochen, wie dem Felsenbein des Innenohres. Kommt es zum Auftreten der typischen Symptome einer Mittelohrentzündung wie stechender Schmerz in den Ohren, Fieber oder gar eitrigem Ausfluss, so muss ein Arzt aufgesucht werden. Der Sachverständige Dr. Z… bemängelt die fehlende Abklärung der Krankheit und wegen der Gefahr einer gefährlichen Komplikation das Unterlassen der Verweisung an einen HNO-Arzt.
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In der Gesamtschau geht der Sachverständige davon aus, dass die Behandlungsmaßnahmen wegen unklarer Diagnosegrundlagen medizinisch nicht notwendig gewesen seien. Den 12-jährigen Patienten unter anderem an zwei Tagen mit jeweils 18 Injektionen zu behandeln, hält der Sachverständige für unvertretbar. Auch dem folgt der Senat.
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In der Gesamtschau zeigt sich, dass die Klägerin wahllos in überhöhter Zahl und Frequenz auf ungesicherter Diagnosegrundlage Therapiemaßnahmen durchgeführt und abgerechnet hat, ohne dass ein nachvollziehbares Konzept zu Grunde lag. Das wird in der Gesamtschau auch dadurch deutlich, dass sie bereits Behandlungsmaßnahmen mit Honorarforderungen in Höhe von 119.849,46 DM (61.278,06 Euro) durchgeführt hatte, bevor sie die nunmehr mit einer Abrechnungssumme von weiteren insgesamt 23.261 DM (11.893,16 Euro) hinzugefügt hat. Auch das unterstreicht mit Blick auf die nicht sehr gravierenden Befunde bei beiden Patienten das Bild einer vorliegenden Polypragmasie. Ist ein therapeutisches oder diagnostisches Vorgehen derart durch eine große Zahl verschiedener, unkoordinierter und oft sinnloser Maßnahmen gekennzeichnet, dann muss dagegen die Einrede des nicht erfüllten Vertrages durchgreifen.
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Der Kläger zu 2) hat im Übrigen mangels Passivlegitimation nicht für die Honorarforderung der Klägerin einzustehen.
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Im Übrigen hält der Senat das angefochtene Urteil für zutreffend, so dass auch nach dem Maßstab des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO dagegen nichts zu erinnern ist. Das vom Senat festgestellte Vorliegen einer Polypragmasie unterstreicht als Zusatzindiz nur die Zweifelhaftigkeit der Behauptungen zum Vorgehen der Klägerin und des Zeugen Dr. S… bei der Abrechnung.

III.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
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Ein Grund zur Zulassung der Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO liegt nicht vor.
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Der Streitwert im Berufungsverfahren beträgt 11.893,16 Euro.

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