BGH, Urteil vom 28. Mai 2019 – VI ZR 27/17
Haben sich bei einem mangels ordnungsgemäßer Aufklärung rechtswidrigen ärztlichen Eingriff nur Risiken verwirklicht, über die nicht aufzuklären war, kommt ein Wegfall der Haftung des Arztes für Aufklärungsversäumnisse lediglich dann in Betracht, wenn der Patient wenigstens eine Grundaufklärung über die Art und den Schweregrad des Eingriffs erhalten hat; das gilt auch dann, wenn das realisierte – nicht aufklärungspflichtige – Risiko mit den nicht realisierten – aufklärungspflichtigen – Risiken nach Bedeutung und Auswirkung für den Patienten nicht vergleichbar ist (Festhaltung Senatsurteile vom 14. Februar 1989 – VI ZR 65/88, BGHZ 106, 391; vom 12. März 1991 – VI ZR 232/90, VersR 1991, 777; vom 14. November 1995 – VI ZR 359/94 und vom 30. Januar 2001 – VI ZR 353/99, VersR 2001, 592).(Rn.13)(Rn.17)
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 5. Dezember 2016 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als das Berufungsgericht auf Aufklärungsfehler gestützte Schadensersatzansprüche verneint hat.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
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Die Klägerin macht gegen den beklagten Krankenhausträger (Beklagte zu 1) und drei für diesen tätige Ärzte (Beklagte zu 2 bis 4), soweit im Revisionsverfahren noch von Interesse, Ansprüche auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens wegen behaupteter unzureichender Aufklärung über die mit einer ärztlichen Behandlung verbundenen Risiken geltend.
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Die Klägerin stellte sich am 4. Februar 2008 in der Klinik der Beklagten zu 1 wegen anhaltender Schmerzen vor, die vom Bereich der Lendenwirbelsäule ausgingen. Es wurde ein Nervenwurzelsyndrom S 1 links diagnostiziert, das mit einer Spritzentherapie behandelt wurde. Nachdem zwei Injektionen komplikationslos verlaufen waren, injizierte der Beklagte zu 2 am 10. Februar 2008 der Klägerin präsakral 40 ml Meaverin (ein Lokalanästhetikum) und 20 mg Triamcinolon (ein synthetisches Glukokortikoid). Die Klägerin litt bereits während der Behandlung unter starken Schmerzen. Seit diesem Zeitpunkt leidet sie unter Myoklonien (unwillkürliche Kontraktionen von Muskeln). Sie musste sich mehrfachen, auch stationären, Behandlungen unterziehen und ist aufgrund ihrer Erkrankung arbeitsunfähig und in weiten Teilen ihrer Lebensführung eingeschränkt.
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Das Landgericht hat die Beklagten wegen Behandlungsfehlern zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 2.500 € verurteilt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit ihrer Revision, die der Senat zugelassen hat, soweit das Berufungsgericht auf Aufklärungsfehler gestützte Schadensersatzansprüche verneint hat, verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren in vollem Umfang weiter.
Entscheidungsgründe
I.
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Das Berufungsgericht hat zur Begründung der Ablehnung einer Haftung der Beklagten wegen der Verletzung von Aufklärungspflichten im Wesentlichen ausgeführt, die Beklagten hätten zwar nicht nachweisen können, dass der Klägerin die Risiken, möglichen Komplikationen oder Belastungen für ihre Lebensführung infolge einer Spritzentherapie mitgeteilt worden seien. Gleichwohl entfalle die Haftung der Beklagten unter Schutzzweckerwägungen. Regelmäßig sei zwar im Falle fehlender Grundaufklärung für eine Begrenzung der Haftung unter Schutzzweckgesichtspunkten kein Raum. Eine umgekehrte Bewertung sei allerdings ausnahmsweise dann vorzunehmen, wenn sich ein nicht aufklärungspflichtiges Risiko verwirkliche, das mit den mitzuteilenden, dem Eingriff spezifisch anhaftenden Risiken hinsichtlich ihrer Auswirkungen und Bedeutungen für die künftige Lebensführung des Patienten nicht vergleichbar sei. Dies stehe hier nach erneuter Anhörung der Sachverständigen hinsichtlich der Myoklonien, die als psychogene Reaktion der Klägerin auf die Behandlung im Sinne einer Konversionsneurose anzusehen seien, zur Überzeugung des Berufungsgerichts fest.
II.
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Das angefochtene Urteil hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Mit der Begründung des Berufungsgerichts können auf Aufklärungsfehler gestützte Schadensersatzansprüche der Klägerin nicht verneint werden.
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1. Das Berufungsgericht ist allerdings zutreffend davon ausgegangen, dass ein Arzt grundsätzlich für alle den Gesundheitszustand des Patienten betreffenden nachteiligen Folgen haftet, wenn der ärztliche Eingriff nicht durch eine wirksame Einwilligung des Patienten gedeckt und damit rechtswidrig ist und den Arzt ein Verschulden trifft. Es hat zu Recht angenommen, dass eine wirksame Einwilligung des Patienten dessen ordnungsgemäße Aufklärung voraussetzt (vgl. Senatsurteile vom 11. Oktober 2016 – VI ZR 462/15, VersR 2017, 100 Rn. 8; vom 30. September 2014 – VI ZR 443/13, VersR 2015, 196 Rn. 6; vom 7. November 2006 – VI ZR 206/05, BGHZ 169, 364 Rn. 7; vgl. nunmehr § 630d BGB). Auch die Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall ist im Ausgangspunkt nicht zu beanstanden.
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a) Zutreffend und von der Revisionserwiderung nicht beanstandet hat das Berufungsgericht die bei der Klägerin durchgeführte Spritzentherapie als rechtswidrig qualifiziert. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts ist die Klägerin vor der Durchführung der Spritzentherapie nicht über die Risiken des Eingriffs aufgeklärt worden. Ihr ist nicht einmal ein Eindruck von der Schwere des Eingriffs und von der Art der Belastungen vermittelt worden, die für ihre Lebensführung auf sie zukommen können; ebenso wenig ist ihr das schwerste der in Betracht kommenden spezifischen Risiken der Spritzentherapie – das Risiko einer Meningitis – mitgeteilt worden.
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b) Nach den weiteren von der Revisionserwiderung nicht beanstandeten Feststellungen des Berufungsgerichts war die rechtswidrige Spritzentherapie kausal für die bei der Klägerin eingetretenen psychoreaktiven Folgen in Form der Myoklonien. Danach waren die mit der letzten Injektion einhergehenden Schmerzen auslösendes Moment für die von der Klägerin entwickelte Konversionsneurose (dissoziative Bewegungsstörung).
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c) Zutreffend hat das Berufungsgericht seiner Entscheidung auch zugrunde gelegt, dass sich die Ersatzpflicht des für eine Körper- oder Gesundheitsverletzung einstandspflichtigen Schädigers regelmäßig auf psychisch bedingte Folgewirkungen des von ihm herbeigeführten haftungsbegründenden Ereignisses erstreckt. Dies gilt auch dann, wenn sie auf einer psychischen Anfälligkeit des Verletzten oder in sonstiger Weise auf einer neurotischen Fehlverarbeitung beruhen (Senatsurteil vom 30. April 1996 – VI ZR 55/95, BGHZ 132, 341, juris Rn. 14 ff.). Dementsprechend ist eine Haftung im Fall einer Konversionsneurose, wie sie nach den Feststellungen des Berufungsgerichts bei der Klägerin in Folge der streitgegenständlichen Behandlung aufgetreten ist, bereits bejaht worden (Senatsurteile vom 12. November 1985 – VI ZR 103/84, VersR 1986, 240, 242, juris Rn. 8 f. und vom 16. März 1993 – VI ZR 101/92, VersR 1993, 589, 590, juris Rn. 8 ff.). Anhaltspunkte für die Annahme eines Bagatellfalls oder einer reinen Begehrensneurose der Klägerin, die nach der Rechtsprechung des Senats ausnahmsweise einer Haftung des Schädigers für psychisch bedingte Folgewirkungen entgegenstehen könnten (vgl. insbesondere Senatsurteile vom 30. April 1996 – VI ZR 55/95, BGHZ 132, 341, 346, juris Rn. 20 f. und vom 11. November 1997 – VI ZR 376/96, VersR 1998, 201, 202, juris Rn. 11), hat das Berufungsgericht nicht festgestellt.
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2. Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht aber den Zurechnungszusammenhang zwischen dem rechtswidrigen Eingriff und den bei der Klägerin aufgetretenen Myoklonien aus Schutzzweckerwägungen verneint.
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a) Die Einwilligung in den ärztlichen Eingriff kann nur insgesamt erteilt oder verweigert werden. Aus diesem Grund machen Aufklärungsdefizite, unabhängig davon, ob sich ein aufklärungsbedürftiges Risiko verwirklicht oder nicht, den ärztlichen Eingriff insgesamt wegen der fehlenden Einwilligung des Patienten rechtswidrig und führen bei einem Verschulden des Arztes im Grundsatz zu einer Haftung für alle Schadensfolgen (vgl. Senatsurteile vom 14. Februar 1989 – VI ZR 65/88, BGHZ 106, 391, 398, juris Rn. 21; vom 12. März 1991 – VI ZR 232/90, VersR 1991, 777, 778 f., juris Rn. 14; vom 14. November 1995 – VI ZR 359/94, VersR 1996, 195, 197, juris Rn. 19).
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b) Im Einzelfall kann die Haftung trotz fehlerhafter Aufklärung unter Schutzzweckgesichtspunkten entfallen. Hat sich nur ein Risiko verwirklicht, über das aufgeklärt werden musste und tatsächlich auch aufgeklärt worden ist, so kann aus dem Eingriff regelmäßig keine Haftung abgeleitet werden; dies gilt auch dann, wenn der Patient über andere aufklärungspflichtige Risiken nicht aufgeklärt worden ist, die sich aber nicht verwirklicht haben (vgl. Senatsurteile vom 13. Juni 2006 – VI ZR 323/04, BGHZ 168, 103 Rn. 18; vom 15. Februar 2000 – VI ZR 48/99, BGHZ 144, 1, 7, juris Rn. 20; vom 30. Januar 2001 – VI ZR 353/99, VersR 2001, 592, juris Rn. 9). Denn in einem solchen Fall hat der Patient das verwirklichte Risiko bei seiner Einwilligung in Kauf genommen, so dass er bei einer wertenden Betrachtungsweise nach dem Schutzzweck der Aufklärungspflicht aus der Verwirklichung dieses Risikos keine Haftung herleiten kann (vgl. Senatsurteil vom 30. Januar 2001 – VI ZR 353/99, VersR 2001, 592, juris Rn. 9; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 7. Aufl., Rn. C 156, S. 343).
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c) Haben sich dagegen – wie im Streitfall – nur Risiken verwirklicht, über die nicht aufzuklären war, kommt ein Wegfall der Haftung des Arztes für Aufklärungsversäumnisse lediglich dann in Betracht, wenn der Patient wenigstens eine Grundaufklärung über die Art und den Schweregrad des Eingriffs erhalten hat (Senatsurteile vom 14. Februar 1989 – VI ZR 65/88, BGHZ 106, 391, 399, juris Rn. 22; vom 12. März 1991 – VI ZR 232/90, VersR 1991, 777, 778 f., juris Rn. 19; vom 14. November 1995 – VI ZR 359/94, VersR 1996, 195, 196, juris Rn. 17; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 7. Aufl., Rn. C 156, S. 344).
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Die Grundaufklärung ist nur dann erteilt, wenn dem Patienten ein zutreffender Eindruck von der Schwere des Eingriffs und von der Art der Belastungen vermittelt wird, die für seine körperliche Integrität und Lebensführung auf ihn zukommen können. Dazu gehört in aller Regel auch ein Hinweis auf das schwerste in Betracht kommende Risiko, das dem Eingriff spezifisch anhaftet (vgl. Senatsurteile vom 12. März 1991 – VI ZR 232/90, VersR 1991, 777, 778 f., juris Rn. 19; vom 14. November 1995 – VI ZR 359/94, VersR 1996, 195, 196 f., juris Rn. 18; vom 30. Januar 2001 – VI ZR 353/99, VersR 2001, 592, juris Rn. 10). Dabei ist unter Grundaufklärung keine vollständige und ordnungsgemäße Risikoaufklärung zu verstehen; vielmehr bleibt die Aufklärung unvollständig und damit fehlerhaft (vgl. Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 7. Aufl., Rn. C 156, S. 341). Die Grundaufklärung vermittelt dem Patienten aber eine allgemeine Vorstellung von dem Schweregrad des Eingriffs und der Stoßrichtung der damit zusammenhängenden Belastungen für seine Lebensführung (vgl. Senatsurteil vom 12. März 1991 – VI ZR 232/90, VersR 1991, 777, 779, juris Rn. 20).
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Fehlt es an der Grundaufklärung, dann hat der Arzt dem Patienten die Möglichkeit genommen, sich auch gegen den Eingriff zu entscheiden und dessen Folgen zu vermeiden (Senatsurteil vom 14. Februar 1989 – VI ZR 65/88, BGHZ 106, 391, 399, juris Rn. 22). Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten ist im Kern genauso tangiert, als wenn der Arzt den Eingriff vorgenommen hätte, ohne den Patienten um seine Zustimmung zu fragen. Er muss dann auch haften, wenn sich ein nur äußerst seltenes, nicht aufklärungspflichtiges Risiko verwirklicht hat (Senatsurteil vom 12. März 1991 – VI ZR 232/90, VersR 1991, 777, 779, juris Rn. 19 ff.; vom 14. November 1995 – VI ZR 359/94, VersR 1996, 195, 196, juris Rn. 19).
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d) Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts hat die Klägerin eine Grundaufklärung nicht erhalten.
17
e) Soweit das Berufungsgericht aus dem Senatsurteil vom 14. Februar 1989 – VI ZR 65/88, BGHZ 106, 391 herleiten will, die Haftung der Beklagten könne dennoch unter Schutzzweckgesichtspunkten entfallen, weil sich mit den Myoklonien ein nicht aufklärungspflichtiges Risiko verwirklicht habe, das mit den mitzuteilenden Risiken hinsichtlich der Richtung, in der sich diese auswirken könnten, und nach der Bedeutung für die künftige Lebensführung des Patienten nicht vergleichbar sei, trifft dies nicht zu. Vielmehr hat der Senat in diesem Urteil bei fehlender Vergleichbarkeit von realisiertem – nicht aufklärungspflichtigen – und nicht realisiertem – aufklärungspflichtigen – Risiko Raum für haftungsbegrenzende Schutzzwecküberlegungen lediglich dann gesehen, wenn wenigstens eine Grundaufklärung erfolgt ist.
III.
18
Die Sache war deshalb zur erneuten Verhandlung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, soweit das Berufungsgericht auf Aufklärungsfehler gestützte Schadensersatzansprüche verneint hat (§ 562Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Die Sache ist nicht entscheidungsreif, da sich das Berufungsgericht – aus seiner Sicht konsequent – noch nicht mit dem von den Beklagten erhobenen Einwand der hypothetischen Einwilligung befasst hat.