Zur Einschätzung des Gefahrenpotenzial eines Hundes aufgrund einer Beißerei mit einem Nachbarshund

Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 06. März 2006 – 3 B 11/06

Zur Einschätzung des Gefahrenpotenzial eines Hundes aufgrund einer Beißerei mit einem Nachbarshund

Tenor

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller vom 12.01.2006 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 03.01.2006 wird angeordnet.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf Euro 5.000,– festgesetzt.

Gründe
I.

1
Die Antragsteller wenden sich gegen die Feststellung, dass ihre Dalmatiner-Hündin gefährlich im Sinne des § 3 Abs. 3 Nr. 4 des Gefahrhundegesetzes (GefHG) ist.

2
Am 19.10.2005 gegen 08:45 Uhr biss die nicht angeleinte Hündin der Antragsteller in … die angeleinte Mischlingshündin eines Nachbarn. Die Behandlung der Wunde hatte Tierarztkosten von insgesamt Euro 71,10 zur Folge.

3
Mit Bescheid vom 03.01.2006 wurde festgestellt, dass die Hündin der Antragsteller gefährlich im Sinne von § 3 Abs. 3 Nr. 4 GefHG ist. Da der gebissene Hund angeleint war und der Hund der Antragsteller unangeleint geführt wurde, sei davon auszugehen, dass der Biss erfolgt sei, ohne dass die Hündin selbst angegriffen worden sei.

4
Hiergegen wenden sich die Antragsteller mit ihrem Widerspruch vom 12.01.2006 und ihrem am 20.01.2006 bei Gericht eingegangenem Ersuchen um einstweiligen Rechtsschutz.

5
Sie sind der Ansicht, dass ihre Hündin nicht als gefährlich einzustufen ist. Diese sei grundsätzlich nicht aggressiv, was sich aus der Zuchtzulassungsprüfung ergebe. Es gebe lediglich ein spezielles Problem mit der Nachbarhündin. Ursache für den streitgegenständlichen Vorfall sei eine jahrelange permanente Aggression der Nachbarhündin …, die schon begonnen habe, als die Hündin noch „Welpenschutz“ hatte. Von Anfang an, also seit Mitte 2002 komme aus dem Nachbarhaus permanentes Gekläffe , wenn die Antragsteller mit ihrer Hündin im Garten seien. Die permanente Aggressivität der Nachbarhündin sei eine Dauer-Provokation für die Hündin. Der Vorfall sei aus dieser Vorgeschichte zu verstehen. Hätte der Nachbar nicht durch das enge Heranziehen der Leine eine hundgerechte Rangordnungsauseinandersetzung verhindert, wäre es zu der ausweislich der Tierarztrechnung leichten Bissverletzung nicht gekommen. Aus Sicht der Hündin stellte das wütende Gekläffe der Nachbarhündin einen Angriff dar, so dass ein Tatbestand des Gefahrhundegesetzes nicht erfüllt sei. Da die Hündin sonst keine Probleme mit anderen Hündinnen, Hunden oder Menschen hat, sei ein Sofortvollzug nicht gerechtfertigt.

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Die Antragsteller beantragen,

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die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 09.01.2006 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 03.01.2006 wiederherzustellen.

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Die Antragsgegnerin beantragt,

9
den Antrag abzulehnen.

10
Sie ist der Ansicht, dass der Vorfall den Vorschriften des Gefahrhundegesetzes unterfalle und die Hündin entsprechend der angegriffenen Verfügung gefährlich sei. Ein Angriff des anderen Hundes sei nicht zu erkennen.

11
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Akten und Beiakten verwiesen.

II.

12
Der Antrag ist zulässig und begründet.

13
Der Antrag ist wirksam bei Gericht gestellt worden. Zwar war der Antrag ursprünglich an die Antragsgegnerin gerichtet. Die Antragsteller haben nach Weiterleitung an das Gericht durch ihre weiteren Einlassungen zu verstehen gegeben, dass sie den Antrag auch als gerichtet an das Gericht gelten lassen wollen.

14
Der Antrag ist als Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 Hs. 1 VwGO zu verstehen (vgl. § 88 VwGO) und als solcher zulässig. Nach dieser Vorschrift kann das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung in Fällen des § 80 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Streitgegenständlich ist mit der Feststellung als gefährlicher Hund ein Vorgang, für den der Gesetzgeber in § 3 Abs. 4 S. 2 GefHG die sofortige Vollziehbarkeit vorgesehen hat, mithin ein Fall des § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.

15
Der Antrag ist auch begründet. Die gerichtliche Entscheidung ergeht auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung zwischen dem privaten Aufschubinteresse des Antragstellers und dem öffentlichen Interesse an der Vollziehung des Verwaltungsakts. Im Rahmen dieser Interessenabwägung können auch Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, der vollzogen werden soll, Bedeutung erlangen, allerdings nicht als unmittelbare Entscheidungsgrundlage, sondern als in die Abwägung einzustellende Gesichtspunkte. Lässt sich bei der summarischen Überprüfung die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides ohne weiteres feststellen, ist sie also offensichtlich, so ist die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs anzuordnen, da an der sofortigen Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsaktes kein öffentliches Interesse bestehen kann.

16
So verhält es sich im vorliegenden Fall. Der streitgegenständliche Vorfall ist nicht geeignet, die Feststellung der Gefährlichkeit der Hündin der Antragsteller zu rechtfertigen. Die Antragsgegnerin sieht im vorliegenden Fall den Tatbestand des § 3 Abs. 3 Nr. 4 GefHG als erfüllt an. Danach gelten Hunde als gefährlich, die ein anderes Tier durch Biss geschädigt haben, ohne selbst angegriffen worden zu sein oder die einen anderen Hund trotz dessen erkennbarer artüblicher Unterwerfungsgestik gebissen haben.

17
Dieser gesetzliche Tatbestand wird durch den streitgegenständlichen Vorfall nicht erfüllt. Zwar ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass eine Bissverletzung durch einen Vorfall zwischen zwei Hunden vorliegt. Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut führt indes nicht jeder Biss zwischen Hunden zur Annahme der Gefährlichkeit eines Hundes. Ausdrücklich nicht zur Gefährlichkeitseinstufung führt zunächst ein Beißen aufgrund eines Verteidigungsverhaltens des Hundes (§ 3 Abs. 3 Nr. 4 Hs. 1 GefHG). Daneben wird seitens des Gesetzgebers in den Fällen eine Gefährlichkeitsvermutung aufgestellt, in denen Hunde trotz artüblicher Unterwerfungsgestik ihres Rivalen beißen (§ 3 Abs. 3 Nr. 4 Hs. 2 GefHG). Hiermit sind offensichtlich Fälle gemeint, in denen das artgerechte Maß der Austragung einer Rangrivalität überschritten wird. Diese beiden Tatbestande bedürfen der Abgrenzung zueinander. Liegt ein Fall einer Rangklärung zwischen zwei Hunden vor, kann hierin kein Angriff im Sinne des ersten Halbsatzes mehr gesehen werden. Bei einer solchen Vorgehensweise käme es ansonsten zu Zufallsergebnissen, da zumeist nicht mehr festgestellt werden könnte, welcher Hund die Klärung der Rangfolge initiiert hat, bzw. welcher Hund zuerst gebissen hat. Die beiden Halbsätze des § 3 Abs. 3 Nr. 4 GefHG stehen daher zueinander in einem Verhältnis der Spezialität. Eine Klärung der Rangfolge unter Hunden kann damit unter Umständen auch zu Bissverletzungen führen, ohne dass von den beteiligten Hunden unmittelbar ein vom Schutzzweck des Gesetzes erfasstes Gefährdungspotential ausgehen muss. Die Grenze der Gefährlichkeit im Sinne des Gefahrhundegesetzes wird in solchen Fällen erst dann überschritten, wenn das Beißen trotz Unterwerfungsgestik erfolgt. Erfolgt keine Unterwerfungsgestik, kann es zu Bissen kommen, die die Gefährlichkeitsvermutung nicht auslösen.

18
Der vorliegende Fall unterfällt dem Gesetz damit nicht. Es ist nach dem Stand des Eilverfahrens anhand der glaubhaft gemachten Einlassungen der Antragsteller davon auszugehen, dass der Vorfall nicht das Ergebnis eines spontanen Angriffs der Hündin der Antragsteller, sondern einer bislang ungeklärten Rangstreitigkeit zwischen der Hündin der Antragsteller und der letztlich gebissenen Nachbarshündin ist. Hierfür sprechen die glaubhaft gemachte Vorgeschichte des Vorfalls, also das von Anfang an aggressive Verhalten des anderen Hundes, sowie die plausible Schilderung des konkreten Hergangs des Vorfalls. Auch die erfolgte Zuchtzulassung der Hündin ist ein Hinweis, der gegen eine allgemeine Aggressivität spricht. Weitere Vorfälle, die ein Gefährdungspotential der Hündin für Leib, Leben oder Eigentum (fremde Hunde) von Menschen erkennen lassen, sind nicht ersichtlich. Das Gericht geht daher davon aus, dass es im Rahmen des seit längerer Zeit bestehenden schlechten Verhältnisses nie zu einer Klärung der Rangfolge zwischen den beiden Hunden gekommen ist, da die jeweiligen Halter dies stets zu verhindern wussten. Zu der Bissverletzung konnte es infolge einer Unachtsamkeit der Antragsteller kommen, da im Rahmen der sich hieraus aus Sicht der Hündin ergebenden spontanen Gelegenheit zur Klärung der Verhältnisse eine Unterwerfungsgestik nicht gezeigt werden konnte. Die Hündin der Antragsteller war nicht angeleint und konnte so frei agieren, während der sie – wie stets – aggressiv anbellende Nachbarshund artübliches Verhalten nicht zeigen konnte, da er infolge des Kurzziehens der Leine durch den Halter daran gehindert wurde. In einem solchen Fall kann aber nicht von einer besonderen Gefährlichkeit der Hündin der Antragsteller ausgegangen werden, sondern nur von tiertypischem Verhalten, welches eine unter das Gefahrhundegesetz fallende Aggressivität nicht erkennen lässt.

19
Da zudem nach dem Stand des Eilverfahrens auch kein anderer Tatbestand des § 3 Abs. 3 GefHG als erfüllt anzusehen ist, erweist sich die angegriffene Verfügung als offensichtlich rechtswidrig. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs war demnach anzuordnen.

20
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

21
Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 3 Nr. 2, 63 Abs. 2 GKG n.F. (Auffangstreitwert).

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