BGH, Urteil vom 06.02.1997 – I ZR 222/94
Zur Darlegungslast des Spediteurs bei Verlust von Speditionsgut
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 18. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 27. Oktober 1994 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
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Die Klägerin nimmt als Transportversicherer der T. E. E. GmbH (im folgenden: T.) die Beklagte, die ein Speditionsgewerbe betreibt, aus übergegangenem Recht auf Schadensersatz für den Verlust von Speditionsgut in Anspruch.
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Die Versicherungsnehmerin der Klägerin beauftragte die Beklagte mit der bundesweiten Versendung von Audio- und Videokassetten. Im Zeitraum von April bis Dezember 1992 ist in 36 Fällen Transportgut der T. im Gewahrsam der Beklagten in Verlust geraten. Die Beklagte hat deshalb – mit Ausnahme für den in der Klagebegründung unter Ziffer 19 dargestellten Schadensfall – auf der Grundlage der ADSp-Sätze von 4,45 DM/kg Ersatz an die T. geleistet.
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Die Klägerin, die mit der Klage zuletzt noch 129.259,38 DM nebst Zinsen geltend macht, hat behauptet, als Transportversicherer der T. für die streitgegenständlichen Verluste den vorgenannten Betrag ersetzt zu haben. Sie hat weiter vorgetragen, die Beklagte habe den Verlust des Gutes grob fahrlässig verursacht. Bei der Beklagten sei es in der Vergangenheit zu einer Vielzahl von Schadensfällen gekommen. Dies allein rechtfertige den Anschein, daß die Betriebsorganisation der Beklagten grobe Mängel aufweisen müsse. Dafür spreche auch, daß die Beklagte keine Strafanzeigen erstattet und die Verluste erst nach entsprechenden Anfragen der T. hinsichtlich des Verbleibs der Sendungen bemerkt habe.
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Die Beklagte ist den erhobenen Forderungen nach Grund und Höhe entgegengetreten. Sie macht vor allem geltend, sie habe ihre Organisationsabläufe so gestaltet, wie es unter Berücksichtigung wirtschaftlicher Gegebenheiten nicht anders möglich sei. Angesichts der Umschlagskapazitäten in ihren Niederlassungen könne aus der Schadenshäufigkeit, die bezogen auf die Niederlassung R., in der die meisten Verluste aufgetreten seien, lediglich 0,44 % betrage, nicht auf eine grob fehlerhafte Betriebsorganisation geschlossen werden. Für den Bereich des Spediteursammelgutverkehrs liege diese Schadensquote an der unteren Grenze.
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Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung ist erfolglos geblieben.
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Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin ihr Zahlungsbegehren weiter. Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
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I. Das Berufungsgericht hat eine Haftung der Beklagten als Spediteurin nach § 407 Abs. 2, § 390 Abs. 1 HGB i.V. mit § 51 lit. a ADSp dem Grunde nach bejaht. Die Beklagte könne sich jedoch auf die Haftungshöchstgrenzen nach § 54 lit. a Nr. 1 ADSp berufen. Eine weitergehende Haftung scheide aus. Dazu hat das Berufungsgericht ausgeführt:
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Die Beklagte hafte nicht nach § 51 lit. b Satz 2 ADSp infolge grob fahrlässigen Organisationsverschuldens unbeschränkt, da die insoweit darlegungs- und beweispflichtige Klägerin die Voraussetzungen hierfür nicht hinreichend dargetan habe. Die Beklagte habe ihren prozessualen Mitwirkungspflichten im erforderlichen Umfang genügt, da sie bezüglich der allgemeinen Ausstattung ihres Betriebs und hinsichtlich der von ihr ergriffenen Maßnahmen zur Sicherung des Speditionsgutes näher vorgetragen habe. Aus diesem Vorbringen könne abgeleitet werden, daß die Beklagte im Rahmen ihrer Organisation das ihr Mögliche getan habe, um ihr anvertrautes Gut vor Verlust zu bewahren.
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II. Die hiergegen gerichtete Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung und Zurückverweisung.
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1. Die Revision rügt mit Recht, das Berufungsgericht habe unzutreffend ein grobes Organisationsverschulden der Beklagten und damit die erweiterte Haftung nach § 51 lit. b Satz 2 ADSp verneint. Auf der bisherigen Tatsachengrundlage läßt sich noch nicht abschließend beurteilen, ob der Beklagten grob fahrlässige Organisationsmängel anzulasten sind, so daß eine Haftung über die Haftungshöchstgrenze hinaus nicht ausgeschlossen werden kann.
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a) Zutreffend ist das Berufungsgericht allerdings davon ausgegangen, daß die Klägerin, die die vom Berufungsgericht angenommene Geltung der ADSp nicht beanstandet hat, nach § 51 lit. b Satz 2 ADSp über die gemäß § 54 lit. a Nr. 1 ADSp bereits gezahlte Entschädigung hinaus nur dann weiteren Ersatz verlangen könnte, wenn sie der ihr obliegenden Darlegungs- und Beweislast für grobe Fahrlässigkeit der Beklagten genügt hätte. Die Vorschrift des § 51 lit. b Satz 2 ADSp enthält eine Beweislastregelung zu Lasten des Anspruchstellers, gegen deren Wirksamkeit keine durchgreifenden Bedenken nach dem AGB-Gesetz (§§ 5 und 9) bestehen (BGHZ 127, 275, 277 ff.; 129, 345, 347; BGH, Urt. v. 14.12.1995 – I ZR 138/93, TranspR 1996, 121).
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Die der Klägerin obliegende Darlegungs- und Beweislast wird aber dadurch gemildert, daß der Spediteur angesichts des unterschiedlichen Informationsstandes der Vertragsparteien nach Treu und Glauben gehalten ist, soweit möglich und zumutbar zu den näheren Umständen aus seinem Betriebsbereich eingehend vorzutragen (BGHZ 127, 275, 284; 129, 345, 349 f.; BGH TranspR 1996, 121), wie es – den allgemeinen Organisationsablauf betreffend – vorliegend die Beklagte jedenfalls in gewissem Umfang getan hat.
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b) Der Auffassung des Berufungsgerichts, die Beklagte habe der ihr obliegenden Vortragspflicht umfassend genügt, kann nicht beigetreten werden. Der Bundesgerichtshof hat wiederholt entschieden, daß es nicht ausreicht, wenn der Spediteur allgemein zur Lagerorganisation vorträgt. Er ist vielmehr gehalten, die konkret eingerichteten Kontrollen so detailliert darzulegen, daß für den Anspruchsteller und das Gericht erkennbar wird, wie die einzelnen Maßnahmen in der Praxis geordnet, überschaubar und zuverlässig ineinandergreifen und welche Maßnahmen getroffen worden sind, um sicherzustellen, daß die theoretisch vorgesehenen Organisationsmaßnahmen auch praktisch durchgeführt werden (vgl. BGH, Urt. v. 3.11.1994 – I ZR 100/92, VersR 1995, 604, 606, insoweit in BGHZ 127, 275 nicht abgedruckt; BGHZ 129, 345, 350 f.; BGH, Urt. v. 6.7.1995 – I ZR 20/93, TranspR 1996, 70, 72; Urt. v. 9.11.1995 – I ZR 122/93, TranspR 1996, 303, 304 = VersR 1996, 782). Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß es sich beim Umschlag von Transportgütern, wie er im Streitfall in Frage steht, um einen schadensanfälligen Bereich handelt, der deshalb so organisiert werden muß, daß in der Regel Ein- und Ausgang der Güter kontrolliert werden, damit Fehlbestände frühzeitig festgehalten werden können (vgl. BGH TranspR 1996, 70, 72). Auf der gegenwärtigen Tatsachengrundlage läßt sich nicht abschließend beurteilen, ob die nach dem Vortrag der Beklagten in ihren Umschlagslagern vorgesehenen und vorgenommenen Kontrollmaßnahmen ein tatsächlich funktionierendes und nicht nur ein theoretisch ausreichendes Sicherungssystem darstellen; denn danach sind schwerwiegende Lücken in der Organisation der Beklagten nicht auszuschließen.
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c) Die Revision wendet sich mit Erfolg gegen die Annahme des Berufungsgerichts, die Beklagte habe hinreichend dargelegt, im Rahmen ihrer Organisation das ihr Mögliche getan zu haben, um das in ihre Obhut gelangte Transportgut vor Verlust zu bewahren. Die vom Berufungsgericht bislang getroffenen Feststellungen rechtfertigen diese Annahme nicht.
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aa) Es hat ausgeführt, das von der Beklagten bei der T. in Wechselbrücken abgeholte Transportgut werde in deren Umschlagslager in R. übernommen. Dort würden die T.-Erzeugnisse, wenn eine Direktverladung nicht möglich sei, ausnahmslos in ein besonders gesichertes Wertlager, welches verschließbar sei, verbracht. Über die Schlüssel zu dem Lager verfügten nur verantwortliche Lagermeister. Für die Weiterspeditierung werde das Gut auf sog. Relationsplätzen gesammelt. Anschließend würden Mitarbeiter der Beklagten es auf die Wechselbrücken für den Fernverkehr verladen, die nach der Verladung plombiert und sodann von anderen Frachtführern zu den jeweiligen Niederlassungen der Beklagten im Bundesgebiet befördert würden. Dort erfolge eine Eingangskontrolle. Danach werde das Transportgut, sofern nicht eine Direktverladung auf die Güternahverkehrsfahrzeuge möglich sei, erneut in einem Wertverschlag abgestellt. Von dort werde es wiederum auf Relationsplätze verbracht und auf die Nahverkehrsfahrzeuge verladen.
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Bei der Beklagten würden nur Mitarbeiter eingestellt, die ein polizeiliches Führungszeugnis vorgelegt hätten. Bei hinreichendem Diebstahlsverdacht werde die Polizei zur Klärung hinzugezogen. Schließlich habe die Beklagte auch vorgetragen, in welcher ihrer Niederlassungen sich die streitgegenständlichen Schadensfälle ereignet hätten. Aus diesem Vorbringen der Beklagten hat das Berufungsgericht zu Unrecht hergeleitet, daß die Beklagte im Rahmen ihrer Organisation das ihr Mögliche getan hat, um das ihr anvertraute Gut vor Verlust zu bewahren.
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bb) Das Berufungsgericht hat keine Feststellungen dazu getroffen, ob nach Eintreffen der Sendungen im Umschlagslager R. eine wirksame Eingangskontrolle stattgefunden hat. Es fehlen insbesondere Feststellungen dazu, ob und auf welche Weise die ankommenden Pakete datenmäßig als Bestand erfaßt wurden und ob dabei einer versehentlichen oder gewollten Nichtregistrierung von Packstücken hinreichend entgegengewirkt wurde (vgl. BGH TranspR 1996, 70, 72). Es bleibt ferner offen, ob, von wem und auf welche Weise die Vollständigkeit der auf Wechselbrücken ankommenden Sendungen verläßlich geprüft wurde. Ebensowenig hat das Berufungsgericht Einzelheiten zu den örtlichen Gegebenheiten in den Lagerhallen, insbesondere die jeweils konkret getroffenen Überwachungsmaßnahmen, festgestellt.
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Auch bei der im Streitfall besonders interessierenden Ausgangskontrolle, auf die es ankommt, weil in den verschiedenen Niederlassungen der Beklagten (in R. 13, in K. 12, in D. 3, in M. und F. je 2 sowie in U., Do., B. und S. je 1 Schadensfall) Sendungen in Verlust geraten sind, sind auf der Grundlage der bislang getroffenen Feststellungen grobe Mängel nicht auszuschließen. Den Darlegungen des Berufungsgerichts kann nicht entnommen werden, daß die Beklagte eine wirksame Ausgangskontrolle veranlaßt hat. Es bleibt auch offen – ebenso wie bei der Datenaufnahme beim Eingang des Transportgutes -, inwieweit einer versehentlichen oder bewußten Nichtregistrierung ausgehender Packstücke tatsächlich entgegengewirkt wurde. Es ist ferner nicht ersichtlich, ob, auf welche Weise und in welchen Zeiträumen eine Abgleichung zwischen Ein- und Ausgang vorgenommen wurde. Der konkrete Ablauf der Eingangskontrolle bei Ankunft der Sendungen in den jeweiligen Niederlassungen der Beklagten ist ebenfalls vom Berufungsgericht nicht festgestellt worden.
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Das Berufungsgericht wird insbesondere zu prüfen haben, ob die von der Beklagten vorgelegte Organisationsbeschreibung gemäß Anlage B 3, die allerdings nur allgemein gehalten ist, in Verbindung mit dem ergänzenden Beklagtenvorbringen den Anforderungen an die ihr obliegende Vortragspflicht hinsichtlich der einzelnen Schadensfälle genügt. Es wird sich auch mit dem Einwand der Revisionsbegründung zu befassen haben, aus dem von der Beklagten vorgelegten Qualitätshandbuch ergebe sich, daß die Beklagte offenbar nach dem Franchising-System arbeite und nicht selbst Niederlassungen im ganzen Bundesgebiet unterhalte. Die Parteien werden im wiedereröffneten Berufungsrechtszug Gelegenheit zu weiterem Vorbringen haben.
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Das Berufungsgericht wird auch zu prüfen haben, ob sich ein Indiz für die Annahme, daß das Kontrollsystem der Beklagten tatsächlich nicht funktioniert habe, aus der Vielzahl der eingetretenen Schadensfälle ergibt. In einem Zeitraum von nur acht Monaten ist es allein bei T.-Sendungen zu 36 Verlusten gekommen. Die Schadensquote im Umschlagslager in R. lag nach der eigenen Darstellung der Beklagten immerhin bei 0,44 %.
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2. Die Revision wendet sich auch mit Erfolg gegen die Annahme des Berufungsgerichts, die Klägerin habe das erstinstanzliche Urteil wegen der vom Landgericht unterlassenen Regulierung des Schadensfalles Nr. 19 nicht angegriffen. Das Gegenteil ergibt sich bereits aus dem Berufungsantrag, mit dem die Klageforderung in vollem Umfang weiterverfolgt wurde. Einer besonderen Beanstandung der vollständigen Abweisung des unter Ziff. 19 der Klage geltend gemachten Schadensersatzanspruches in der Berufungsbegründung hat es im Streitfall ausnahmsweise nicht bedurft. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes genügt eine Berufungsbegründung den Anforderungen des § 519 Abs. 3 Nr. 2 ZPO grundsätzlich zwar nur dann, wenn sie erkennen läßt, in welchen Punkten tatsächlicher oder rechtlicher Art das angefochtene Urteil nach Ansicht des Berufungsklägers unrichtig ist und auf welchen Gründen diese Ansicht im einzelnen beruht (vgl. BGH, Urt. v. 4.10.1990 – IX ZR 270/89, NJW 1991, 427, 429 m.w.N.; Urt. v. 27.1.1994 – I ZR 326/91, GRUR 1995, 693, 695 = WRP 1994, 387, 389 – Indizienkette). Daraus folgt für den hier vorliegenden Fall einer Abweisung mehrerer verschiedener Ansprüche, daß die Begründung einer Berufung, mit der die Abweisung insgesamt angegriffen werden soll, grundsätzlich auch alle tragenden Erwägungen beanstanden muß, mit denen im angefochtenen Urteil die Abweisung der einzelnen Ansprüche begründet worden ist. Das gilt aber nur dann, wenn die Vorinstanz die erhobenen (mehreren) Ansprüche aus jeweils eigenen, besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Gründen und nicht aus einem einheitlichen, allen Ansprüchen gemeinsamen Grund für unbegründet erklärt hat; im letzteren Fall genügt es, wenn die Berufungsbegründung nur diesen einheitlichen Rechtsgrund im Ganzen angreift (vgl. BGH GRUR 1995, 693, 695 – Indizienkette).
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Ein derartiger Fall liegt hier vor. Das Landgericht hatte alle geltend gemachten Schadensersatzansprüche einheitlich unter dem rechtlichen Gesichtspunkt, daß die Voraussetzungen für eine erweiterte Haftung der Beklagten nach § 51 lit. b ADSp nicht feststellbar seien, abgewiesen. Auf die von der Klägerin unter Ziff. 19 der Klage dargelegte Schadensposition war es in den Entscheidungsgründen nicht gesondert eingegangen. Bei dieser Art der Begründung – Ablehnung aller Ansprüche allein deshalb, weil der Klägerin der Nachweis eines groben Organisationsverschuldens der Beklagten nicht gelungen sei – genügte die Berufungsbegründung der Klägerin, in der sie einheitlich die Würdigung des Landgerichts als fehlerhaft angegriffen hatte, vorliegend den Anforderungen des § 519 Abs. 3 Nr. 2 ZPO.
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Eine abschließende Entscheidung über Grund und Höhe des nach § 54 lit. a Nr. 1 ADSp für den von der Klägerin unter Ziff. 19 der Klage dargelegten Schadensfall zu leistenden Ersatzes ist dem Senat allerdings nicht möglich, weil die Beklagte bestritten hat, daß die Klägerin insoweit eine Ersatzleistung an die T. erbracht hat, und insoweit auch über das zugrundezulegende Gewicht Streit besteht. Das Berufungsgericht hat auch hierzu keine Feststellungen getroffen.
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III. Danach war das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.