OLG Hamm, Urteil vom 23.01.2018 – I-26 U 76/17, 26 U 76/17
1. Wählt der Arzt eine Neulandmethode, hat er den Patienten über diesen Umstand sowie über die alternativen Behandlungsmethoden aufzuklären.
2. Es bedarf einer besonderen Aufklärung über die Neulandmethode, wenn diese noch keine Standardmethode darstellt.
3. Bei einem neuen Operationsverfahren (Netzimplantat bei Senkungsoperation) ist die Patientin ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass unbekannte Komplikationen auftreten können.
4. Bei Auftreten einer persistierenden Schmerzhaftigkeit der Scheide, kann ein Schmerzgeld von 35.000,- EUR angemessen sein.
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Die Berufung der Beklagten zu 1) gegen das am 05. Mai 2017 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Siegen wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Berufungsinstanz werden der Beklagten zu 1) auferlegt.
Das angefochtene Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte zu 1) darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
1
Die Klägerin nimmt die Beklagte zu 1) wegen einer vermeintlich unzureichenden Aufklärung vor einem operativen Eingriff vom 16.04.2008 sowie Behandlungsfehlern auf Schmerzensgeld, Feststellung zukünftiger Schadensersatzpflicht und Zahlung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Anspruch.
2
Aufgrund einer Überweisung durch den Frauenarzt G wegen einer Belastungsharninkontinenz stellte sich die am …1956 geborene Klägerin am 02.04.2008 in der urodynamischen Sprechstunde im Hause der Beklagten zu 1) vor. Der Klägerin wurde nach Diagnosestellung folgender Therapievorschlag gemacht: „Anterior und posterior repair mit Prolift-Mesh. Bei Persistenz oder Zunahme der Belastungsinkontinenz WV in unserer UDM-Sprechstunde, ggf. sek. TVT-Insertion“.
3
Die Klägerin unterschrieb am 15.04.2008 zwei Aufklärungs- und Einverständniserklärungsbögen über die Einbringung eines Netzes als neues Operationsverfahren (Bl. 69-74 d. A.). Zudem unterschrieb die Klägerin am selben Tag eine weitere am Ende des Aufklärungsbogens „Operationen bei Harninkontinenz“ befindliche Einverständniserklärung.
4
Der operative Eingriff erfolgte am 16.04.2008. Das Prolift-Netz wurde transobturatoriell und transischiorektal eingebracht. Die stationäre Behandlung der Klägerin dauerte bis zum 24.04.2008.
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Am 04.07.2008 stellte sich die Klägerin erneut bei der Beklagten zu 1) vor und berichtete unter anderem von einer Dyspareunie. In einem an den Gynäkologen der Klägerin gerichteten Arztbrief wurde der Verdacht geäußert, dass die Schmerzen durch eine Strangbildung im Bereich des Vaginalstumpfes verursacht würden. Darüber hinaus wurde eine restliche Harninkontinenz festgestellt.
6
Im Oktober 2008 stellte sich die Klägerin ein weiteres Mal bei ihrem Gynäkologen vor und berichtete von schmerzhaften Beschwerden beim Geschlechtsverkehr. Kurz darauf schloss sich ein stationärer Aufenthalt im Klinikum X-C an. Dort erfolgte am 09.12.2008 eine Spaltung und partielle Exzision des einliegenden Netzgewebes.
7
Im Zeitraum vom März 2009 bis April 2009 erfolgten – unter anderem wegen Dyspareunie – weitere vier operative Eingriffe, bei denen weitere Teile des Netzgewebes entfernt wurden. Auch danach klagte die Klägerin bei ihrer Gynäkologin über persistierende Schmerzempfindungen.
8
Die Klägerin hat behauptet, nicht über alternative Behandlungsmethoden aufgeklärt worden zu sein. Es habe die Möglichkeit der Faszienraffung ohne Fremdmaterial bestanden. Hieraus folge gleichzeitig ein Behandlungsfehler, da dies seinerzeit die Methode der Wahl gewesen sei. Eine Indikation für einen Gewebeersatz habe nicht bestanden. Die streitgegenständliche Operation habe ihren Zustand verschlechtert. Es sei zur Verschlimmerung der Belastungsharninkontinenz und zur Schrumpfung des Netzes gekommen, wodurch starke Schmerzen verursacht worden seien. Die sich hieraus entwickelnde Dyspareunie habe zu einem hohen Leidensdruck geführt. Bis zu Entfernung des vorderen Netzes sei kein Geschlechtsverkehr mehr möglich gewesen, danach nur unter Schmerzen, die als Dauerschaden anzusehen seien.
9
Das Landgericht hat der Klage gestützt auf ein gynäkologisches Sachverständigengutachten teilweise stattgegeben und die Beklagte zu 1) zur Zahlung eines Schmerzensgeldes i.H.v. 35.000 EUR nebst Feststellung zukünftiger Ersatzpflicht verurteilt. Der Eingriff vom 16.04.2008 sei fehlerfrei durchgeführt worden, aber rechtswidrig, weil er nicht von einer wirksamen Einwilligungserklärung der Klägerin gedeckt gewesen sei. Die gewählte Vorgehensweise mit Einsatz eines vorderen, zentralen und hinteren Interponates sei zum Zeitpunkt des operativen Eingriffs keine Standardoperation gewesen, bei dem seit 2005 eingesetzten Verfahren habe ein geringer Erfahrungsschatz bestanden. Es habe sich um ein neues Verfahren mit noch nicht abschließender Beurteilung gehandelt. Die Probleme derartiger Kunstnetzeinlagen seien erst Ende 2008 erstmals thematisiert worden. 2011 sei dann eine Warnung an die Operateure erfolgt. Die Problematik einer persistierenden Schmerzhaftigkeit der Scheide nach durchgeführter Senkungsoperation mittels Mesh-Interponaten sowie der in den Folgejahren notwendig gewordenen Re-Operationen mit Durchtrennungen von Narbengewebe und Entfernung von Netzteilen sei eine ganz typische und schwerwiegende Problematik solcher Operationen. Es sei durch die Beklagte zu 1) nicht bewiesen, dass die Klägerin mit hinreichender Deutlichkeit darüber aufgeklärt worden sei, dass die gewählte neue Behandlungsmethode hinsichtlich eventueller Risiken noch nicht hinreichend abschätzbar gewesen sei. Es fehle trotz des Hinweises auf die Neuheit des Operationsverfahrens an der Aufklärung darüber, dass die gewählte Vorgehensweise zum Zeitpunkt des operativen Eingriffs keine Standardoperation gewesen sei und lediglich ein geringer Erfahrungsschatz bestanden habe. Die Hinweise im Aufklärungsbogen auf Komplikationen und Nebenwirkungen hätten vielmehr den falschen Eindruck vermittelt, dass bereits hinreichende Erfahrungen mit dem neuen Operationsverfahren bestünden. Die Problematik einer Dyspareunie sei in den Aufklärungsbögen überhaupt nicht angesprochen worden. Der erhobene Einwand der hypothetischen Einwilligung greife nicht durch, da die Klägerin einen Entscheidungskonflikt plausibel gemacht habe. Unter Berücksichtigung von Anzahl und Dauer der Nachbehandlungen sowie des eingetretenen Dauerschadens sei ein Schmerzensgeld von 35.000 EUR angemessen.
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Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten zu 1), die eine vollständige Abweisung der Klage begehrt. Die vom Landgericht gesetzten Anforderungen an die Aufklärung seien nicht nachvollziehbar. Die Klägerin sei von ihrem niedergelassenen Gynäkologen gerade mit dem Ziel einer operativen Behandlung überwiesen worden. Nach der gutachterlichen Stellungnahme sei die Klägerin optimal aufgeklärt worden. Es sei über die Vor- und Nachteile gegenüber anderen Methoden sowie mögliche Komplikationen und risikoerhöhenden Besonderheiten und wahrscheinlichen Nebenwirkungen inklusive Folgeeingriffen sowie Erfolgsaussichten gesprochen worden. Mit der Klägerin sei auch mündlich über das neue Operationsverfahren wie auch die damit einhergehenden Besonderheiten gesprochen worden. Es sei die Neuartigkeit der Methode erklärt worden sowie, dass deren Risiken nicht vollständig absehbar seien. Sofern einem Patienten die Neuartigkeit der Methode vorgestellt werde, dürfe man erwarten, dass dieser die kognitive Fähigkeit besitze, zu erkennen, dass die Risiken einer derartigen Methodik mit Langzeitstudien noch nicht belegt werden könnten. Die Klägerin habe insgesamt kein Interesse an einer Behandlungsalternative gehabt, da sie die Methode von ihrem Gynäkologen Dr. G empfohlen bekommen habe. Aufgrund des hohen Leidensdrucks und der Empfehlung aller beratenden Ärzte spreche alles dafür, dass die Klägerin sich ungeachtet der Darstellung weiterer Behandlungsalternativen hätte operieren lassen. Die Angaben der Klägerin seien nicht plausibel, da entsprechend hoher Leidensdruck bestanden habe und die Klägerin sich unbedingt habe operieren lassen wollen. Letztlich sei es der Klägerin als Chefarztsekretärin und Arzthelferin bekannt gewesen, dass es medizinische Alternativen gegeben habe. Durch den Hinweis auf die Neuwertigkeit der Operationsmethode sei überdies klar gewesen, dass es eine ältere Methode als Behandlungsalternative gegeben habe.
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Die Beklagte zu 1) beantragt,
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unter Abänderung des am 05.05.2017 verkündeten Urteils des Landgerichts Siegen zum Aktenzeichen 2 O 1/15 die Klage abzuweisen.
13
Die Klägerin beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
15
Die Klägerin verteidigt die angefochtene Entscheidung soweit sie ihr günstig ist. Die Beklagte zu 1) ersetze lediglich die zutreffenden Wertungen des Landgerichts durch ihre nicht überzeugenden eigenen Wertungen. Die Beklagte zu 1) habe keine Aufklärung darüber bewiesen, dass es sich bei der gewählten Vorgehensweise nicht um eine Standardoperation gehandelt habe und lediglich ein geringer Erfahrungsschatz bestanden habe. Der Zeuge Dr. T habe weder mitgeteilt, dass es sich um eine neue Behandlungsmethode handele noch das konservative oder sonstige Alternativen bestünden. In keinem der unterschriebenen Aufklärungsbögen sei über Dyspareunie oder korrekturbedürftige Vernarbungen der Scheide bzw. schmerzhafte Schrumpfungen der Scheide aufgeklärt worden sowie darüber, dass Netzteile bzw. das komplette Netz ggf. wieder operativ entfernt werden müssten. Auch über die ggf. postoperativ erforderliche Hormontherapie sei nicht aufgeklärt worden. Den von der Beklagten vorgelegten dritten Aufklärungsbogen, aus dem ihr allein die handschriftlichen Ergänzungen vorgelesen worden seien, habe sie nie erhalten. Statt einer entsprechenden Aufklärung sei der Eingriff verharmlost worden.
16
Der Senat hat die Klägerin erneut persönlich angehört und den Zeugen Dr. T vernommen. Ferner hat der Sachverständige Prof. Dr. C sein Gutachten mündlich erläutert und ergänzt. Wegen der weiteren Einzelheiten der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 23.01.2018 sowie den Berichterstattervermerk vom gleichen Tag verwiesen.
17
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes, insbesondere des genauen Wortlautes der erstinstanzlich gestellten Anträge, wird auf die angefochtene Entscheidung und die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
II.
18
Die Berufung der Beklagten zu 1) ist zulässig, aber nicht begründet.
19
Zu Recht hat das Landgericht der Klage stattgegeben. Der Klägerin steht gegen die Beklagte zu 1) ein Anspruch auf Schmerzensgeldzahlung in Höhe von 35.000,00 EUR, vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten und Feststellung zukünftiger Ersatzpflicht gemäß §§ 611, 278, 280 Abs. 1, 249, 253 Abs. 2 BGB sowie gemäß §§ 823 Abs. 1, 831, 249, 253 Abs. 2 BGB zu.
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Der Senat stützt sich dabei aus den nachfolgenden Gründen auf die erstinstanzliche Begutachtung durch den gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. C sowie dessen umfassende Ausführungen bei seiner Anhörung vor dem Senat. Der Sachverständige hat sich bereits erstinstanzlich dezidiert mit den vorhandenen Krankenunterlagen und dem zu begutachtenden Sachverhalt auseinandergesetzt. Er hat auch im Rahmen seiner Anhörung durch den Senat seine Feststellungen und fachlichen Beurteilungen unter Berücksichtigung sämtlicher Befunde überzeugend vertreten.
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Es verbleibt nach der ergänzenden Beweisaufnahme auch unter Berücksichtigung des Berufungsvorbringens dabei, dass der Beklagten zu 1) eine fehlerhafte Aufklärung über die unzureichende Erfahrung mit den möglichen Folgen des neuen Operationsverfahrens vor Durchführung des operativen Eingriffs vom 16.04.2008 zur Last zu legen ist. Somit war dieser Eingriff rechtswidrig, weil er nicht von einer wirksamen Einwilligung der Klägerin gedeckt war.
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1. Die Klägerin wurde dabei zunächst noch hinreichend darüber aufgeklärt, dass neben der gewählten – neuen – Operationsmethode noch weitere operative und ggf. konservative Behandlungsalternativen zur Verfügung gestanden haben.
23
Nach der Rechtsprechung des BGH ist die Wahl der Behandlungsmethode zwar primär Sache des Arztes. Die Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten erfordert aber eine Unterrichtung über eine alternative Behandlungsmöglichkeit, wenn für eine medizinisch sinnvolle und indizierte Therapie mehrere gleichwertige Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die zu jeweils unterschiedlichen Belastungen des Patienten führen oder unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bieten (BGH Urt. v. 22.09.1987 – VI ZR 238/86, MDR 1988, 216; BGH Urt. v. 06.12.1988 – VI ZR 132/88, MDR 1989, 437; BGH Urt. v. 11.05.1982 – VI ZR 171/80, MDR 1982, 1009; BGH Urt. v. 15.03.2005 – VI ZR 313/03, MDR 2005, 988). Wählt der Arzt eine Neulandmethode, hat er den Patienten über diesen Umstand sowie über die alternativen Möglichkeiten der hergebrachten Behandlungsmethoden aufzuklären (vgl. Geis/Greiner Arzthaftpflichtrecht 7. Aufl. Rdn. C21 + C39).
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Die Klägerin behauptet, ihr sei ausschließlich die Operation mittels Pro-Lift Netz erläutert worden. Allerdings weist der von der Klägerin am 15.04.2008 unterzeichnete Aufklärungsbogen „Operationen bei Harninkontinenz“ ausdrücklich mehrere Operationsmethoden aus und erläutert diese. Die tatsächlich gewählte Methode ist dort nicht aufgeführt und wurde von der aufklärenden Assistenzärztin handschriftlich hinzugesetzt. Daneben hat der Zeuge Dr. T zur Überzeugung des Senats in dem von ihm geführten mündlichen Aufklärungsgespräch auf die Alternativen hingewiesen. Der Zeuge hat bekundet, dass er die urogynäkologische Sprechstunde im Hause der Beklagten zu 1) bereits seit 2005 leitet. Unter Bezugnahme auf seine übliche Praxis hat er sodann glaubhaft dargelegt, dass er sich in der Regel für jede Patientin eine Stunde Zeit nimmt und vor Empfehlung eines operativen Eingriffs der streitgegenständlichen Art in jedem Fall mit allen Patienten bespricht, dass es ein altes und ein neues Operationsverfahren gibt. Dabei hat er das neue Verfahren immer anhand eines 3-D Computerprogramms gezeigt und vorgestellt und in diesem Zusammenhang seinen Bekundungen nach immer auch das alte Verfahren angesprochen und auf die Rezidivrate von bis zu 40 % hingewiesen, weshalb seinerzeit in der Klinik das neue Operationsverfahren empfohlen worden ist. Der Senat hat keine Veranlassung, die Angaben des Zeugen in Zweifel zu ziehen.
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2. Neben dem Hinweis auf bestehende Behandlungsalternativen bedurfte es im Streitfall aber zudem – wie das Landgericht zutreffend angenommen hat -, einer besonderen Aufklärung der Klägerin, weil dieser eine Neulandmethode empfohlen worden ist, welche seinerzeit im Jahr 2008 noch keine Standardmethode dargestellt hat. Der Senat vermochte auch nach ergänzender Beweisaufnahme nicht festzustellen, dass die Klägerin vorab auf die seinerzeit noch nicht abschließend bekannten Risiken dieser Neulandmethode in hinreichender Weise hingewiesen worden ist.
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Zwar ist die Klägerin in zwei Aufklärungsbögen darauf hingewiesen worden, dass es sich um ein „neues Operationsverfahren“ handelt. Es fehlt aber eine Aufklärung darüber, dass die empfohlene operative Vorgehensweise mit Einsatz eines vorderen, zentralen und hinteren Interponates zum Zeitpunkt des operativen Eingriffs keine Standardoperation war und insoweit lediglich ein geringer Erfahrungsschatz bestanden hat. Der Sachverständige hat insoweit ausführlich dargelegt, dass die Netztechnik seinerzeit in Operationsbüchern als „originell und außerordentlich verheißungsvoll“ dargestellt worden ist, dass aber 2008 die klinische Erprobungsphase des seit 2005 zunächst in den USA eingesetzten Verfahrens noch nicht abgeschlossen gewesen ist. Belastbare Informationen über konkrete Risiken der neuen Methode lagen im Operationszeitpunkt noch nicht vor. Grund hierfür ist, dass sich die Entwicklung derartiger Netzimplantate immer erst nach einigen Jahren absehen lässt. Es war zunächst nicht bekannt, dass die Netzeinsetzung im Beckenbodenbereich massive gesundheitliche Probleme nach sich zieht. Die unter Anwendungsbedingungen aufgetretenen Probleme derartiger Kunstnetzeinlagen wurden erstmals im Oktober 2008 und somit nach der Operation vom 16.04.2008 thematisiert. Erst drei Jahre später ist dann 2011 eine Warnung an die Operateure mit klarer Vorstellung zur operativen Vorgehensweise erfolgt. Zu diesem Zeitpunkt war dann nach Angabe des Sachverständigen klar, dass man das Verfahren nicht mehr einsetzt.
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Der Sachverständige hat hierzu im Senatstermin weiter ausgeführt, dass das gesamte Operationsverfahren damals vollkommen neu gewesen ist, aber als erfolgversprechender als die klassische vaginale Methode galt. In Deutschland war die gewählte Methode seinerzeit im Jahr 2008 anders als in den USA noch eine Neulandmethode. Gleichwohl durfte sie nach Angabe des Sachverständigen seitens der Ärzte der Beklagten aufgrund der voraussichtlich besseren Operationsergebnisse empfohlen werden.
28
In Fällen wie diesen werden gesteigerte Anforderungen an die ärztliche Sorgfaltspflicht gestellt, die eine Pflicht zur umfassenden Aufklärung des Patienten beinhaltet (vgl. Geis/Greiner Arzthaftpflichtrecht 7. Aufl. Rdn. B 37). Die Klägerin musste im Streitfall angesichts der bestehenden Unsicherheit hinsichtlich der Operationsrisiken explizit darauf hingewiesen werden, dass es sich um ein neues Verfahren mit noch nicht abschließender Beurteilung handelt. Dabei musste ihr ausdrücklich verdeutlicht werden, dass auch unbekannte Komplikationen auftreten können.
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Bei standardgemäßer Behandlung sind allgemeine Überlegungen dazu, dass der Eintritt bislang unbekannter Komplikationen in der Medizin nie ganz auszuschließen ist, für die Entscheidungsfindung des Patienten nicht von Bedeutung. Sie würden ihn im Einzelfall sogar nur unnötig verwirren und beunruhigen. Will der Arzt aber keine allseits anerkannte Standardmethode, sondern eine – wie im Streitfall – neue und noch nicht allgemein eingeführte Methode mit neuen, noch nicht abschließend geklärten Risiken anwenden, so hat er den Patienten auch darüber aufzuklären und darauf hinzuweisen, dass unbekannte Risiken derzeit nicht auszuschließen sind. Die Anwendung neuer Verfahren ist für den medizinischen Fortschritt zwar unerlässlich. Am Patienten dürfen sie aber nur dann angewandt werden, wenn diesem zuvor unmissverständlich verdeutlicht wurde, dass die neue Methode die Möglichkeit unbekannter Risiken birgt. Der Patient muss in die Lage versetzt werden, für sich sorgfältig abzuwägen, ob er sich nach der herkömmlichen Methode mit bekannten Risiken operieren lassen möchte oder nach der neuen Methode unter besonderer Berücksichtigung der in Aussicht gestellten Vorteile und der noch nicht in jeder Hinsicht bekannten Gefahren (BGH Urt. v. 13.06.2006 – VI ZR 323/04, juris; OLG Frankfurt Urt. v. 08.11.2013 – 25 U 79/12, juris).
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Hiernach hätte es zumindest eines ausdrücklichen Hinweises auf die Möglichkeit noch nicht bekannter Risiken bedurft, der der Klägerin unstreitig nicht im Rahmen der schriftlichen Aufklärung erteilt worden ist. In dem mit handschriftlichen Zusätzen versehenen allgemeinen Aufklärungsbogen zu „Operationen bei Harninkontinenz“ und den zwei weiteren Aufklärungsbögen zur konkreten Netz-Methode steht bis auf die Nennung und Erläuterung der Operationsmethode über Netze und Angabe der seinerzeit bekannten Risiken nichts drin. Zur Problematik der Neulandmethode oder gar den konkreten Risiken, unter denen die Klägerin heute leidet, ist dort nichts erwähnt.
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Der Sachverständige hat im Senatstermin ausdrücklich bestätigt, dass man die Klägerin vor dem Eingriff darüber aufklären musste, dass unbekannte Risiken nicht auszuschließen sind und dass mehr Informationen aufgrund der Neuheit des Verfahrens noch nicht vorliegen. Man konnte zu diesem frühen Stadium letztlich noch gar nicht wissen, was mit dieser Methode passiert. Dies betrifft insbesondere die massiven Folgen, die sich letztlich für die Patientinnen gerade aus der Einbringung der Netze im Beckenbodenbereich ergeben haben.
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Nach der ergänzenden Beweisaufnahme des Senats ist auch seitens des Zeugen Dr. T im Rahmen des mündlichen Vorstellung der Operationsmethode nicht auf etwaige seinerzeit unbekannte Risiken der Neulandmethode und den unzureichenden Erfahrungsschatz hingewiesen worden. Dieser hat seinen Bekundungen nach letztlich allein auf die angenommenen Vorteile der neuen Methode hingewiesen und darauf, dass im Anschluss an den Eingriff Beschwerden und Schmerzen auftreten können, wobei er unter Verweis auf Studien aus den USA auf die damals bekannten Risiken hingewiesen hat. Der Zeuge hat der Klägerin somit gerade nicht verdeutlicht, dass sie sich auch auf unbekannte Gefahren einstellen muss.
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3. Soweit die Klägerin weiter eine unzureichende Risikoaufklärung moniert und darauf verweist, dass in keinem der unterschriebenen Aufklärungsbögen über Dyspareunie oder korrekturbedürftige Vernarbungen der Scheide bzw. schmerzhafte Schrumpfungen der Scheide aufgeklärt worden ist sowie darüber, dass Netzteile bzw. das komplette Netz ggf. wieder operativ entfernt werden müssten, kommt es hierauf nicht mehr an, nachdem bereits von einer unzureichenden Aufklärung über die Neulandmethode mit ihren Unwägbarkeiten auszugehen ist.
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Insoweit hat allerdings die Beweisaufnahme ergeben, dass diese Risiken, die der Sachverständige als ganz typisch für diesen neuartigen Eingriff mit einer Netzeinsetzung im Beckenbodenbereich bezeichnet hat, im April 2008 überhaupt noch nicht bekannt gewesen sind. Entsprechend war seinerzeit auch im Infobogen der Herstellerfirma nichts über konkrete Risiken enthalten. Der Sachverständige hat ausgeführt, dass man sich nach ersten Thematisierungen Ende 2008 letztlich erst im Jahr 2011 dieser Problematik und ihrer massiven Auswirkungen für die Patientinnen in vollem Umfang bewusst geworden ist.
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4. Verbleibt es danach bei einer unzureichenden Aufklärung der Klägerin über die Gefahren der Neulandmethode, ist das erstinstanzlich zugesprochene Schmerzensgeld von 35.000,00 EUR angesichts der massiven und dauerhaften gesundheitlichen Folgen für die Klägerin seitens des Senats nicht zu beanstanden. Die Höhe wurde von der Beklagten zu 1) mit der Berufung auch nicht angegriffen.
III.
36
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr.10, 711 ZPO.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und auch keine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert.