OLG Naumburg, Urteil vom 17. Dezember 2009 – 1 U 41/09
1. Der Beweis eines Diagnosefehlers in Gestalt einer unvertretbaren Fehlinterpretation setzt eine gesicherte Rekonstruktion der Befundlage zur Zeit der Diagnosestellung durch den behandelnden Arzt voraus. Misslingt der Nachweis solcher für den Arzt erkennbarer Symptome, aus denen aus ex ante-Sicht des Arztes auf die Herausbildung eines Volldelirs und eine potenzielle Eigengefährdung durch einen Sprung aus dem Fenster des Patientenzimmers geschlossen werden konnte, bleibt der Patient beweisfällig (Rn.39)(Rn.40)(Rn.41).
2. Eine Entzugssymptomatik, die sich in innerer Unruhe, Bettflüchtigkeit und Schlaflosigkeit zeigt, nicht jedoch in vegetativen Ausfällen, rechtfertigt eine – vorsorgliche – Fixierung des Patienten regelmäßig nicht (Rn.42)(Rn.43)(Rn.45)(Rn.46)(Rn.47)(Rn.52)(Rn.55).
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das am 10. März 2009 verkündete Urteil des Landgerichts Dessau-Roßlau, 4 O 997/07, wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Auslagen der Beklagten und ihres Streithelfers hat der Kläger zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger kann die Zwangsvollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden bzw. des tatsächlich vollstreckten Betrages abwenden, wenn nicht zuvor die Beklagte Sicherheit in gleicher Höhe geleistet hat.
Die Revision wird nicht zugelassen. Die Beschwer des Klägers übersteigt 20.000,00 €.
Gründe
I.
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Der Kläger begehrt von der Beklagten als Trägerin des Städtischen Klinikums D. Schmerzensgeld, materiellen Schadenersatz und die Feststellung der Einstandspflicht für künftige Schäden im Hinblick auf seine Verletzungen bei einem Sprung aus dem Fenster seines Patientenzimmers im Krankenhaus.
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Der damals 47-jährige Kläger wurde am 27. April 2002 als Notfall in die Klinik der Beklagten eingewiesen, weil ein Verdacht auf eine Blinddarmentzündung (Appendizitis) mit nekrotisierender Verlaufsform bestand. Bei der Aufnahmeuntersuchung bestätigte sich der Verdacht, zudem wurde eine Bauchfellentzündung (Peritonitis) diagnostiziert. Er wurde am 28. April 2002 laparoskopisch (d.h. mittels sog. Schlüsselloch-Chirurgie) operiert. Am 29. April 2002 wurde er von der operativen Intensivmedizinischen Station in eine offene chirurgische Station verlegt. Wegen des Auftretens von Wundinfektionen wurde am 2. Mai 2002 eine nochmalige Wunderöffnung erforderlich; am Folgetag hätte u.U. eine nochmalige operative Wundrevision erfolgen sollen. Die viszeralchirurgische Behandlung des Klägers ist nicht streitgegenständlich.
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Die offene chirurgische Station befindet sich in einem Neubau in der 2. Etage. Der Kläger war dort in einem Zimmer mit zwei weiteren Patienten untergebracht. Das Zimmer verfügte über mehrere Fenster, die auch von den Patienten vollständig geöffnet werden konnten, d.h. die Fenster waren nicht verschließbar und ihre Öffnung war nicht auf eine Ankippbarkeit beschränkt.
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Dem Personal der Beklagten war seit Beginn der stationären Aufnahme des Klägers bekannt, dass dieser seit mindestens zehn Jahren regelmäßig in erhöhtem Maße Alkohol konsumierte und eine Alkoholabhängigkeit vorlag; dies ergab sich bereits aus dem Überweisungsschein der Hausärztin des Klägers. Im postoperativen Verlauf seiner stationären Behandlung zeigte sich eine zunehmende Entzugssymptomatik, vor allem in Form wiederholender und wechselnder Unruhezustände, Bettflüchtigkeit und Schlafstörungen. Dem gegenüber sind in den Krankenunterlagen, insbesondere auch in den Pflegeberichten keine vegetativen Symptome dokumentiert, wie etwa Zittern, Schwitzen, Blutdruckerhöhungen oder verstärkte Suggestivität (d.h. eine starke psychische Beeinflussbarkeit). Am 2. Mai 2002 ist für 2:00 Uhr nachts niedergelegt, dass der Patient die Station zu verlassen versucht habe, und weiter:
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„hört immer Stimmen und sieht Menschen, die nicht da sind“.
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In der Unfallnacht vom 2. zum 3. Mai 2002 ist für 21:00 Uhr die Anweisung dokumentiert, den Patienten gut zu beobachten; für 24:00 Uhr eine zusätzliche Medikation, weil der Patient leicht durcheinander sei. Gegen 1:00 Uhr wird notiert, dass der – auch nikotinabhängige – Patient die Station öfter durch den Notausgang zum Rauchen verlasse; gegen 2:00 Uhr, dass er viel im Flur auf und ab laufe. Schließlich wird die Krankenschwester N. Sch. gegen 3:15 Uhr durch den Mitpatienten H. durch Klingel gerufen, weil der Kläger im Zimmer am Schrank des Mitpatienten nach etwas suchte. Auf das Eingreifen der Krankenschwester und deren Beschwichtigungsversuch legte sich der Kläger in sein Bett. Die Krankenschwester informierte den Arzt vom Dienst J., der die aufmerksame Beobachtung des Patienten im stündlichen Rhythmus, wie bisher, für ausreichend erachtete. Gegen 3:35 Uhr wachte der Mitpatient H. auf, als der Kläger das Fenster neben seinem Bett öffnete und heraussprang.
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Der Kläger erlitt dabei ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit multiplen bifrontalen Hirnkontusionen (d.h. Quetschungen), eine frontobasale Fraktur, eine frontale Kalottenfraktur, ein Hirnödem, eine LWK 1 – Fraktur, eine Sitzbeinfraktur sowie einen offenen Platzbauch. Er musste sofort am 3. Mai 2002 operiert und anschließend intensiv-medizinisch versorgt werden. Im Rahmen der Nachsorge bildeten sich beiderseits Dekubiti jeweils an der Ferse.
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Der Kläger hat behauptet, dass seine postoperative Behandlung in der Zeit bis zum 3. Mai 2002 fehlerhaft gewesen sei. Das medizinische Personal der Beklagten habe seine Entzugssymptomatik in ihrer Intensität unterschätzt. In der Nacht zum 3. Mai 2002 habe sich ein vollständiges Delir herausgebildet, welches die Ärzte bzw. Pflegekräfte der Beklagten nicht erkannt hätten.
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Die gegen die Alkoholentzugssymptomatik eingeleitete medikative Kombinationsbehandlung mit Distraneurin ® und Prothazin ® sei fehlerhaft gewesen, weil Wechselwirkungen (Interaktionen) nicht berücksichtigt worden seien, die zu einer Verstärkung seiner individuellen Verwirrtheit geführt hätten.
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Zudem wäre der Arzt vom Dienst verpflichtet gewesen, eine engmaschigere Kontrolle in Form einer dauerhaften Sitzkontrolle zu organisieren, um eine Selbstgefährdung des Klägers auszuschließen.
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Schließlich hat der Kläger eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht behauptet im Hinblick auf die für den Kläger nicht unterbundene technische Möglichkeit zur Öffnung des Fensters im Patientenzimmer.
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Die Beklagten haben insbesondere bestritten, dass ein Vollbild des Delirs vor dem Unfallzeitpunkt vorgelegen habe bzw. für das Personal der Beklagten ex ante erkennbar gewesen sei. Lediglich aus rückschauender Betrachtung sei der Schluss nahe liegend, dass sich ein Delir akut entwickelt hatte; hierfür hafte die Beklagte jedoch nicht.
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Dem Landgericht hat ein im Rahmen eines Schlichtungsverfahrens eingeholtes Gutachten des Chefarztes der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie, Forensische Psychiatrie und Suchtmedizinische Grundversorgung in R., Dr. med. M. H. ( künftig: SGA ), vom 7. März 2006 (vgl. GA Bd. I Bl. 18 bis 26) vorgelegen, welches einen ärztlichen Behandlungsfehler in der Nichtanordnung einer dauerhaften Überwachung des Patienten ab dem 3. Mai 2002, 3:15 Uhr (vgl. S. 15 f. = GA Bd. I Bl. 23 f.) sieht, sowie die Empfehlung der Schlichtungsstelle vom 22. Juni 2006, die abweichend vom Gutachten von einer fehlerfreien Behandlung ausgeht (vgl. GA Bd. I Bl. 62 ff, 64 f.).
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Die Kammer hat weiter die Akten der Todesermittlungssache N. B., Az. 391 Ujs 6963/03 StA Dessau-Roßlau ( künftig: BeiA I ), beigezogen – sie betrifft den Tod eines Patienten am 7. März 2003 unter ungeklärten Umständen. Hieraus kommt es insbesondere auf den Prüfungsbericht des Staatshochbauamtes D. vom 9. Oktober 2003 (BeiA I Bl. 80 f.) zu den baurechtlichen Anforderungen an die Brüstungshöhe der Fenster im selben Neubau, auf das Gutachten des Prof. Dr. W., B., Fachbereich Architektur, vom 13. Mai 2004 (BeiA I Bl. 117) zur fehlenden baurechtlichen Anforderung einer Verschließbarkeit dieser Fenster sowie auf das neurochirurgische Gutachten des Prof. Dr. med. F., Chefarzt der Klinik für Neurochirurgie des Universitätsklinikums M. (vgl BeiA I Bl. 130 ff.) an, wonach eine Verriegelung von Fenstern in chirurgischen Stationen allenfalls in intensiv-medizinischen Stationen üblich sei.
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Ebenfalls beigezogen und z.T. im Wege des Urkundsbeweises verwertet hat die Kammer die Akten des Ermittlungsverfahrens gegen den Mitpatienten H. und den Arzt vom Dienst J. wegen fahrlässiger Körperverletzung, Az.: 391 Js 16758/02 StA Dessau-Roßlau ( künftig BeiA II ). Hieraus hat der Senat insbesondere verwertet die Beschuldigtenvernehmung des R. H. vom 16. Mai 2002 (BeiA II Bl. 7 f.), der einen unruhigen Kläger in der Unfallnacht schildert , die Zeugenvernehmung der Krankenschwester N. Sch. vom 22. Mai 2002 (BeiA II Bl. 12, 14) unter Einbeziehung einer schriftlichen Schilderung vom 7. Mai 2002 (BeiA II Bl. 13); die Bildmappe vom Patientenzimmer (BeiA II Bl. 26 bis 29); die Zeugenvernehmung des hiesigen Klägers (BeiA II Bl. 66 bis 68), der keinerlei eigene Erinnerungen an das Geschehen hatte , und das Gutachten der Apothekenkammer Sachsen-Anhalt vom 18. Dezember 2003 (BeiA II Bl. 153 bis 160) über die Wirkung der beiden Medikamente, ihre Einsatzgebiete und relativen Gegenanzeigen mit dem Fazit, dass eine Wirkverstärkung zwar nicht abschätzbar ist, aber jedenfalls bislang in der medizinischen Literatur auffällige Effekte nicht belegt seien, was darauf schließen lasse, dass solche Effekte nicht in nennenswertem Umfange einträten.
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Das Landgericht hat Dr. med. U. Fr., Chefärztin der Erwachsenenpsychiatrie des Fachklinikums Be., als Sachverständige einbezogen; diese hat unter dem 20. Oktober 2008 ein schriftliches Gutachten erstattet (vgl. GA Bd. I Bl. 108 bis 136, künftig: gerGA ), dieses kurz schriftlich ergänzt (vgl. GA Bd. I Bl. 151 f.; künftig: EGA ) und sodann im Termin der mündlichen Verhandlung vom 10. Februar 2009 erläutert (vgl. GA Bd. II Bl. 16 bis 19, künftig: ErlGA ).
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Im Ergebnis seiner Beweisaufnahme hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Es sieht die Vorwürfe fehlerhafter medikativer Behandlung als widerlegt an. Der Nachweis einer unzureichenden postoperativen Überwachung sei nicht gelungen, weil nicht festgestellt werden könne, dass vor dem Unfall die Herausbildung eines vollständigen Deliriums beim Kläger erkennbar gewesen sei. Das Vorbringen des Klägers zur Verletzung der Verkehrssicherungspflicht sei schon nicht schlüssig, weil sich allein aus dem behaupteten Umstand einer zu niedrigen Brüstungshöhe des Fensters nicht ergäbe, inwieweit eine um 9,5 cm höhere Brüstung einen Sprung des Klägers aus dem Fenster verhindert hätte.
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Der Kläger hat gegen das ihm am 12. März 2009 zugestellte Urteil mit einem am 7. April 2009 beim Oberlandesgericht vorab per Fax eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und zugleich begründet.
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Er rügt, dass die Entscheidung auf unzutreffenden tatsächlichen Feststellungen beruhe. Es seien in der Nacht vom 2. zum 3. Mai 2002 engmaschigere Kontrollen des Zustandes und Befindens des Klägers notwendig geworden, die der diensthabende Arzt fehlerhaft nicht angeordnet habe. Auch ein Verschließen der Fenster hätte angeordnet werden müssen. Insoweit habe das Landgericht versäumt, zur Aufklärung der Widersprüche zwischen dem Inhalt des Schlichtungsgutachtens und demjenigen des gerichtlichen Gutachtens ein Obergutachten einzuholen. Auch die gerichtliche Sachverständige habe schließlich eingeräumt, dass für die Diagnose eines Vollbildes des Delirs ein subjektiver Ermessens- ( meint: Beurteilungs- ) Spielraum besteht, den hier zwei Sachverständige verschieden ausgefüllt hätten.
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Schließlich meint der Kläger, dass sich aus dem gerichtlichen Gutachten bereits eine unzureichende Dosierung der eingesetzten Medikamente ergäbe.
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Der Kläger beantragt,
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unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils die Beklagte zu verurteilen, an ihn zu zahlen
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1. ein angemessenes Schmerzensgeld (mindestens in Höhe von 75.000,00 €),
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2. weitere 331,90 € sowie
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3. weitere 2.165,80 €,
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jeweils nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit, sowie
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4. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger alle weiteren Schäden zu ersetzen, die diesem aus der fehlerhaften Behandlung im Städtischen Klinikum D. entstehen, soweit diese Ansprüche nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
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Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil und verweist darauf, dass die gerichtliche Sachverständige in der Frage der ex ante-Vorhersehbarkeit des Delirs eindeutig eine andere Auffassung, als der Sachverständige im Schlichtungsgutachten, vertreten habe und lediglich eine vorsichtige Formulierung hierfür gewählt habe.
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Der Streithelfer der Beklagten hat schriftsätzlich den Antrag angekündigt,
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die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
33
An der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren hat er nicht teilgenommen.
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Der Senat hat am 19. November 2009 mündlich zur Sache verhandelt; wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt des Sitzungsprotokolls des Senats von diesem Tage Bezug genommen (vgl. GA Bd. II Bl. 98).
II.
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Die Berufung des Klägers ist zulässig; insbesondere wurde sie form- und fristgemäß eingelegt und begründet. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.
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Das Landgericht hat zu Recht darauf erkannt, dass der Kläger gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Schadenersatz einschließlich Schmerzensgeld inne hat, und zwar weder auf vertraglicher noch auf deliktischer Anspruchsgrundlage. Er hat eine Pflichtverletzung des Personals der Beklagten nicht bewiesen.
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1. Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass sich die Brüstungshöhe des Fensters für das tragische Geschehen am 3. Mai 2002 nicht ursächlich ausgewirkt hat, so dass der Frage einer etwaigen Verletzung von Verkehrssicherungspflichten nicht weiter nachzugehen war. Diese tatsächliche Feststellung der Kammer greift der Kläger mit seiner Berufung auch nicht an.
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2. Der Kläger kann nicht beweisen, dass die Diagnose des Personals der Beklagten in der Unfallnacht fehlerhaft war, insbesondere, dass die Intensität der Entzugssymptomatik zum Unfallzeitpunkt verkannt worden sei.
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Ein Behandlungsfehler in der Gestalt eines Diagnosefehlers liegt nach der Rechtsprechung vor, wenn sich die Interpretation von vorhandenen Befunden als völlig unvertretbare Fehlleistung darstellt oder wenn sie entweder auf der Unterlassung elementarer Befunderhebungen beruht oder die Überprüfung einer ersten Verdachtsdiagnose im weiteren Behandlungsverlauf fehlerhaft versäumt wurde. Das bedeutet insbesondere für die erste Alternative, dass die objektive Fehlerhaftigkeit einer Diagnose allein noch nicht vorwerfbar ist, sondern nur die unvertretbare Fehlinterpretation, wobei es für die Frage der Vertretbarkeit maßgeblich auf die Sicht des Arztes z.Zt. der Diagnosestellung, die sog. ex ante-Sicht, ankommt. Diese Maßstäbe für die Feststellung einer Pflichtverletzung führen dazu, dass zunächst die objektive Befundlage z. Zt. der Diagnosestellung zu rekonstruieren ist.
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Danach hat der Kläger hier schon nicht beweisen können, dass bei ihm in der Nacht zum 3. Mai 2002 objektiv ein vollständiges Delirium vorgelegen hat, und insbesondere, dass es bei selbst objektiver Betrachtung Anhaltspunkte gegeben hat, die eindeutig auf eine konkrete Eigengefährdung durch einen Sprung aus dem Fenster hingewiesen hätten (dazu unter 2.1.).
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Selbst wenn davon auszugehen wäre, dass aus rückschauender (sog. ex post-) Betrachtung klare Anzeichen für ein vollständiges Delirium gesehen werden würden, so wären die vor dem Unfall aufgetretenen Symptome jedenfalls nicht so eindeutig, dass hieraus auf eine bevorstehende Eigengefährdung des Klägers zu schließen gewesen wäre (dazu unter 2.2.).
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2.1. Beide Sachverständige – gemeint sind damit der Sachverständige im Schlichtungsverfahren und die gerichtliche Sachverständige – gehen übereinstimmend davon aus, dass der Kläger bei seiner Verlegung von der intensivmedizinischen in die offene chirurgische Station am 29. April 2002 zwar eine klare Entzugssymptomatik, aber noch nicht in der Schwere eines vollständigen Delirs, aufwies. Diese Entzugssymptomatik, die sich in innerer Unruhe, Bettflüchtigkeit und Schlaflosigkeit ausgedrückt habe, sei zutreffend erkannt und in ihrem – noch relativ geringen – Gefahrenpotenzial zutreffend eingeschätzt worden (vgl. SGA S. 14 = GA Bd. I Bl. 14; gerGA S. 21 = GA Bd. I Bl. 128 sowie ErlGA S. 1 f. = GA Bd. II Bl. 16 f.). Diese nachvollziehbare Bewertung greift auch der Kläger nicht an.
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Erst für das Geschehen am 3. Mai 2002 ab 3:15 Uhr unterscheiden sich die sachverständigen Bewertungen. Eine Rekonstruktion der Behandlungssituation ist nur eingeschränkt möglich. Der Kläger selbst verfügt nach seinen eigenen Angaben über keine Erinnerung an die konkrete Situation. Die Sachinformationen ergeben sich aus dem Inhalt der Akte des Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft (BeiA II), von dem beide Prozessparteien als unstreitig ausgegangen sind und den auch beide Sachverständige jeweils zur tatsächlichen Grundlage ihrer Ausführungen gemacht haben.
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Der Sachverständige im Schlichtungsverfahren folgert allein aus der belegten Äußerung des Klägers gegen 3:15 Uhr beim erneuten Zu-Bett-Gehen „Ich gehe jetzt tauchen !“ auf eine Verkennung der realen Situation durch den Kläger und schließt hieraus wiederum unter weiterer Berücksichtigung des Folgegeschehens, dass zu diesem Zeitpunkt ein vollständiges Delirium vorgelegen habe müsse. Mit der Anfangsdiagnose Prädelir sei dieses Geschehen nicht mehr vereinbar gewesen (vgl. SGA S. 15 = GA Bd. I Bl. 23).
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Dem gegenüber führt die gerichtliche Sachverständige wesentlich substantiierter aus, dass nach den Untersuchungen der vorangegangenen Tage vor dem Unfall nahezu ausschließlich Unruhezustände festgestellt worden seien; jedoch trotz des Problembewusstseins der Ärzte und Pflegekräfte im Hinblick auf die Gefahr einer Entwicklung zum Volldelir nie vegetative Ausfälle. Insbesondere sei zu keiner Zeit ein Zittern beim Kläger festgestellt worden. Dies sei auch für die Nacht vom 2. zum 3. Mai 2002 nicht dokumentiert oder sonst erkennbar. Der Senat geht daher davon aus, dass vegetative Ausfälle zu keiner Zeit vorlagen. Diesem Umstand misst die Sachverständige nachvollziehbar große indizielle Bedeutung bei, weil sie selbst in ihrer langen Erfahrung mit deliranten Patienten noch nie ein Volldelir gesehen habe, welches nicht von einem Zittern begleitet gewesen sei (gerGA S. 16, 21; ErlGA S. 2). Sie verweist weiter darauf, dass auch die Blutdruckwerte bei allen Messungen nicht etwa massiv erhöht gewesen seien und auch sonstige Befunde untypisch für ein vollständiges Delir gewesen seien (gerGA S. 21, ErlGA S. 2). Schließlich seien auch die vorübergehenden Halluzinationen des Klägers, die für die Nacht des 2. Mai 2002 belegt seien, ohne Weiteres wieder abgeklungen und hätten sich tagsüber nicht wiederholt (ErlGA S. 2). Dem folgt der Senat.
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Anders, als der Gutachter im Schlichtungsverfahren, bewertet sie die Bettflüchtigkeit des Klägers in der Nacht vom 3. Mai 2002 zwischen 0:00 Uhr und 3:00 Uhr wegen Schlaflosigkeit und des Bedürfnisses zu rauchen als unspezifische Erscheinungen. Sie ließen sich zwar auch auf den Alkoholentzug zurückführen, aber alternativ auch auf die Aufregung vor einer möglichen weiteren Operation. Dies gelte insbesondere unter Berücksichtigung des weiteren Umstandes, dass der Kläger sich nach seinen Ausflügen aus der Station zum Rauchen offensichtlich stets problemlos zurückgefunden und mithin noch hinreichend räumlich und situativ orientiert gewesen sei (so auch Schlichtungsstelle, GA Bd. I Bl. 65). Diese Symptome seien durch die Anfangsdiagnose Prädelir noch hinreichend erklärbar.
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Bei einer Gesamtbetrachtung – und dieser Wertung schließt sich der Senat bei kritischer Würdigung der Aktenlage und der vorhandenen Gutachten an – kann allein aus der Äußerung des Klägers über das beabsichtigte Tauchen-Gehen nicht auf ein Volldelir geschlossen werden. Es verbleiben Zweifel, ob die Äußerung ggf. nicht auch ironisch oder sonst bewusst gebrochen gemeint gewesen sein könnte.
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Weitere Erkenntnismöglichkeiten zur Rekonstruktion der objektiven Behandlungssituation stehen jedoch den Prozessparteien und dem Gericht nicht zur Verfügung.
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2.2. Selbst wenn man davon ausginge, dass die nachfolgende unmotivierte Verhaltensweise des Klägers – der Sprung aus dem Fenster – und seine anschließende partielle Erinnerungslosigkeit auf die Ausprägung eines Volldelirs hinweisen, so bleibt es jedenfalls dabei, dass für die Beurteilung der Erkennbarkeit der Eigengefährdung durch das ärztliche und pflegerische Personal der Beklagten zum Zeitpunkt unmittelbar vor dem Sprung (ex ante) diese Kenntnisse gerade nicht zur Verfügung standen und die voraufgeführten Erkenntnisse nicht so eindeutig waren, dass jede andere Bewertung – hier also gerichtet auf eine Stagnation der Entzugssymptomatik im Stadium des Prädelir ohne Eigen- oder Fremdgefährdung. Hierfür spricht auch, dass weder aus eigen- noch aus fremdanamnestischen Angaben noch aus den Beobachtungen während des stationären Aufenthaltes des Klägers im Krankenhaus der Beklagten Anhaltspunkte für eine suizidale Haltung des Klägers erkennbar waren. Dieser Bewertung steht auch nicht entgegen, entgegen den Ausführungen des Klägers im Termin der mündlichen Verhandlung vor dem Senat, dass der Kläger etwa zwanzig Minuten vor seinem Sprung, gegen 3:15 Uhr, am Schrank des Mitpatienten etwas gesucht hat. Diese Verhaltensweise hat u.U. nichts mit einer geistigen Verwirrung oder Verkennung der Situation zu tun, sondern nicht ausschließbar eventuell auch etwa mit einer Verwechslung des Schrankes oder einer – infolge der Nikotin-Entzugssymptomatik – herabgesetzten Hemmschwelle zur Suche nach Zigaretten in einem fremden Schrank. Ein eindeutiger Schluss auf die Herausbildung eines Volldelirs ist für den Senat – insbesondere mit Blick auf das Fehlen von vegetativen Symptomen – nicht möglich.
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2.3. Insoweit ist darauf zu verweisen, dass der Nachweis eines ärztlichen oder pflegerischen Behandlungsfehlers vom Patienten zu führen ist und dem Beweismaß des § 286 Abs. 1 ZPO unterliegt, d.h. hier, dass der Senat sowohl vom Vorhandensein des Volldelirs gegen 3:15 Uhr (z.Zt. der letzten Beobachtung des Klägers durch Personal der Beklagten vor dem Unfall) als auch von dessen eindeutiger Erkennbarkeit für dieses Personal zu dieser Zeit überzeugt sein muss. Diese Gewissheit, die Zweifeln Einhalt gebietet, ohne sie vollständig auszuschließen (vgl. Greger in: Zöller, Komm. z. ZPO, 28. Aufl. 2010, § 286 Rn. 19 m.w.N.), besteht nach dem Vorausgeführten beim Senat nicht.
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Entgegen der Auffassung des Klägers erachtet der Senat es auch nicht für geboten, ein weiteres, ggf. gar ein Obergutachten zu diesen Fragen einzuholen. Die Voraussetzung für eine Anordnung der Einholung eines neuen Gutachtens nach § 412 Abs. 1 ZPO, dass das bisherige gerichtliche Gutachten ungenügend sei, liegt schon nicht vor. Die gerichtliche Sachverständige hat sich mit allen vorhandenen und erreichbaren Informationen über die Behandlungssituation vom 3. Mai 2002 ausführlich auseinander gesetzt. Sie hat insbesondere auch Stellung genommen zu den Ausführungen des Sachverständigen im Schlichtungsverfahren. Die Abweichung zum Gutachten dieses Sachverständigen besteht vor allem in der rückschauenden Interpretation der Situation, d.h. sie ist für die zuletzt gestellte Frage der Erkennbarkeit der konkreten Eigengefährdung des Klägers für das Personal der Beklagten unerheblich. Selbst wenn man dies anders beurteilte, so wäre der Verzicht auf die Einholung eines neuen Gutachtens jedenfalls von dem durch § 412 Abs. 1 ZPO eingeräumten Ermessensspielraum gedeckt, weil die vorliegenden Informationen über den Zustand des Klägers am 3. Mai 2002 zwischen 3:00 Uhr und 3:35 Uhr letztlich immer Bewertungsspielräume eröffnen, die für jeden Sachverständigen eine Schwierigkeit im Hinblick auf eine Festlegung eröffnen.
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3. Fehlt es, wie vorausgeführt, an einer Vorhersehbarkeit des Volldelirs und der konkreten Gefahr der Eigenschädigung durch einen Sprung aus dem Fenster, so waren weder weitere medikative noch kustodiale, d.h. auf Verwahrung und Sicherung des Patienten gerichtete Maßnahmen geboten.
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3.1. Die Ausführungen des Sachverständigen im Schlichtungsverfahren über die Gabe hochpotenterer Neuroleptika als Prothazin ® sowie über die Anordnung einer kontinuierlicheren Überwachung des Klägers in der Nacht des 3. Mai 2002 beruhen alle auf der Annahme der Erkennbarkeit des Volldelirs für die Ärzte bzw. Pflegekräfte der Beklagten (SGA S. 15 = GA Bd. I Bl. 23), die sich im Ergebnis der gerichtlichen Beweisaufnahme nicht bestätigt hat. Gleiches gilt für die Erwägungen der gerichtlichen Sachverständigen zu einer u.U. abweichenden Medikation (ErlGA S. 1).
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Im Übrigen haben beide Sachverständige hinsichtlich der Medikation bis zum 3. Mai 2002 übereinstimmend ausgeführt, dass sowohl die Kombination beider Medikamente als auch deren jeweilige Dosierung aus ex ante-Sicht dem fachärztlichen Standard entsprach (SGA S. 10, 14 und gerGA S. 26, ErlGA S. 1).
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3.2. Das medizinische Personal der Beklagten hat es auch nicht etwa pflichtwidrig unterlassen, zusätzliche sog. kustodiale Maßnahmen, d.h. Maßnahmen zur Verwahrung und Sicherung des Klägers, zu ergreifen. Eine vorsorgliche Fixierung ohne konkreten Hinweis auf eine bevorstehende Gefahr der Eigen- oder Fremdschädigung ist nicht zulässig. Gleiches gilt für eine lückenlose „Rund-um-die-Uhr“-Überwachung, die zudem der Beklagten auch nicht zumutbar wäre.
III.
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Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf §§ 97 Abs. 1, 101 Abs. 1 Alt. 1 ZPO.
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Die weiteren Nebenentscheidungen ergeben sich aus § 26 Nr. 8 EGZPO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 S. 1 sowie 543, 544 Abs. 1 S. 1 ZPO.
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Die Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO war nicht zuzulassen, da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert.
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Beschluss
60
Der Kostenwert des Berufungsverfahrens wird auf 79.165,80 € festgesetzt.