OLG Celle, Beschluss vom 07.02.2011 – 322 SsBs 354/10
Liegt zwischen zwei Verkehrsverstößen ein äußerst enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang (hier: maximal 120 Sekunden und ca. 3 km), so liegt eine einheitliche Tat im Sinne des § 264 StPO vor (Rn. 19), wenn beide Verkehrsverstöße auch in subjektiver Hinsicht miteinander verbunden sind (Rn. 19).
Der Annahme des Vorliegens einer einheitlichen Tat i. S. des § 264 StPO steht der Umstand, dass der Betroffene bei Begehung des zweiten Verkehrsverstoßes vor einer neuen Verkehrslage steht, nicht entgegen. Diesem Umstand kommt angesichts des äußerst engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhanges und des verbindenden subjektiven Elementes keine durchgreifende Bedeutung zu (Rn. 20).
Tenor
1. Das Urteil des Amtsgerichts vom 15. Juni 2010 wird aufgehoben.
2. Das Verfahren wird eingestellt.
3. Die Kosten des Verfahrens sowie die dem Betroffenen entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Landeskasse.
Gründe
I.
1
Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen vorsätzlichen Missachtens des Rotlichts einer Lichtzeichenanlage zu einer Geldbuße von 280 € verurteilt und gegen ihn ein Fahrverbot von einem Monat verhängt. Das Amtsgericht hat folgenden Sachverhalt festgestellt:
2
„Der Betroffene befuhr am 08.11.2009 gegen 18:45 Uhr mit dem Pkw der Marke BMW mit dem amtlichen Kennzeichen die N. Straße in H. in östlicher Richtung, Fahrtrichtung C..
3
Vor der innerhalb der geschlossener Ortschaft gelegenen Kreuzung mit der von Süden kommenden Straße B. und der von Norden kommenden Straße I. D. ordnete sich der Betroffene mit seinem Pkw auf der N. Straße auf dem dortigen Linksabbiegerstreifen ein und hielt dort vor der Haltelinie an der Rotlicht zeigenden, deutlich sichtbaren Lichtsignalanlage. Die Ampelphasen der dortigen Lichtsignalanlage gelten einheitlich für den Linksabbiegerstreifen und die Geradeausspur. Ein separates Lichtsignal für den Linksabbiegerstreifen gibt es dort nicht.
4
Nachdem die Lichtsignalanlage für den von dem Betroffenen befahrenen Linksabbiegerstreifen und die Geradeausspur für einen Zeitraum von mindestens fünf Sekunden Rotlicht angezeigt hatte, überfuhr der Betroffene um 18:46 Uhr mit seinem Pkw bei Rotlicht die Haltelinie, überquerte die Kreuzung und fuhr auf der Bundesstraße 214 geradeaus in Fahrtrichtung C.. Dem Betroffenen war dabei bewusst, dass die Lichtsignalanlage Rotlicht anzeigte.
5
In einer Entfernung von etwa 2,9 km hinter der Lichtsignalanlage ist außerhalb geschlossener Ortschaft für jedermann deutlich sichtbar in Fahrtrichtung des Betroffenen ein Verkehrsschild mit dem Vorschriftszeichen 276 der StVO aufgestellt, durch das ein Überholverbot für Kraftfahrzeuge aller Art angeordnet wird.
6
Nachdem der Betroffene dieses Verkehrsschild passiert hatte, überholte er um 18:48 Uhr mindestens ein vor ihm fahrendes Fahrzeug.
7
Der Landkreis C. führte daraufhin wegen des Vorfalls von 18:48 Uhr als zuständige Bußgeldbehörde unter dem Aktenzeichen 50.9.58461 ein Bußgeldverfahren gegen den Betroffenen durch und erließ am 28.12.2009 einen Bußgeldbescheid gegen den Betroffenen wegen des Vorwurfs des fahrlässigen Überholens bei unklarer Verkehrslage unter Missachtung des Überholverbotszeichens 276 gemäß §§ 5 Abs. 3, 49 Abs. 1 Nr. 5 StVO, § 24 StVG, Nr. 19.1 BKat. Der unter dem Aktenzeichen 50.9.58461 erlassene Bußgeldbescheid wurde am 29.12.2009 rechtskräftig.“
8
Gegen dieses Urteil wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde, mit der er die Verletzung materiellen Rechtes rügt. Er erstrebt die Einstellung des Verfahrens wegen des Vorliegens eines Verfahrenshindernisses.
9
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und das Verfahren gemäß § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 206 a Abs. 1 StPO einzustellen.
II.
10
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
11
Das vorliegende Verfahren war – unter klarstellender Aufhebung des angefochtenen Urteils – durch Beschluss gemäß § 79 Abs. 3 OWiG i. V. m. §§ 354 Abs. 1, 206 a StPO einzustellen, weil die auch in der Rechtsbeschwerdeinstanz von Amts wegen vorzunehmende Prüfung der Verfahrensvoraussetzungen ergeben hat, dass der Verfolgung der dem Betroffenen in diesem Verfahren zur Last gelegten Tat ein Verfahrenshindernis entgegen steht.
12
1. Der Bußgeldbescheid des Landkreises C. vom 28.12.2009 entfaltet nach dem ne-bis-in-idem – Grundsatz aus Art. 103 Abs. 3 GG eine Sperrwirkung, welche die Verfolgung des dem Betroffenen in diesem Verfahren zur Last gelegten Tatvorwurfes ausschließt. Die den Gegenstand des vorliegenden Bußgeldverfahrens bildende Tat ist im verfahrensrechtlichen Sinn identisch mit der Tat, die dem Betroffenen mit dem Bußgeldbescheid des Landkreises C. vom 28.12.2009 wegen fahrlässigen Überholens bei unklarer Verkehrslage unter Missachtung des Überholverbotszeichens 276 zur Last gelegt worden ist und wegen der gegen den Betroffenen eine Geldbuße von 150 € – rechtskräftig – festgesetzt worden ist.
13
Die dem Betroffenen in dem Bußgeldbescheid vom 28.12.2009 und in dem dem angefochtenen Urteil zugrunde liegenden Bußgeldbescheid vom selben Tage vorgeworfenen und – unzulässigerweise – in zwei gesondert gesonderten Bußgeldverfahren verfolgten Verkehrsverstöße stellen verfahrensrechtlich eine Tat i. S. des § 264 StPO dar.
14
a) Der Begriff der Tat im gerichtlichen Verfahren in Bußgeldsachen deckt sich mit dem für das Strafverfahren maßgeblichen Tatbegriff des Art. 103 Abs. 3 GG (vgl. BayObLGSt 1974, 58 f.; 2001, 134 f. -juris). Er bezeichnet ein konkretes Geschehen, das einen einheitlichen geschichtlichen Vorgang bildet und Merkmale enthält, die es von denkbaren anderen ähnlichen oder gleichartigen Vorkommnissen unterscheidet und umfasst das gesamte Verhalten des Täters, soweit dieses nach der natürlichen Auffassung des Lebens eine Einheit bildet (vgl. BayObLGSt 2001, 134 f; OLG Hamm, Beschluss vom 09.06.2009 – 5 Ss OWi 297/09 -; Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 264 Rdnr. 2, 2 a). Mehrere Handlungen, die in materiell-rechtlicher Hinsicht zueinander in Tateinheit gemäß § 19 OWiG stehen, bilden auch prozessual eine Tat i. S. des § 264 StPO. Allerdings können auch mehrere, materiell-rechtlich tatmehrheitlich begangene Handlungen als eine Tat i. S. des § 264 StPO anzusehen sein, wenn die einzelnen Handlungen nach dem Ereignisablauf zeitlich, räumlich und innerlich so miteinander verknüpft sind, dass sich ihre getrennte Würdigung und Ahndung als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorganges darstellen würde (vgl. OLG Hamm a. a. O.; BayObLGSt 2001, 134 f.; BVerfGE 45, 434 f.; BGHSt 23, 141 f.; Meyer-oßner a. a. O. § 264 Rdnr. 3; Göhler, OWiG, 15. Aufl., vor § 59 Rdnr. 50, 50 a, 50 b; OLG Düsseldorf, VRS 67, 129, 130; OLG Hamburg VRS 27, 144 ff.).
15
b)Nach herrschender Auffassung in Literatur und Rechtsprechung handelt es sich bei mehreren im Verlaufe einer Fahrt begangenen Verkehrsverstößen eines Kraftfahrzeugführers im Regelfall um mehrere Taten im materiellen und prozessualen Sinne (vgl. OLG Hamm VRS 111, 366 f.; OLG Brandenburg NZV 2006, 109; BayObLG NZV 1995, 407; OLG Köln NZV 1994, 292; OLG Düsseldorf NZV 2001, 273; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 24 StVG Rdnr. 58, 59 a; Göhler a. a. O., vor § 19 Rdnr. 10; OLG Hamm a. a. O.). Eine einzige Tat im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit und damit auch im prozessualen Sinne nach § 264 StPO kann ausnahmsweise dann vorliegen, wenn die einzelnen – auch unterschiedlichen – Verkehrsverstöße einen derart unmittelbaren zeitlich-räumlichen und inneren Zusammenhang aufweisen, dass sich der Lebensvorgang als solcher bei natürlicher Betrachtung auch für einen unbeteiligten Dritten als einheitliches zusammengehöriges Tun darstellt (vgl. OLG Hamm a. a. O.; OLG Brandenburg a. a. O.; OLG Düsseldorf a. a. O. und OLG Köln a. a. O.).
17
c) Ein wichtiges Kriterium für die Verneinung oder Bejahung eines einheitlichen Tatgeschehens ist der zeitliche Abstand zwischen den einzelnen Handlungen (vgl. Göhler a. a. O. vor § 59 Rdnr. 50 b) als auch die Frage, ob beide Verkehrsverstöße in subjektiver Hinsicht auf der gleichen Willensbildung des Betroffenen beruhen. Entscheidend für die Beurteilung, ob eine einheitliche Tat vorliegt, sind jedoch jeweils die Umstände des Einzelfalles.
18
In Ansehung der vorgenannten Kriterien bilden die beiden dem Betroffenen zur Last gelegten Verkehrsverstöße eine einzige Tat im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit.
19
Den Feststellungen ist zu entnehmen, dass der Betroffene die Rotlicht zeigende Lichtsignalanlage um 18:46 Uhr passierte sowie um 18:48 Uhr das vor ihm fahrende Fahrzeug verbotswidrig überholte. Da die Tatzeiten nur nach Minuten und nicht – zusätzlich – nach Sekunden festgestellt worden sind, beträgt der Zeitraum zwischen beiden Verkehrsverstößen maximal 120 Sekunden und minimal 62 Sekunden, wobei zugunsten des Betroffenen von Letzterem auszugehen ist. Es besteht somit zwischen den Verkehrsverstößen ein äußerst enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang. Darüber hinaus sind beide Verkehrsverstöße auch in subjektiver Hinsicht miteinander verbunden, denn beide begangenen Verstöße beruhen ersichtlich auf dem Willen des Betroffenen, die vor ihm liegende Fahrtstrecke möglichst schnell zu durchfahren.
20
d) Der Annahme des Vorliegens einer einheitlichen Tat i. S. des § 264 StPO steht der Umstand, dass der Betroffene zwei unterschiedliche Verkehrsverstöße beging, indem er zunächst das Rotlicht und danach das Überholverbot missachtete, hier nicht entgegen. Zwar stand der Betroffene nach der Missachtung des Rotlichtes bei Erreichen des Überholverbotsschildes vor einer neuen Verkehrslage. Diesem Umstand kommt jedoch angesichts des äußerst engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhanges und des verbindenden subjektiven Elementes keine durchgreifende Bedeutung zu.
21
2. Das angefochtene Urteil war aufgrund des im vorliegenden Verfahren bestehenden Verfahrenshindernisses zur Klarstellung aufzuheben und das Verfahren gemäß § 79 Abs. 3 OWiG i. V. m. §§ 354 Abs. 1, 206 a Abs. 1 StPO einzustellen.
III.
22
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 467 Abs. 1, 46 Abs. 1 OWiG. Der Senat hat keine Veranlassung gesehen, nach § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO davon abzusehen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Landeskasse aufzuerlegen. Es wäre Aufgabe der Bußgeldbehörde gewesen, sicherzustellen, dass beide Verkehrsverstöße in einem einheitlichen Bußgeldverfahren verfolgt und geahndet werden.